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Roman
Fantasiebilder vor authentischem Hintergrund

Sansibar - die Insel mit dem paradiesisch klingenden Namen im Indischen Ozean ist der Ort, an dem Lukas Hartmann seinen Roman "Abschied von Sansibar" beginnen lässt. In verschiedenen Zeitebenen erzählend, ist die Kluft zwischen Orient und Okzident das Thema in den Lebensläufen der zum Teil historischen Personen.

Von Claudia Kramatschek | 19.03.2014
    Eine Frau erntet Seegras im flachen Wasser des Indischen Ozeans an der Ostküste der Insel Sansibar, Tansania.
    Am Strand von Sansibar. (dpa/picture alliance/Yannick Tylle)
    "An Seine Hoheit, Sultan Bargash ibn Said ibn Sultan. Friede sei mit dir, mein Bruder. Ich bitte Gott und Dich, dass Du nicht Dein Gesicht von mir abwendest, bevor Du diesen Brief gelesen hast. Du solltest Dein Herz nicht gegen mich und meine Kinder verhärten. Du solltest nicht denken, dass ich in Europa in schlechtem Ansehen stehe. Das Gegenteil ist der Fall."
    Was wie aus einem Märchen entsprungen klingt, ist einerseits der Fantasie des Autors Lukas Hartmann geschuldet, basiert aber - wie immer bei Hartmann - auf einer wahren, historischen Begebenheit. Denn besagter Bargash war der Bruder von Madschid bin Said, dem ersten Sultan von Sansibar. Anfang 1860 versuchte Bargash gemeinsam mit seiner Halbschwester Salme, Madjid zu stürzen. Der Putsch schlug fehl; Madjid versöhnte sich mit seiner Schwester Salme - was Bargash, der nach Madjids Tod neuer Sultan von Sansibar wurde, ihr sein ganzes Leben nie verzieh. Sie ist die Bittstellerin, mit deren herzerweichendem Brief Lukas Hartmann seinen Roman eröffnet. Und sie ist diejenige, die Abschied nehmen muss von Sansibar: Mit knapp 21 Jahren - auch das ist historisch verbürgt - verliebt sie sich nämlich in einen deutschen Kaufmann namens Heinrich Rüte, der in Sansibar - damals eines der wichtigsten Handelszentren im Indischen Ozean - seinen Geschäften nachgeht.
    Von Afrikas Küste nach Hamburg
    "Die Stimme vernimmt sie zuerst - abends oder nachts, wenn er aus dem Kontor heimgekehrt ist - durch die offenen Fenster auf der anderen Gassenseite. Tief ist sie, warm und doch gebieterisch. Ab und zu versteht sie Worte auf Suaheli, das er nahezu perfekt spricht. Es ist der Sultanstochter verboten, sich einem Ungläubigen zuzuwenden, das wissen auch die Dienerinnen, aber Wachträume kann ihr niemand verbieten, auch ihr Halbbruder Majid nicht, der auf dem Thron sitzt."
    Doch Salme wird schwanger und flieht - unter Beihilfe des britischen Vizekonsuls - an Bord eines Kriegsschiffes nach Aden. Dort heiratet sie Heinrich, tritt zum Christentum über und reist mit ihrem frisch angetrauten Ehemann weiter in dessen Heimatstadt Hamburg. Schon drei Jahre später aber, am 6. August 1870, stirbt Heinrich bei einem tragischen Unfall mit der Pferdebahn - Salme nennt sich inzwischen Emily, ist gerade einmal 26 Jahre alt und hat drei kleine Kinder.
    "Sie ist jetzt allein, heimatlos in einem Land, das ihr feindselig vorkommt, kalt selbst im Sommer. Das Heimweh überfällt sie in dieser Nacht mit ganzer Wucht."
