Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Robert Seethaler: "Das Feld"
Grübeln in Gräbern

Reihum halten sie Monologe: die Toten auf dem Friedhof einer Kleinstadt. Vom Jenseits haben sie nichts zu berichten - stattdessen halten sie im bewährten Seethaler-Sound Rückschau auf ihr Leben. Ein wenig Wehmut und der Wille zur Weisheit bestimmen den Ton.

Von Wolfgang Schneider | 04.07.2018
    Buchcover: Robert Seethaler: "Das Feld"
    Robert Seethaler erzählt von neunundzwanzig Einzelschicksalen, von ihren irdischen Hoffnungen und Sorgen, Glücksmomenten und Enttäuschungen (Buchcover: Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, Foto: picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    Ruhe sanft? Nicht hier, nicht auf dem Feld, das die Paulstädter vor langer Zeit zu ihrem Friedhof gemacht haben. Grübelnd liegen die Toten in ihren Gräbern. Reihum erzählen sie aus ihrem Leben, ein ganzer Mannschaftsbus voller Schicksale kommt so zusammen.
    Sie berichten von einschneidenden Erlebnissen oder unscheinbaren Momenten, die in ihrem Leben Bedeutung bekommen haben. Manche befassen sich mit den Obsessionen und Zwängen, die ihr Leben bestimmt haben, wie der Automatenspielsüchtige Lennie Martin oder wie Heide Friedland, die ihre siebenundsechzig Liebhaber Revue passieren lässt. Die stolzen Lover als Versammlung von Bedürftigen, Leidenschaft, die sich gegenseitig relativiert:
    "Lennie, Hagen, Wilfried, Werner I, Werner II, Helmut, Tom, Rudolph, Christian I, Christian II, Christian III, der Gärtner, der Doktor, der Kleine, der Kerl mit der Tasche … . Es war erstaunlich: Kaum war einer weg, stand der Nächste schon da. Dabei hatte ich gar nicht viel zu bieten. Ich war nicht einmal besonders hübsch. Aber im Grunde ist den Männern das Aussehen einer Frau egal. Sie wollen sich selbst gut fühlen, das ist alles."
    Monologe der Toten
    Neunundzwanzig Kleinstadtschicksale sind in Robert Seethalers neuem Roman zu lesen. Schicksale wie das von Gerd Ingerland, der sein Studium nach dem Tod des Vaters abbrach, nach Paulstadt zurückkehrte, Versicherungsangestellter wurde und eine Kollegin heiratete, die ihn schließlich mit dem Feind seiner Jugend betrog. Seitdem herrschte ewiger Novembernieselregen in seiner Seele. Schicksale wie das des Wahrheitssuchers Hannes Dixon, der in Personalunion Reporter, Redakteur, Setzer und Herausgeber des Paulstädter Boten war - ein verhinderter Schriftsteller als Lokaljournalist. Und dann gibt es diese Frau, die ihre offenbar bitteren Erfahrungen unter den Paulstädtern in einem einzigen Wort zusammenfasst: "Idioten".
    Es fällt auf, dass Robert Seethaler - anders als George Saunders in seinem international gefeierten Roman "Lincoln im Bardo" - die Toten nicht in Interaktion treten lässt. Sie sprechen lediglich aus den Gräbern, jeder für sich. Das Reich der Toten hält auch keine weiteren Schrecken, Prüfungen und Läuterungen für sie bereit. Genau genommen wird in "Das Feld" auch gar kein Reich der Toten behauptet; die Rahmenhandlung gibt eine realistische Motivierung für die Monologe der Toten. Ein alter Mann geht regelmäßig auf den Paulstädter Friedhof und denkt nach über die Menschen dort in den Gräbern, die er fast alle gekannt hat. Er überlässt sich seinen Erinnerungen und ergänzt das Erinnerte mit Imaginiertem:
    "Er war überzeugt davon, die Toten reden zu hören. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber er nahm ihre Stimmen ebenso deutlich wahr wie das Vogelgezwitscher und das Summen der Insekten um ihn herum. (…) Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden."
