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Roman "Es bringen"
Alles ist irgendwie Wettkampf

Verena Güntner ist eigentlich Schauspielerin. Nun hat die 36-Jährige ihren ersten Roman veröffentlicht. "Es bringen" heißt das Erstlingswerk, das weit entfernt von ihren Erfahrungswelten angesiedelt ist: Sie schreibt aus der Perspektive eines 16-jährigen Jungen aus einer kaputten Familie, der versucht, sich langsam als Mann zu behaupten.

Von Detlef Grumbach | 08.12.2014
    Ein Junge sitzt auf einem Sprungbrett im Freibad und lässt die Beine baumeln, sichtbar sind nur die Beine.
    In "Es bringen" ist alles ein Wettkampf: Bei der Eröffnung der Freibadsaison werden am ersten Tag demonstrativ die Claims für den ganzen Sommer abgesteckt. (dpa/picture alliance/Sebastian Kahnert)
    Luis ist 16, so alt, wie seine Mutter war, als er geboren wurde. Er lebt mit der Mutter in einer Siedlung, in der die meisten Leute arbeitslos sind, im 15. Stock eines Hochhauses und hat Höhenangst. Dagegen entwickelt er ein eisernes Trainingsprogramm: "Ich bin der Trainer, und ich bin die Mannschaft", sagt er, weil ein Vater nicht existiert, der ihm Orientierung geben könnte, die Mutter ihre Rolle nicht wahrnimmt und die Lehrer sowieso egal sind. Luis muss zu Hause dafür sorgen, dass etwas im Kühlschrank ist, die Mutter mahnt ihn lediglich, nicht so viel herum zu ficken, er droht ihr im Scherz damit, sie beim Jugendamt anzuschwärzen. Ihre wechselnden Liebhaber lehnen ihn ab oder demütigen ihn sogar. Sein Leben ist elend und perspektivlos, doch Luis nimmt es an, will das Beste draus machen, ein Mann werden. Seine Heimat ist seine Clique. Milan, vier Jahre älter, ist der Boss, zu dem Luis aufschaut. Der traurige Marco, zu fett, um mithalten zu können, steht in der Hierarchie unter ihm, aber Luis mag ihn, trainiert ihn, ohne das Marco das bemerken soll, gleich mit. Zu den Freizeitbeschäftigungen zählen Wettsaufen, Wettpissen, Schwanzvergleich und Fickwetten, bei der Eröffnung der Freibadsaison werden am ersten Tag demonstrativ die Claims für den ganzen Sommer abgesteckt.
    "Das ist natürlich sein Wertesystem. Und ich glaube sowieso, dass sie all diese Dinge, die sie machen, das sind natürlich kindliche Rituale und da geht es wahrscheinlich eher um die Erprobung von so etwas wie Mann sein, ja, völlig fehlgeleitet, kann man sagen. Bei diesen Fickwetten geht es ja nicht wirklich um Lustempfinden oder 'Ich entdecke etwas' oder 'Ich nähere mich einem anderen wirklich', sondern alles ist irgendwie Wettkampf. Er hat sich glaube ich voll und ganz eingeschossen auf seine Welt dort und auf die Rituale, die ihm dort vorgegeben werden und die er auch selbst kreiert."
    Zwischen Abgestoßensein, Staunen und zögerlicher Empathie
    Verena Güntner mag ihren Helden trotzdem. Nur nebenbei lässt sie Luis die Verletzungen andeuten, die er in seiner Kindheit erlitten hat, die Situation der Mutter dringt kaum zu ihm durch. Der Ausflug mit ihrem Freund zum Nebelhorn vor ein paar Jahren, das war wohl ein kleiner Ausgleich für eine Abtreibung, so erinnert der Junge, darüber nachdenken tut er nicht. Das ist Vergangenheit. Manchmal geht er beim alten Jablonski vorbei, der den Arbeitslosen billig die Autos repariert, sich weigert, seine Apfelwiese für den Bau eines weiteren Wohnsilos zu verkaufen und ein Pony hat, das Nutella heißt. Nur heimlich streichelt er dann das Pony, weil das, so Luis, "kann ja auch schwul oder weicheimäßig rüberkommen". In einer kraftvollen, teils aber auf die Nerven gehenden, schnodderigen Jugendsprache lässt Verena Güntner diesen Luis seine Coming-of-age-Geschichte erzählen. Wer sie liest, schwankt zwischen Abgestoßensein, Staunen über eine fremde Welt und zögerlicher Empathie.
