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Roman
Auf der Suche nach dem, was man will

Der Berliner Autor Martin Simons hat seinen ersten Roman geschrieben: "Die Freiheit am Morgen". Der Protagonist ist, wie der Autor des Buches, Jurist. Seine steile Karriere hat in an seine physischen Grenzen gebracht. Er kündigt seinen Job und will etwas verkörpern, das leuchtet.

Von Wiebke Porombka | 24.03.2014
    Ein Mann sitzt am 04.08.2013 auf einem Steg am Selenter See (Schleswig-Holstein).
    Die Figur des jungen Anwalts bleibt dem Leser als Charakter ambivalent. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Ein junger Mann steht am Rand eines Hochhausdaches, blickt in die Tiefe, auf Verkehrsströme und Passanten, und versucht sich vorzustellen, wie sich der Aufprall anfühlt, wenn er einen Schritt weitergehen und sich die 23. Stockwerke hinunterstürzen würde. Plötzlich aber und ohne einen Satz, der seine Entscheidung kommentiert, wendet er sich vom Abgrund ab und kehrt zurück in die Räume der Kanzlei, für die er arbeitet.
    Die Szene, die am Beginn von Martin Simons Debütroman "Die Freiheit am Morgen" steht, lässt den Leser, wenngleich nicht verstört, so doch zumindest ein wenig befremdet zurück. Was ist dieser junge Anwalt für ein Mensch: Eben noch stand er an der Schwelle zum Tod, im nächsten Moment speist er mit einen zynischen Kommentar eine Kollegin ab? War der Blick in die Tiefe nur Selbstinszenierung? Oder ist sein arrogantes Auftreten in der Kanzlei bloße Fassade?
    Zusammenbruch des Protagonisten
    Der Charakter des Mannes, der erst sehr spät im Roman einen Namen bekommt, Paul Stern nämlich, wird auch im weiteren Verlauf der Geschichte stets ein wenig undurchschaubar bleiben. Fest aber steht, dass der Einsatz, den er für eine steile Karriere geleistet hat, Paul an seine physischen Grenzen gebracht hat. Als er kurz nach seinem Blick in den Abgrund wieder einmal bis spät in die Nacht in der Kanzlei sitzt und unter Hochdruck einen Fall für seinen Chef aufbereiten muss, erfolgt der Zusammenbruch. Ein banaler Papierstau im Kopierer ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
    "Er kann nicht anders, als besinnungslos an den festsitzenden Papierseiten zu reißen, sofern er sie nur irgendwie mit seinen Fingerspitzen im Inneren dieser Höllenmaschine zu greifen kriegt. Schon bald bildet sich um seine Knie ein Kreis aus Konfetti. Es ist jetzt sieben Minuten vor elf. Eine kleine weiße Lichtkugel zerspringt in seinem Kopf, dann wird es dunkel."
    Zwar nimmt Paul seinen Zusammenbruch als Anlass, um in der Kanzlei zu kündigen. Die Idee, ein bedeutender Mann zu werden, Anerkennung und Bewunderung zu erfahren, ist damit aber nicht aus der Welt. Vielmehr setzt sie sich durch diese aufgezwungene Zäsur erst wirklich in seinem Kopf zusammen.
    "Eine stoffliche Stille bedeckt den See wie ein riesiges daunengefülltes Kissen, durch das ab und zu gedämpfte Vogelrufe klingen. Ein heller Lichtpunkt ist auf seiner Netzhaut eingebrannt, er sieht ihn auch bei geschlossenen Augen.
    Er erinnert sich daran, wie er gestern vor dem Kopierer lag und sich in seiner Vorstellung durchs Universum zoomte. Selbst als die gesamte Milchstraße für ihn kaum größer als ein gebratenes Ei war, sah er sich selbst darin als ein Licht, ganz ähnlich wie den Punkt, den er jetzt vor Augen hat. Er will nicht in erster Linie reich, erfolgreich und auch nicht glücklich sein, aber er möchte etwas verkörpern, das so leuchtet."
    Bald schon meint Paul, zu wissen, wie er dieses Leuchten erreichen kann. Der windige Redakteur Tasso von der Weide bindet ihn, obwohl er bisher mit diesem Metier nichts zu tun hatte, in ein neues Magazin-Projekt ein - ein ebenso größenwahnsinniger wie selbstverliebter Akt gegen den Niedergang des Printjournalismus. Martin Simons über seinen ersten Roman:
    "Seine Grundannahme ist, dass Menschen durch ihre Begabungen verführt werden zu etwas, dass sie zu einem Leben verführt werden, das im Grunde genommen relativ zufällig für sie ist und gar nichts mit dem was, sie innerlich wollten und wollen zu tun hat. Zum Beispiel jemand wie Paul macht ein Jura-Examen, kriegt gute Noten und plötzlich kriegt er Angebote von großen Kanzleien und kriegt so viel Geld angeboten, dass er glaubt, es wäre verrückt, es nicht zu tun, und macht es."
    Ganz ähnlich verhält es sich mit Pauls Engagement für das Magazin, das allerdings bald in eine Dauerschleife aus Probenummern und Neukonzeptionierungen gerät.
