Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Roberto Arlt: "Die sieben Irren"
Finster, verzweifelt, grell

Roberto Arlts Klassiker "Die sieben Irren" führt in das Argentinien der 1920er Jahre, als Buenos Aires noch eine flirrende Metropole war. Ein Klassiker der Großstadtliteratur - und ein erschütternder Blick in die Abgründe des Menschen.

Von Dirk Fuhrig | 19.09.2018
    Buchcover: Roberto Arlt: "Die sieben Irren"
    Das Buenos Aires der 1920er Jahre ist die Kulisse für Roberto Arlts Roman "Die sieben Irren" (Buchcover: Wagenbach Verlag, Foto: imago/robertharding)
    Remo Erdosain ist 43 Jahre alt. Er hat bei seiner Firma gerade eine Menge Geld unterschlagen, wurde denunziert und soll die Summe innerhalb eines Tages wiederbeschaffen. Remo ist aber kein gewöhnlicher Gauner. Er hat nicht aus Gier, sondern aus Verzweiflung gehandelt:
    "'Was mache ich aus meinem Leben?' sagte er sich dann und wollte mit dieser Frage vielleicht die Ursprünge der Beklemmung ergründen, die ihn eine Existenz ersehnen ließ, in der Morgen nicht einfach die Fortsetzung von Heute im Gleichmaß der Tage war, sondern etwas ganz anderes und stets Unerwartetes, wie in den nordamerikanischen Filmen, in denen der Bettler von gestern sich schon heute als Chef einer Geheimgesellschaft entpuppt und die abenteuerlustige Stenotypistin als heimliche Multimillionärin."
    Roberto Arlts Roman ist 1929 erschienen; die Wünsche und Sehnsüchte, die er darin beschreibt, sind aber dieselben, die die Traumfabrik Hollywood auch heute noch global verbreitet.
    Auf Augenhöhe mit New York, Paris, London
    Buenos Aires in den 20er Jahren. Während heute wieder eine Krise die andere jagt, zählte Argentinien in jener Epoche noch zu den wirtschaftlich stärksten Ländern der Welt. Die Hauptstadt fühlte sich auf Augenhöhe mit New York, Paris, London. In diesem Großstadtmilieu badet Arlt. Kleine und große Gauner, Prostituierte und Zuhälter, Aufsteiger und Versager, Elende und Emporkömmlinge bevölkern seinen Roman. Die einen träumen vom Wohlstand, vom Kapitalismus; die anderen von sozialer Gerechtigkeit - vom Sieg des Sozialismus.
    "'Verlieren Sie keine Zeit, Erdosain. Eine kleine Fabrik. Sie könnte als Schule für revolutionäre Chemie dienen. (…) Was würden Sie sagen, wenn wir hier eine Fabrik aufbauen würden, die eines Tages für Argentinien sein wird, was Krupp für Deutschland war? (…) Wir sind Entdecker, die nur gemeinsam wissen, wohin der Weg sie führt.' (…) Erdosain blickte eine Sekunde in das rhombenförmige Gesicht des anderen, dann sagte er mit einem spöttischen Lächeln: 'Wissen Sie, dass sie ein bisschen aussehen wie Lenin?'"
    Utopie spielt in dem Buch eine große Rolle. Ebenso Technikgläubigkeit - und Astrologie. Remo Erdosain hat die fixe Idee, durch Galvanisierung "die kupferne Rose" herzustellen, die ihm unendlichen Reichtum bringen soll.
    Hunger, Wollust und Geld treiben die Figuren an
    "Nur der Hunger, die Wollust und das Geld treiben die Männer an."
    Um ewig gültige Sätze wie diesen ranken sich die acht Kapitel des labyrinthischen Romans, in dem der Protagonist Remo Erdosain permanent sein Dasein reflektiert und in Frage stellt:
    "Aber was für ein Mensch, was für ein Mensch bin ich denn?"
    Der Text ist eine grandiose Anhäufung existentieller Weisheiten und Wahrheiten.
    "Fallen … immer tiefer fallen. Und dabei sind andere Menschen glücklich und finden die Liebe. Aber alle leiden, einige wissen es, andere nicht."
    Remo schwankt zwischen Angst und Verzweiflung einerseits und an Nietzsche angelehnten Übermensch-Fantasien andererseits:
    "Wenn jetzt ein Gott käme und mich fragte: Möchtest Du die Macht haben, die Menschheit zu vernichten? Würde ich sie vernichten? Nein, ich würde sie nicht vernichten. Denn die Macht dazu zu haben nähme der Sache ihren Reiz. Außerdem, was sollte ich allein auf der Erde machen?"
    Die Tiefen der menschlichen Seele
    "Die sieben Irren" ist ein philosophischer - ja: ein existentialistischer Roman "avant la lettre". Roberto Arlt deutet die Tiefen der menschlichen Seele aus. "Sieben Irre", das sind Visionen, wie man sich den Niederungen des Daseins entziehen könnte.
    "Der Wahnsinn als Bruch mit dem Möglichen", schreibt Ricardo Piglia, selbst Schriftsteller und Arlt-Bewunderer, im Nachwort zu dem Band:
    "Wahnsinnig zu sein bedeutet für Arlt, eine Grenze zu überschreiten, der Hölle des Alltags zu entfliehen. Besser gesagt: Dem Wahnsinn wohnt die Illusion inne, dem Elend entkommen zu können."
    Die flirrende Großstadt Buenos Aires gibt die Kulisse ab für diese Sinnsucher, Utopisten oder revolutionären Sozialisten. Das macht aus dem Buch ein pralles Gemälde von expressionistischer Kraft.
    "Denn obwohl sie keine Rechnung bezahlen konnten und beinahe Hungers starben, bestand ihr bescheidenster Traum aus einem Rolls-Royce und einer Villa, die in der edlen Avenida Alvear und nirgends sonst stehen musste."
    Roberto Arlt ist kein unumstrittener Autor in Argentinien. Er wird als Wegbereiter für Julio Cortázar, den Großmeister des surrealen Erzählens, gesehen. Aber auch als Gegenspieler des universell gebildeten Jorge Luis Borges. Arlts Sprache gilt als rau, wenig elegant - dem Straßenmilieu und -jargon entnommen. Gerade das macht aber seine stilistische Kraft aus. Carsten Reging hat die von Anfang der 70er-Jahre stammende Erstübersetzung jetzt überarbeitet. Darin ist Arlts Duktus sehr gut spürbar, gerade die existentielle Tiefe in seinen oft kryptischen Satzkaskaden. "Die sieben Irren" ist ein Klassiker der Großstadtliteratur - finster, dreckig, verzweifelt, grell. Keine schnell konsumierbare Lektüre, sondern ein erschütternder Blick in die Abgründe des Menschen.
    Roberto Arlt: "Die sieben Irren"
    Aus dem argentinischen Spanisch von Bruno Keller, neu bearbeitet von Carsten Reging. Mit einem Nachwort von Roberto Puglia
    Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018. 320 Seiten, 22 Euro.