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Roman
Das Neuland als Chance

1902 schrieb Theodor Herzl seinen Roman "Altneuland", dem Wunsch nach einem jüdischen Staat, der später Wirklichkeit wurde. Eshkol Nevo greift die Geschichte mit "Neuland" auf - in Argentinien.

Von Christiane Wirtz | 09.05.2014
    Luftbild Patagonien/Argentinien
    Luftbild Patagonien/Argentinien (dpa / picture-alliance / Jan Woitas)
    Eshkol Nevo hat die Geschichte seiner Großmutter gewidmet. Pracha Frischberg ist in den 30er Jahren von Polen nach Palästina geflüchtet. Sie kam mit einem Schiff über das Meer in das gelobte Land. "Wäre sie dort nicht weggegangen, wäre ich nicht hier" - schreibt der 42-jährige Autor auf die erste Seite seines jüngsten Romans. Palästina, später Israel, wurde für Pracha Frischberg und viele andere tausend Juden zum Zufluchtsort - so wie ihn Theodor Herzl Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Roman "Altneuland" erträumte.
    100 Jahre später schreibt Eshkol Nevo seinen Roman "Neuland": "Ich selbst bin zu ambivalent und das moderne Leben ist zu realistisch, um eine echte Utopie zu entwerfen. Aber ich möchte meine Leser einladen, sich einen anderen Weg vorzustellen - sowohl auf der nationalen Ebene wie auch auf der persönlichen Ebene."
    Zwei unglückliche Charaktere in der Hauptrolle
    "Neuland" führt durch verschiedene Jahrzehnte, Generationen und Kontinente. Immer wieder holt die Vergangenheit die Gegenwart ein, eröffnet der Autor einen Blick in die Zukunft. Zwei Charaktere führen durch die Geschichte, sorgen dafür, dass der Leser nicht die Orientierung verliert. Da ist zum einen Dori: Er lebt in Jerusalem und hat einen fünfjährigen Sohn, er unterrichtet Geschichte und ist einigermaßen unglücklich verheiratet.
    Als sein Vater eines Tages spurlos verschwindet macht er sich widerwillig auf die Suche, bricht auf nach Südamerika. Auf dieser Reise trifft er Inbar, die zweite Hauptperson dieses Romans. Inbar lebt in Tel Aviv, ist unglücklich in ihrem Job beim Radio und landet auf der Suche nach sich selbst eher zufällig in Lima.
    "Letzter Aufruf für Miss Benbenisti, lautete die Ansage, letzter Aufruf für Miss Benbenisti -
    Durch den Nebel des Alkohols schien eine Einsicht in ihr auf: Er hat Recht, der Ansager hat Recht, das war der letzte Aufruf, bevor sie ihren Kopf wieder in die Schlinge schob von Arbeit, Haus, Arbeit, Haus, einem schnellen Fick unter der Woche und einem ausgiebigeren am Freitagmorgen, von dem sie bestimmt schwanger werden würde, und sie würde sich freuen, nicht des Kindes wegen, sondern weil dies der Schleudersitz sein würde, der sie aus dem Radio rauskatapultierte, und nach neun Monate würde sie gebären und danach diese unendliche Müdigkeit und Zerstreutheit, die sie bei ihren Freundinnen beobachtete ..."
    Das Neuland als Chance
    Auf der gemeinsamen Reise von Dori und Inbar, führt Eshkol Nevo seine Leser immer wieder in die Vergangenheit, in die Familiengeschichten der beiden Protagonisten. Von einem letzten Abend im Warschau der 30-er Jahre ist da die Rede, von einem Bruder, der in seiner Zeit bei der israelischen Armee stirbt und von einer jüdischen Mutter, die ausgerechnet einen Deutschen geheiratet hat. Vorangetrieben aber wird der Roman durch die gemeinsame Suche nach Meni Pelek - dem Vater von Dori. Der hat als Soldat im Yom Kippur Krieg gekämpft und verschwindet spurlos, als seine geliebte Frau stirbt. Er bricht auseinander, so als habe ihre Liebe ihn ein Leben lang zusammen gehalten. Bis er schließlich nach Südamerika reist und dort aufhört, "aus der Krise herauskommen zu wollen, sondern sie als Chance betrachtet." Die Chance - das ist Neuland:
    "Habt ihr die bunten Bänke gesehen, als ihr reingekommen seid? In den Pausen führen die Leute dort Gespräche über ihre persönliche Vision. Neuland ist eine genossenschaftliche Gesellschaft so wie in Altneuland entworfen, aber wir gehen noch einen Schritt weiter: Wir glauben, dass wirkliche Partizipation und gegenseitige Verantwortung nur funktionieren kann, wenn sie jedem Einzelnen ermöglichen, seine persönlichen Neigungen zu verwirklichen."