    Was für ein Leben also - prallvoll mit Szenen, die jeden Abenteuerfilm schmücken würden. Und was für einen Roman hätte man also aus diesem Leben extrahieren können, das sich selbst liest wie ein Roman aus 1001 Nacht. Doch Lukas Hartmann entführt uns gerade nicht in ein orientalisierendes Echt-Zeit-Panorama. Er blickt vielmehr aus einer doppelt gebrochenen Perspektive auf dieses Leben zurück, indem er Salmes Sohn Rudolph zum Chronisten erhebt. Rudolph aber - nunmehr knapp 80 Jahre alt - ist ein zweifelhafter Chronist. Er ist krank, befindet sich in der Schweiz, und steht - die Rahmenhandlung spielt im Jahr 1946 - kurz vor dem Tod. Seine Mutter Salme bzw. Emily ist bereits 1924 an einer Lungenentzündung gestorben; seine ältere Schwester Antonie - die Ehefrau eines tyrannischen Kolonialbeamten in Übersee - kam soeben im Bombenhagel britischer Flieger ums Leben; seine jüngere Schwester Rosalie hat er zum letzten Mal beim Begräbnis der Mutter gesehen. Zerbrechende Welten also überall - und auch sein eigenes Leben betrachtet er als gescheitert.
    "Wie oft war er in Wüsten gewesen. Die Briten hätten in Palästina ein wirksames Bewässerungssystem entwickeln müssen, seine Idee vom Baumwollanbau in großem Stil hätte die Konflikte zwischen Juden und Arabern verringert. Ein Träumer war er gewesen, das hatten ihm oft genug die Mutter und die Schwestern vorgeworfen, ein kränklicher Junge, und nie war er zu der Bedeutung gelangt, die er angestrebt hatte."
    Offizierslaufbahn, Konsulatsdienst in Beirut, Eisenbahndirektor in Kairo, dann Direktor der Deutschen Orientbank: Sein Leben lang träumt dieser Rudolph - schließlich ist er halb Deutscher, halb Araber - davon, die Kluft zwischen dem Orient und dem Okzident zu überbrücken, die nicht nur seiner Mutter Salme zum Verhängnis wurde.
    Kolonialismus und Nationalismus
    "Es ging um die Gebiete in Ostafrika, die seit Jahrzehnten der Kontrolle des Sultanats von Oman und Sansibar unterstanden. Der Reisende und skrupellose Abenteurer Carl Peters, Gründer der Deutschen Kolonialgesellschaft, hatte dort verschiedenen Häuptlingen Verträge vorgelegt und sie dazu gebracht, mit drei Kreuzen der Protektion durch die Deutschen zuzustimmen. Nach einigem Zögern hatte Bismarck beschlossen, die Verträge für rechtens zu erklären und den aufgebrachten Bargash zu ihrer Einhaltung zu zwingen - notfalls mit kriegerischen Mitteln, immer aber im Bestreben, England nicht unnötig zu verärgern."
    Lukas Hartmann aber interessiert vor allem diese Kluft - sprich: Die Fluchtlinien einer Familiengeschichte, die in seiner Darstellung auf exemplarische Weise zwischen die Fronten der damaligen internationalen Politik gerät: die kolonialen Vormachtkämpfe zwischen England und Deutschland um die Insel Sansibar; der anschwellende Nationalismus der Kolonialmacht Deutschland, der am Ende des Romans zu einem mörderischen Faschismus mutiert sein wird - und dazwischen Menschen wie Salme oder Rudolph, die nichts als Spielbälle sind im Getriebe der großen Mächte.
    Der Roman selbst springt übrigens - die menschliche Erinnerung verläuft schließlich nie in einer kongruenten Linie - wild zwischen den Zeiten hin und her. Das gerät dem Roman jedoch nicht immer zu seinem Vorteil. Denn das Erzählen in Schleifen läuft stellenweise Gefahr, redundant zu sein. Hartmann liefert wunderbare Szenen voller Details und Anschaulichkeit - manches wiederum kommt ein wenig gelehrig daher. Von Salme hätte man gerne mehr gewusst, der deutsche Abenteurer Heinrich bleibt ein blinder Fleck. So bleibt der Eindruck, dass auch Hartmann selbst für dieses Mal mit seinem Roman zu viel des Guten wollte. Wo Rudolph, der Sohn, letztlich mit der Bürde seiner eigenen Familiengeschichte hadert - scheint der Autor mit der Fülle des Stoffes gehadert zu haben und damit mit der Frage, welchen Roman er eigentlich erzählen will.
    Lukas Hartmann: Abschied von Sansibar. Diogenes Verlag 2013, 336 S., 22,90 Euro.