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Roberto Simanowski: "Abfall"
Kritik eines ehemaligen Internet-Enthusiasten

Früher Netzenthusiast, heute -kritiker: Der Germanist Roberto Simanowski erzählt in seinem Buch "Abfall" die Algorithmisierung der Welt als Erbe der Aufklärung. Aber er haut nicht nur drauf, sondern liefert auch Denkanstöße: Zum Beispiel einen philosophisch fundierten Vorschlag für eine Snapchat-Gegen-App.

Von Florian Felix Weyh | 14.07.2017
    Ein Wandbild an einer Hauswand im Stadtteil Lavapiés von Madrid zeigt ein Gesicht und die Aufschrift "Facebook is watching".
    Für die Aufklärung war jeder unvermessene Hügel eine Beleidigung der Vernunft, heute fühlen sich viele persönlich eher zu viel vermessen, schreibt Roberto Simanowski. (picture alliance / dpa / Fabian Stratenschulte)
    Den Suchmaschinen-Pionier Yahoo gibt es nicht mehr. Seit vergangenem Sommer ist er nur noch eine Marke beim US-Telekommunikationsriesen Verizon. Der Niedergang begann allerdings schon vor 15 Jahren, als Google in den Markt drang, schreibt der Literaturwissenschaftler Roberto Simanowski:
    "Die Umstellung von Yahoo auf Google war nicht nur ein Machtwechsel im Marktsegment Onlinesuche. Es war auch nicht nur ein technologischer Paradigmenwechsel. Es war eine politische Revolution, die das Urteil des Einzelnen durch die Macht der Masse ersetzte, Expertokratie durch Numerokratie."
    Denn Google fand einen Algorithmus für quantitative Beliebtheit, während Yahoo lange glaubte, die digitale Flut mittels qualifizierter Redakteure bewältigen zu können.
    Der Leser selbst sei algorithmisch geworden
    Welch sympathische Naivität! Das Ergebnis des Paradigmenwechsels erleben wir heute missvergnügt als Filterblase, Shitstorm oder Resonanzraum der Lüge. Niemand schaut prüfend hin, was da publiziert und verbreitet wird – niemand außer Maschinen! Sogar der Leser an sich ist algorithmisch geworden. Kurz nach Google kam durch Facebook der Like-Button in die Welt, und wer ihn benutzt, agiert seinerseits wie ein mechanischer Schalter. Dem Diskurs kann das nicht guttun, meint Simanowski:
    "Der numerische Populismus ist dem postfaktischen Emotionalismus verwandt: Begründungslose Likes sind die technische Variation der gebetsmühlenhaften Wiederholung haltloser Slogans."
    Noch der größte Unfug wird, von Likes gefüttert, zu einem Faktum, dem man anschließend mit Argumenten nicht mehr beikommt. Denn Likes sind Muskelzuckungen ohne Reflexionsaufwand, Argumente hingegen zeitfressende Denksportaufgaben:
    "Facebook verspielt, Tag für Tag, Klick für Klick, das mentale Tafelsilber einer aufgeklärten Öffentlichkeit: Geduld, Skepsis, Konzentration, Interesse, ein gewisses Ansehen der Experten und die Bereitschaft, Arbeit auf sich zu nehmen, um diese zu verstehen."
    Big Data als Erbe der Aufklärung
    Das klingt, zugegeben, wie der klassisch kulturkonservative Sound greiser Internethasser. Aber Roberto Simanowski, Jahrgang 63, betrachtet das neue Medium seit Anbeginn mit wissenschaftlicher Neugier. In den 90er-Jahren war er fast ein Euphoriker der Digitalliteratur, später ein genauer Beobachter der sozialen Medien.
    Man täte seinem Buch unrecht, reduzierte man es auf – sehr pointierte! – Kulturkritik in der griesgrämigen Tradition der Frankfurter Schule. Um Aufklärung allerdings geht es immer noch ... nur, dass man keinesfalls ihre Erfolglosigkeit beklagen kann:
    "Die Kommunikation der Dinge (...) macht das Leben der Menschen einfacher und zugleich kontrollierbarer, denn sie unterstellt fast jede Handlung der Datensammlung. (...) Der entstandene Big Data Pool ist nicht Symptom des Geheimdienstes, sondern Erbe der Aufklärung, für die jeder unvermessene Hügel eine Beleidigung der Vernunft war."
    Den heutigen Zustand haben wir eben genau so herbeigewünscht; er verkörpert das von der Aufklärung angestrebte Daten-Schlaraffenland.
    "Die Digitalisierung der Gesellschaft ist die Erweiterung des Zollstocks ins Soziale."
    Vorschläge statt öder Fundamentalkritik
    Und statt dieses Schlaraffenland nur einer öden Fundamentalkritik zu unterziehen, fügt Roberto Simanowski seinem »ABC der Neuen Medien« Ideen für philosophisch fundierte Startups bei. Wie wäre es, sagt er, statt des ignoranten Foto-Aufblitzdienstes SnapChat das schiere Gegenteil zu etablieren: eine App, die Fotos minutenlang vor dem Auge des Betrachters entwickelt, um dessen Blick wirklich zu fokussieren? Und könnte man nicht eine regulierende Börse für Shitstorms einrichten, jene scheinbar demokratischen Aufwallungen im Netz?
    "Die Shitstormgemeinschaft steht der Ausschreitung näher als der Kundgebung, indem sie geteilte Ansichten ohne richtige Diskussion und ohne wirkliche Abstimmung zu ihrer Handlungsgrundlage macht."
    Um dem entgegenzutreten, müsste man auf einer Crowdfunding-Plattform statt Geldern gute, stützende Argumente einsammeln. Der Shitstorm an sich kann ja nützlich sein, wenn er sich gegen Missstände und Skandale richtet.
    "Die Alternative zum Priester ist der Programmierer"
    Abgesehen davon, das der in Honkong lehrende Germanist luzide schreibt und deswegen nie langweilt, sind es solche Denkanstöße, die das Buch aus der Masse internetkritischer Pamphlete hervorheben. Technologisch gehe es auf keinen Fall zurück, sagt Simanowski, und am Ende sei das vielleicht sogar die Rettung vor einer zivilisatorischen Regression, die wieder Glaubensbekenntnisse und Gottesunterwerfung fordert.
    "Die Alternative zum Priester ist der Programmierer. Die Moderne kann ihr Projekt, das mit der Rückkehr der Religion scheitern würde, nur durch die Flucht ins Technische retten: Indem sie »Rückbindung« in »Religion« als »Link« übersetzt und zum heilbringenden Medium nicht die Kanzel kürt, sondern das soziale Netzwerk."
    Amen. Klick. Oder vielleicht doch lieber beides nicht.
    Roberto Simanowski: Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien
    Matthes&Seitz, Berlin 2017. 190 Seiten, 22 Euro