    "Altneuland" in Palästina, "Neuland" in Argentinien
    Als Theodor Herzl in seinem Roman "Altneuland" über eine Heimat für die Juden schrieb, kamen ihm Argentinien und Palästina in den Sinn. Seine Vision aus "Altneuland" ist in Israel Wirklichkeit geworden und so lässt Eshkol Nevo seinen Charakter Meni Pelek in Argentinien "Neuland" gründen - eine "therapeutische Community". Denn das Leben im Ursprungsland, so die Grundannahme des Gründervaters, den seine Anhänger Senor Neuland nennen, ist ein "anhaltendes Trauma".
    Der Autor steht dieser von ihm selbst entworfenen Utopie skeptisch gegenüber. Mit feiner Ironie beschreibt er Senor Neuland, der täglich bis vier Uhr "visioniert" - damit alle anderen frei sind, "in der Gegenwart zu leben". Das Leben in Neuland erinnert an einen Kibbuz, an die naive Idee einer Gesellschaft, in der selbst die Körner eines Hüttenkäses gleich sind. Über diese Utopie macht der Autor sich lustig, ernst aber nimmt er die persönlichen Träume seiner Charaktere.
    "Wenn es um Charaktere geht, denke ich, beides - Alpträume und Wunschvorstellungen - sind ein wundervoller Weg, um einen Menschen zu verstehen. Was ist dein Alptraum? Was ist deine Phantasie? Das sind zwei ganz einfache Fragen, mit denen man jemandem sehr nahe kommen kann."
    Eine Geschichte voller Träume
    Und so hat Eshkol Nevo eine Geschichte voller Träume geschaffen. Er schreibt von gelebten Träumen und erfüllten - aber auch von verlorenen und enttäuschten Hoffnungen. Denn Träume, so schreibt er, braucht man, "um die Wirklichkeit aushalten zu können". In dieser Dimension des Träumens gibt es kein richtig oder falsch, keine moralischen oder rationalen Vorgaben, denn die Phantasie eröffnet Räume, hält verschiedene Möglichkeiten bereit. Es ist eine große Stärke dieses Romans, dass der Autor seinen Charakteren die Wahl lässt, nicht über sie urteilt. Vielmehr beobachtet er sie einfühlsam - wie sie aufrichtig versuchen, ihr Leben zu meistern, wie sie sich suchend vorantasten. So wie Lili, Inbars Großmutter, die ein Leben lang von einem anderen Mann träumt.
    Nevo: "Als Natan noch da war, hatte sie ihm ihre Träume in allen Details erzählt. Auch die, in denen Fima vorkam. Die ersten Male hatte sie noch gefragt: Stört es dich nicht, dass es in meinen Träumen einen anderen Mann gibt? Und er hatte mit den Schultern gezuckt, und als sie auf einer Antwort bestand, hatte er seine Hand auf ihre gelegt und gesagt: Von beiden Möglichkeiten, der Mann zu sein, der in deinen Träumen rumspukt, oder der Mann, der mit dir zusammen frühstückt und seine Hand auf deine legt, bevorzuge ich die letztere."
    "Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen" - das gilt noch heute
    In diesem Charakter, in Lili, erzählt Eshkol Nevo die Geschichte seiner eigenen Großmutter – wie sie in den 30er Jahren auf der "Futuro" über das Mittelmeer nach Palästina reiste. Pracha Frischberg starb, als ihr Enkel ihre Geschichte schrieb.
    "Ich bin besonders traurig, dass sie nicht mit mir sein kann, dass sie nicht miterlebt, wie das Buch durch Europa reist, wie es im März nach Warschau kommt."
    "Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen" - hat Theodor Herzl Anfang des 20. Jahrhunderts seiner Vision in "Altneuland" voran gestellt. "Neuland" erinnert daran, dass dieser Satz auch 100 Jahre später gilt. Mit einem Unterschied: Anders als Theodor Herzl stellt Eshkol den persönlichen Lebensentwurf in den Mittelpunkt, weniger die große gesellschaftliche Idee. "Neuland" ist ein Roman, der um die Macht der Phantasie weiß. Der zeigt, dass Träume - kleine genauso wie große - Kraft zum Leben spenden.