    Kein mtaphysisches Spektakel
    Hier wird deutlich, dass die Toten-Monologe Fantasien des alten Mannes sind. Der Roman will also - anders als "Lincoln im Bardo" - kein metaphysisches Spektakel bieten; er kommt ganz ohne Transzendenz aus. Robert Seethaler hat sich mit seinem internationalen Erfolgsroman "Ein ganzes Leben" profiliert als Erzähler, der vom Leben der Menschen mit einer lakonischen Weisheit erzählt, die sich einer gleichsam posthumen Draufsicht auf eine Menschenexistenz verdankt, einer souveränen Distanz, die mit intimster Vertrautheit einhergeht. Um diese essentielle, gleichsam abgeschlossene Perspektive auf das Leben geht es dem Erzähler - die Friedhofs-Rahmenhandlung von "Das Feld" bietet dafür ein Szenario.
    Seethalers Figuren erzählen deshalb auch nicht vom Jenseits oder von den "letzten Dingen", wie der Klappentext behauptet, sondern aus ihrem Leben, von ihren irdischen Hoffnungen und Sorgen, Glücksmomenten und Enttäuschungen. Wie Herm Leydicke, der seit seinem frühen Tod damit hadert, dass er vieles anders gemacht hätte im Leben, wenn er nur gewusst hätte, dass es für ihn so schnell vorbei sein würde. Er richtet seine Rede an seinen Sohn, dem er seine gesammelten Einsichten und Maximen vermitteln möchte, um ihm vielleicht einiges zu ersparen.
    "Mach dir keine Mühe, die richtige Frau zu finden. Es gibt sie nicht. Sobald du glaubst, die richtige Frau gefunden zu haben, wird sie sich als die falsche herausstellen. Immerhin kannst du versuchen, in der falschen so viel Richtiges zu finden, dass es Spaß macht."
    Typischer Seethaler-Sound
    Das ist der Seethaler-Sound, wie ihn die Fans dieses Autors lieben. Schlicht soll die Sprache sein, schlicht und wahrhaftig. Und immer wieder auch ein wenig feierlich. Dafür sorgt zum Beispiel das Imperfekt. Also nicht: "Du hast das Fenster geöffnet." Sondern: "Du öffnetest das Fenster." Dafür sorgen aber vor allem die trockenen Spruchweisheiten und Beinahe-Aphorismen. Die Paulstädter, so scheint es, haben allesamt eine heimliche Neigung zum Sentenzen-Schleifen. Eine individualisierende Sprechweise gesteht ihnen der Autor dagegen nicht zu. Sie tragen ihre Geschichten alle im gleichen Seethaler-Stil vor, als würde sich die archetypische Seethaler-Seele in immer neuen Gestalten emanieren. Bei näherem Hinsehen aber erweisen sich die Figuren dann doch als unterschiedliche, mit ihrem Eigensinn ausgestattete Charaktere. Zum Beispiel Heiner Joseph Landmann, der korrupte, man könnte auch sagen: der sympathisch schlitzohrige Bürgermeister.
    "Noch bis hierher, in die feuchte Tiefe meines Grabes, dringen eure Beschwerden … . Ihr redet von Bestechung. Bestechung, sagt ihr, sei eine böse Sache. Aber wie, frage ich euch, hätte ich denn geben können, ohne je zuvor genommen zu haben? Es lässt sich nur aus vollen Taschen schöpfen."