    "Erwachsene, an denen er sich orientieren kann, sind eben nicht da, Vaterfiguren gibt es auch nicht, außer dieser Jablonski vielleicht, dieser Autoschrauber. Also was mir schon imponiert, ist dieser Trainer-Mannschaftsgedanke, also ich mache etwas aus mir. Das ist einerseits etwas, womit er, glaube ich, die Leute ein bisschen auf seine Seite zieht, auf der anderen Seite ist das auch bedenklich, ja, weil er sich nicht schont und weil es natürlich der Versuch ist, alles unter Kontrolle zu kriegen."
    "Es bringen" nennt die 1978 in Ulm geborene und in Berlin lebende Schauspielerin Verena Güntner ihren durchaus sperrigen Roman-Erstling, dessen Grundmuster an Salingers "Fänger im Roggen" erinnert, dessen Held aber weit entfernt davon ist, über seine Lage verrückt zu werden. Der Stoff und die ihr eigentlich fremde Erzählperspektive sind der Autorin gleichsam zugeflogen. Als Schauspielerin, erzählt sie, sei sie es gewohnt, in andere Rollen zu schlüpfen. Um sich drauf vorzubereiten, geht sie mit offenen Augen durch die Welt, beobachtet, saugt fremde Verhaltensmuster in sich auf. Und dann stand Luis vor ihrem geistigen Auge:
    "Die Figur war plötzlich da und dann bin ich der gefolgt, dann haben sich die anderen Figuren ergeben, aber ich habe mich jetzt nicht hingesetzt und hab gesagt, so, ich möchte jetzt über einen Jungen schreiben oder aus der Sicht eines Jungen. Ich beobachte halt viel, es läuft halt so permanent ab. Vielleicht hat sich dieser Junge aus vielen Menschen, die ich gesehen habe, zusammengesetzt. Und plötzlich war der da."
    Güntner: "Für mich ist das ein sehr zarter Junge"
    Sympathisch wird Luis, wenn ihm die Kontrolle zu entgleiten droht. Marco erzählt ihm, wie sehr er seinen Vater vermisst, der die Familie kurz nach seiner Geburt hat sitzen lassen. Milan denkt an seine Großmutter in Polen. "Du weißt nicht, wie das ist, wenn man was wirklich vermisst", sagt Milan zu Luis. Solche Situationen lösen etwas aus, in ihnen bricht auch der Sprachpanzer auf und der Junge kommt einem näher. "Wir ficken", eröffnet ihm Milan etwa in der Mitte dieses Romans, der einen zweiten und genauen Blick verlangt, bevor man sich wirklich mit ihm anfreunden kann. Luis begreift erst später, dass Milan seine Mutter gemeint hat. Sein Leben gerät aus den Fugen, die Begegnung mit einem ungewöhnlichen Mädchen, sein Sportlehrer, der sich in einer absurden Situation ganz anders zeigt als erwartet, verunsichern ihn. Aber Luis kann, so sehr der Leser sich das wünschen mag, nicht neben sich treten.
    "Für mich ist das ein sehr zarter Junge, glaube ich. Eigentlich ist ja auch Marco sein Freund, weil der diese Dinge verkörpert, die er bei sich nicht zulässt, der fett ist, dieses Weiche, dieser Körper, der schwabbelt, der weich ist, der irgendwie aus der Form geraten ist: Alles, was er nicht erträgt. Es ändert sich etwas, aber das sind eben ganz kleine Schritte."
    Und doch hat sich am Ende etwas verändert, wenn Luis ganz ohne Höhenangst auf dem Balkon steht und gelassen auf die spielenden Kinder der Siedlung hinunterschaut.
    "Und vielleicht geht es auch um diese Langsamkeit und es gibt vielleicht dann diesen Ausblick, wenn er oben steht und den Kleinen zuschaut, wie die damit den Äpfeln schmeißen und er steht relativ entspannt da oben und trinkt sein Bier. Er ist alleine für sich in dieser Wohnung, es ist niemand da, er schaut denen zu, und was dann passiert, das kann man ja nicht wissen, aber ich wünsche mir für ihn, dass es einen positiven Ausblick geben kann."
    Verena Güntner: Es bringen. Roman. Kiepenheuer & Witsch 2014, 250 Seiten. 18,99 Euro.