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Roger Willemsem: "Wer wir waren"
Der große Gegenwartsbeobachter

Wie soll man sich die Zukunft vorstellen, wenn sie uns doch oft so unklar und weit entfernt erscheint? Möchte man über die Zukunft reden, muss man von der Gegenwart reden. Denn um sich auf die Zukunft zuzubewegen, muss man wissen, von wo aus man startet. In seinem letzten Buch "Wer wir waren" unternimmt Roger Willemsen den Versuch einer Verortung.

Von Felix-Emeric Tota | 16.03.2017
    Buchcover Roger Willemsen: Wer wir waren
    Das letzte Buch von Roger Willemsen: "Wer wir waren" (S. Fischer Verlag, dpa/Henning Kaiser, Deutschlandradio)
    "Wer wir waren" ist das letzte Buch von Roger Willemsen. Es war ein Vorhaben, an dem er im Sommer 2015 intensiv arbeitete, formulierte und dachte, bis er von seiner Krebserkrankung erfuhr. Dann legte er die Arbeit nieder und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Am 7. Februar 2016 starb er und hinterließ die Materialsammlung für dieses ihm sehr wichtige und dennoch unvollendete Buch. Es trägt den Untertitel "Zukunftsrede".
    Das "Goldene Zeitalter der Ruhelosen"
    Allerdings schreibt Willemsen aber nicht über ein entferntes Morgen. Er schaut viel mehr aus einer hypothetischen Zukunft auf unsere Gegenwart zurück. Durch diese zeitliche und perspektivische Distanz entsteht, seiner Ansicht nach, der ideale Abstand, um das historisch Bedeutsame unserer Gegenwart zu betrachten und zu erkennen.
    "Wir erwachen im Goldenen Zeitalter der Ruhelosen und werden sagen können: Wenn wir in den Städten auf die Straße traten, hatte der Kampf um unsere Aufmerksamkeit schon eingesetzt. Die Fassaden schrien uns an, die Nackten umgarnten uns in den Auslagen, immer gab es etwas Hingeräkeltes, Schmeichlerisches, das uns besser gefallen wollte als alles sonst auf der Welt. Alles Großaufnahme, alles äußerste Steigerungsform, und wir dazwischen, die umkämpften Abgekämpften."
    Willemsen flaniert durch verschiedene Alltagsphänomene und beschreibt, wie sich die Gesellschaft hinter die Oberflächen zurückzieht.
    "Wir lebten in Ideen-Kampagnen"
    Er schreibt über Werbung, die lauten Überschriften, die zwischenmenschlichen Distanzen, den Konsum, die Beschleunigung, das Marketing, die pornografische Ästhetisierung und die allherrschende Aufmerksamkeitsökonomie unserer Gegenwart. Als Willemsen 2015 an "Wer wir waren" arbeitete, hatte der Populismus noch nicht die Konjunktur die er heutzutage hat, doch in gewisser Vor- und Rücksicht benennt er die gesellschaftlichen Auswüchse und Randerscheinungen, die sich ihm schon ankündigten.
    "Ja, wir lebten in Ideen-Kampagnen, und jede hatte ihren Jargon."
    Wie fast jeder Flaneur in der Literatur bewegt sich auch Roger Willemsen in einem assoziativen Gedankenstrom fort. Dabei bleibt er stets leichtfüßig und tänzelnd, selbst wenn er sich über gesellschaftliche Unebenheiten bewegt. Das ist typisch für Willemsen.
    Bereits in seinem Buch "Momentum" von 2012 bewegte sich Willemsen durch persönliche Erinnerungen und besondere Momente seines Lebens. Damals holte er sich das Augenblickliche, das Lebenswerte des Vergangenen in seine persönliche Gegenwart. In "Wer wir waren" dreht er die Denkbewegung einen Schritt weiter und setzt das Gegenwärtige in die kollektive Vergangenheit. "Momentum" war ein sehr persönliches Buch, weil man die Nähe zu ihm als Autor mitlas; "Wer wir waren" ist ein persönliches Buch, weil man die Nähe zu uns allen mitliest.
    "Mal waren wir für Wachstum, mal für die Work-Life-Balance, mal für den Fortschritt, aber auch für die Entschleunigung, für Empathie, dann für Härte, für Gott, für Bush, für Animal Rights."
    Willemsen, der Gegenwartsbeobachter
    Mit "Wer wir waren" hat Willemsen, der große Gegenwartsbeobachter, ein Buch hinterlassen, das unsere Zeit und die Alltagseskapaden unserer Gesellschaft beschreibt, aber auch ein Buch, das eingehend ihn selbst und seine Person erfasst.
    Der Text setzt sich aus vielem zusammen, was Willemsen ausmachte: die große Fabulierlust, der feine Beobachtungssinn, das Bissig-Pointierte, und das stets Melancholische in seiner Erzählerstimme. Aber auch sein Humor prägt diesen Text.
    "Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten."
    Selbst wenn seine Krebserkrankung während der Arbeit an dem Buch noch nicht bekannt war, ist sie dem Leser bei der Lektüre durchweg bewusst. Unfreiwillig denkt man, hier schreibe jemand für eine Zukunft, an der er selbst nicht teilhaben kann.
    "Die Zukunft hat dennoch ein blendendes Image"
    "Mag die Welt auch vor die Hunde gehen, die Zukunft hat dennoch ein blendendes Image, und selbst verkitscht zu Wahlkampf-Parolen, verkauft sie sich so gut, als wäre sie wirklich noch ein Versprechen."
    Willemsen plädiert dafür, sich das Zukunftsbewusstsein zurückzuerobern, zu schärfen und an der Zukunftsgestaltung teilzunehmen. Den allgemeinen Blick bei aller Selfieness wieder darauf zu richten, was im Großen ist, was einmal sein kann – und was einmal gewesen sein kann.
    "Wer wir waren" ist ein durchaus moralischer Text, aber keiner von denen, die man heutzutage, ob all seiner Väterlichkeit, nicht mehr erträgt. Er ist vielmehr ein Vorschlag als eine Handlungsanweisung. Sonst könnte sich bewahrheiten, was uns Willemsen derzeit noch attestiert:
    "Wir waren die, die verschwanden. Wir lebten als der Mensch, der sich in der Tür umdreht, noch etwas sagen will, aber nichts mehr zu sagen hat. Wir agierten auf der Schwelle – von der Macht des Einzelmenschen zur Macht der Verhältnisse."
    Was hätte Willemsen wohl zu Trump gesagt?
    Wie sich "Wer wir waren" gelesen hätte, wenn Roger Willemsen es fertig verfasst hätte, lässt sich leicht vorstellen. Auch die Ausmaße, die es angenommen hätte. Man fragt sich aber unweigerlich: Was hätte Willemsen wohl zu Trump gesagt, zum Postfaktischen, zum eilmeldungsfreudigen Jahr 2016, oder dazu, dass Mark Zuckerberg die Globalisierung auf Facebook umdenken möchte?
    Es bleibt uns nur das übrig, was sich Willemsen wohl gewünscht hätte: seine letzten sechzig Seiten geistesgegenwärtig zu Ende zu denken.
    Roger Willemsen: "Wer wir waren"
    S. Fischer Verlag, Frankfurt, 64 Seiten, 12 Euro