    Geschichten ergänzen sich
    Manche Schöpfung des Bürgermeisters erwies sich allerdings als problematisch. Einem Bauern hat er den unfruchtbaren billig Acker abgeschwatzt, um darauf ein modernes Freizeitzentrum zu errichten. Womöglich war der Boden für solche Repräsentationsarchitektur zu weich, es gab auch Pfusch am Bau, und eines Tages – eine Katastrophe von der man lange gesprochen hat in Paulstadt – ist das Freizeitzentrum eingestürzt und hat drei Menschen erschlagen, darunter Marta Avenieu, die in ihrer Geschichte von ihrem Lebenstraum erzählt: einem eigenen Schuhgeschäft. Nach ihr ist ihr Ehemann Robert Avenieu an der Reihe, und von dem erfahren wir, dass die Ehe ein großes Missverständnis war, allerdings ein gegenseitiges, insofern hatten das Paar dann doch etwas gemeinsam. So entstehen Geschichten, die sich ergänzen, indirekt kommentieren, manchmal sogar korrigieren.
    Nicht immer ist der Tod das zentrale Ereignis in den Erzählungen. Anders sieht das aus, wenn man als junger Mensch aus dem Leben gerissen wurde, wie Martin Reynart, der zuletzt mit Freunden im Auto unterwegs war.
    "Vor uns schoss etwas über die Straße und es gab einen dumpfen Knall. Ich wurde nach vorne geschleudert, dann zur Seite, etwas Hartes stieß mir gegen die Brust, vielleicht das Lenkrad, vielleicht der Schaltknüppel, was weiß ich, und für einen Moment blieb mir die Luft weg. Danach saß ich wieder gerade. Ich atmete, aber ich hatte höllische Schmerzen, und es hörte sich komisch an, ein hohles, dunkles Blubbern. (…) Der Wagen steckte schräg nach vorn geneigt im Acker."
    "Unser kleine Stadt" post mortem
    Einige der Toten sind noch Jugendliche oder Kinder, andere uralt. So wechseln die Zeiten der Erinnerung. Manche Geschichten sind nah an der Gegenwart angesiedelt, andere reichen bis in den Zweiten Weltkrieg zurück, erzählen von Flucht oder Verfolgung. So entspricht es der gelebten Realität, die für die Menschen unabhängig vom gleichen Kalenderdatum eben nicht dieselbe ist, weil sie ihren existentiellen Schwerpunkt in verschiedenen Epochen haben.
    Der Roman gewinnt an Reiz, wenn man ihn mehrfach liest. Bei der ersten Lektüre stört ein wenig das serielle Nacheinander der Lebensgeschichten; manche bleiben zunächst etwas konturlos. Bei der zweiten Lektüre entfalten sich die Bezüge, steigt der Vergnügen des Wiedererkennens, entwickelt sich Paulstadt zum Mikrokosmos. Und die Schlüsselereignisse im Stadtleben schälen sich deutlicher heraus: etwa die Selbstverbrennung des psychisch kranken, mit seinem göttlichen Auftrag hadernden Pfarrers. Die ganze Kirche ging dabei in Flammen auf.
    Trotz solcher Katastrophen ergibt sich jedoch ein etwas biedermeierliches Gesamtbild des fiktiven Gemeinwesens, in dem schließlich auch der arabischstämmige Gemüsehändler nicht fehlt - ein freundlicher Außenseiter in der Stadt, mit dem der Roman flüchtig die Probleme streift, die Deutschland aktuell umtreiben. Navid al-Bakri ist ein Mann, der mit der Religion seiner Vorfahren wenig anfangen kann und der sich durch den lakonischen, Emphase und Beiläufigkeit verbindenden Stil seiner Lebensbeichte als bestens integriert in Seethalers Welt erweist - einer Welt, in der das eigene Leben zugleich mit Selbstverständlichkeit genommen und als Merkwürdigkeit empfunden wird. In der die Menschen wissen, dass Leiden unvermeidlich ist und man damit meist allein bleibt. Weshalb sie, im besten Fall, eine gewisse stoische Gelassenheit als Schutzhaltung entwickeln.
    Robert Seethaler: "Das Feld"
    Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, München. 240 Seiten, 22 Euro.