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Rivalität, Krankheit, dumpfe Triebe

Zwei Schwestern, die nichts mehr verbindet. Ein Krieg, der einfach nur da ist. "Das Schweigen" zeigt, in souveräner Schönheit gefilmt, eine Hölle auf Erden. Am 23. September 1963 war das Meisterwerk zum ersten Mal zu sehen.

Von Katja Nicodemus | 23.09.2013
    "Das Moment des Abschreckenden, Abstoßenden, des Schauderns vor tierischer Triebhaftigkeit scheint der Ausschuss als so beherrschend angesehen zu haben, dass seine etwaige spekulative Laszivität oder Schmuddeligkeit dabei überdeckt wird."

    Kaum zu glauben, aber diese Worte fielen im Deutschen Bundestag! In einer Stellungnahme des CSU-Innenministers Hermann Höcherl während einer Fragestunde zu Ingmar Bergmans Film "Das Schweigen" - von der Filmbewertungsstelle hatte das eben in der Bundesrepublik angelaufene Werk das Prädikat "Besonders wertvoll" bekommen. Nicht nur die Abgeordneten, auch die Medien und elf Millionen deutsche Kinozuschauer debattierten damals über Bergmans Parabel. Was war der Stein des Anstoßes?

    "Das Schweigen" handelt von zwei Schwestern und einem kleinen Jungen, die gezwungen sind, ihre Zugreise zu unterbrechen, weil die Ältere schwer krank ist. In einem Land, dessen Sprache sie nicht verstehen, mieten sie sich in einem Hotel ein. Und während die eine Schwester mit ihrer Krankheit kämpft, sucht die andere erotische Abenteuer. Alle Aufregung um "Das Schweigen" kreiste um drei als provozierend sexuell empfundene Szenen: Die ältere Schwester auf ihrem Bett masturbierend, während nur ihr Gesicht und ihre sich abwärts bewegende Hand zu sehen sind. Die jüngere Schwester im Bett mit einem namenlosen Liebhaber und als Beobachterin eines kopulierenden Paares:

    "Ich war im Kino. Ich habe ganz hinten in einer Loge gesessen. Neben mir haben ein Mann und eine Frau gesessen, die haben sie vor meiner Nase geliebt. Als sie fertig waren, sind sie weg."

    Ingmar Bergman sah diese Szenen als Teil einer filmischen Welt, die von Gewalt, Trieben, Egoismus und Vereinsamung geprägt ist. Für ihn war die Sexualität nicht Provokation, sondern Argument:

    "Ich habe es nicht hingesetzt. Die Szenen haben sich selbst hingesetzt in meine Filme! Ich habe nicht gedacht, also jetzt muss ich aber mit etwas schockieren!"

    Fünfzig Jahre, nachdem "Das Schweigen" am 23. September 1963 in Stockholm uraufgeführt wurde, hat sich die Sicht auf den Film völlig gewandelt. Der Blick ist heute frei für die ästhetische Wucht. Für die bis in die Bildtiefe hinein sorgfältig ausgeleuchteten beklemmenden Schwarz-Weiß-Bilder des Kameramanns Sven Nykvist. Für einen langsamen Schnittrhythmus, der uns in eine seltsam beunruhigende Welt hineinzieht. Panzer fahren durch die Straßen der fremden Stadt. Der Sohn der einen Schwester läuft verloren durch Hotelflure. Bleierne Hitze liegt in der Luft, die Räume wirken beengt, die Stimmung ist gereizt. Die ältere kranke Schwester, gespielt von Ingrid Thulin, betrinkt sich mit Schnaps, die jüngere, dargestellt von Gunnel Lindblom, fühlt sich bei ihren Eskapaden kontrolliert.
    "Was machst du?"
    "Ich arbeite, wie du siehst."
    "Ich finde, dass das entschieden besser ist, als mir ewig nachzuspionieren ... Wenn ich bloß begreifen könnte, weshalb ich vor Dir solche Angst hatte."

    Zwei Schwestern, die nichts mehr verbindet. Ein Krieg, der einfach nur da ist. Rivalität, Krankheit, dumpfe Triebe - "Das Schweigen" zeigt, in souveräner Schönheit gefilmt, eine Hölle auf Erden. Hier sind die Menschen gefangen in einem Hier und Jetzt ohne Zukunft, ohne Hoffnung, ohne Erlösung. Und während die ältere Schwester sich gegen diese Leere auflehnt, wird sie von der Jüngeren verspottet.

    "Weißt du, was die Wahrheit ist? Bei Dir muss immer alles übertrieben bedeutend sein. Ohne ewig Bedeutungsvolles kannst du nicht existieren. Du kannst es einfach nicht aushalten, wenn nicht alles lebenswichtig bedeutungsvoll ist. Wenn nicht alles mit tiefgründiger Absicht geschieht."

    "Das Schweigen" ist nach "Licht im Winter" und "Wie in einem Spiegel" der abschließende Film der "Gottsuche"-Trilogie, in der der Pfarrerssohn Bergman auch von seiner eigenen Verzweiflung angesichts einer gottlosen Welt erzählte. Und es hat eine gewisse Ironie, dass ein Film, der die Sittenwächter auf die Barrikaden brachte, für Bergmans Seelenruhe sorgte.

    "Nach diesen drei Filmen habe ich also ein Gefühl, dass dieses Ding ist für mich pazifiziert. Die Fragen sind jetzt nicht mehr so angstvoll. Ich habe mich ein bisschen beruhigt damit. Es kommt vielleicht wieder, wie Zahnschmerzen."
    "Ist es für Sie eine persönliche Therapie gewesen?"
    "Ist nicht Kunst immer eine gewisse Therapie?"

    Große Kunstwerke stehen über den Moden und Sitten ihrer Zeit. Der angebliche Tabubruch und der Skandal, den "Das Schweigen" noch im Vorfeld der sexuellen Revolution auslöste, sagt – und das wusste auch Ingmar Bergman - alles über die Flüchtigkeit unserer Moralvorstellungen und nichts über den Film selbst.

    "Über ‚Das Schweigen‘ will ich überhaupt nicht diskutieren. Ich finde, in dieser Diskussion ist der Film selbst meine einzige Antwort. Da will ich wirklich schweigen."