    Mara und Pauls alte Denkmuster
    Dass der Leser den Eindruck gewinnt, dass Paul dennoch auf einem guten Weg ist, liegt weniger an den chaotischen Magazin-Ambitionen als an Mara, einer Frau, die Paul auf einer Weihnachtsfeier in der Galerie eines Freundes kennenlernt. Die Affäre, die sich in den folgenden Wochen entspinnt, scheint Paul gesunden zu lassen. Wenn Mara neben ihm liegt, kann er so tief schlafen wie seit Jahren nicht mehr. Die beiden beziehen für ein paar Monate ein Haus auf dem Land, fern des Berliner Business- und Party-Lebens. Und Mara ist es auch, die Paul immer wieder bei seinem Vornamen nennt – fast symbolisch ist, wie Martin Simons seinen Protagonisten auf diese Weise zu sich selbst finden lässt.
    Scheinbar. Denn was auf den ersten Blick nach Erlösung klingen mag, ist zum Scheitern verurteilt. Die Liebe, wenn Martin Simons über sie erzählt, ist gar so märchenhaft dann eben doch nicht. Mara wird es nicht schaffen, aus Paul einen anderen, einen glücklichen Menschen zu machen. Denn der ist so sehr in seinen alten Denkmustern verfangen, dass er Mara und seinen eigenen Empfindungen ihr gegenüber stets ähnlich misstrauisch begegnet wie wenige Tage, nachdem er sie kennengelernt hat.
    "Je öfter er sich vor Augen rief, was er von ihr weiß, desto mehr erschien sie ihm wie eine Frau für drei Uhr nachts, mit der man sich tagsüber eine Menge Scherereien einhandeln kann. Ihm war nicht entgangen, wie wenig ihr der Alkohol anzuhaben schien, mit welchem Genuss sie tiefe Züge von ihren weißfiltrigen Reynos mit Mentholgeschmack rauchte und vor allem wie bereitwillig sie ihm, einem für sie doch ganz und gar Fremden, in seine Wohnung folgte, so als sei ihr alles gleich."
    Eine Frau, die wie Mara trotz vieler Talente keine Karriere anstrebt, die sich im Winter keinen warmen Mantel leisten kann und die zudem auch noch als Escort-Dame gearbeitet hat, passt nicht in Pauls doch verdammt spießiges Weltbild. Und schlimmer noch: Er merkt zwar, wie gut ihm das Leben mit Mara tut. Aber seine Verunsicherung darüber, dass jemand nicht nach seinen Maßstäben funktioniert, kann er nicht überwinden. Nicht zuletzt, auch wenn er es nicht offen eingesteht, ist das Problem mit Mara: Mit einer Frau wie ihr kann man sich nach außen schwer schmücken.
    Protagonist erscheint als ambivalenter Charakter
    Wohl deshalb bleibt Paul, ähnlich wie in der ersten Szene des Romans, dem Leser als Charakter ambivalent und er bleibt in dieser Ambivalenz auf Distanz. Sympathisch ist er ganz sicher nicht. Allenfalls tragisch in seinem Solipsismus.
    "Tatsächlich, glaube ich, versteht er nicht so viel. Es gehört, glaube ich, so ganz fundamental zur Erzählposition, dass man einen Erzähler hat, der so verführerisch meinungsstark ist und so ein überzeugender Beobachter ist. Im Grunde genommen ist es ja eine Ich-Erzählung in Er-Form. Es ist irgendwie so ein gespaltenes Ich, das sich selbst dauernd in der Gegenwart beobachtet. Und dadurch natürlich auch vielleicht die Situation aufgefächerter beobachten kann und auch analytischer und genauer scheinbar sein kann als man das im eigentlichen Leben als man selbst erleben würde. Und so wirkt Paul als jemand, also vielleicht, der sehr klug und überzeugend, weil er oft sehr souverän im Moment ist und sehr souverän handeln kann. Aber das ist ja eigentlich ein sehr unzuverlässiger Erzähler, weil er mag sich ja auch die ganze Zeit täuschen, das wird ja nie klar."
    Vermutlich ist es gerade seine Überzeugungskraft, an der Paul schließlich scheitert: Weil er sich selbst von ihr verführen und täuschen lässt und dabei gar nicht bemerkt, wie fragil alle Zusammenhänge geworden sind, in denen er sich bewegt. Das Magazin scheitert, die Beziehung zu Mara zerbricht. Am Ende steht Paul, dem ein strahlendes, elegantes Aussehen über alles ging, in billigen Plastiksandalen im Garten seiner Eltern und betrachtet sein neues Projekt: Apfelbäume, die er gepflanzt hat.
    "Er verliert viel, scheinbar. Auf der anderen Seite gewinnt er ja auch sowas wie Gelassenheit. Und ich hatte das immer als so einen Aufstieg - und das ist jetzt vielleicht pathetisch, aber so ein Aufstieg ans Licht gedacht, weil es endet ja auch, dass er lichtdurchflutet in der Abendsonne steht, und in dem Moment habe ich mir den Paul immer als sehr gelassenen Menschen vorgestellt."
    Wenn Martin Simons das Ende seines Romans in ein so versöhnliches Licht rückt, dann kann man sich des Verdachts kaum erwehren, dass der Autor hier ähnliche Qualitäten an den Tag legt wie seine Hauptfigur: Der Situation, die doch eigentlich erbärmlich ist, qua Rhetorik einen positiven Anstrich zu verleihen.
    Vermutlich ist das Freilegen dieser Disposition die durchaus treffende Zeitdiagnose, die diesem Roman zugrunde liegt und die wohl gerade deshalb nachklingt, weil der Autor nicht mit moralischen Fangstricken arbeitet.
    Martin Simons: "Die Freiheit am Morgen". Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013. 349 Seiten, 19,99 Euro.