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Roman
London, Kunst und der Erste Weltkrieg

Im Roman "Tobys Zimmer" von Pat Barker stehen die Kunststudentin Elinor Brook und ihr Bruder Toby im Mittelpunkt der Geschichte, welche in der Londoner Kunstszene spielt. Toby geht im Ersten Weltkrieg an die Front. Die Autorin scheut sich nicht, die Leiden der Kriegsversehrten genau zu beschreiben, vermeidet aber Effekthascherei.

Von Wera Reusch | 08.07.2014
    London Bridge, dahinter der Palace of Westminster mit Big Ben.
    Im Mittelpunkt der Londoner Kunstszene im Roman steht die Studentin Elinor Brooke. (picture alliance / Daniel Kalker)
    Unter den zeitgenössischen europäischen Schriftstellern dürfte es nur wenige geben, die sich so intensiv mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt haben wie Pat Barker. In einer Roman-Trilogie, die in den 90er-Jahren erschien, schilderte die britische Autorin eindringlich die Traumatisierung von Soldaten und frühe psychoanalytische Versuche, ihnen zu helfen. Gut 20 Jahre später hat die Historikerin den Ersten Weltkrieg nun erneut zum Gegenstand eines Romans gemacht. "Tobys Zimmer" setzt 1912 ein und spielt in der Londoner Künstlerszene. Im Mittelpunkt steht die Kunststudentin Elinor Brooke. Sie schwärmt für ihren Professor und pflegt Freundschaften zu ihren Mitstudenten. An erster Stelle steht jedoch ihr Bruder Toby - die Beziehung der beiden Geschwister weist geradezu inzestuöse Züge auf. Entsprechend groß ist Elinors Sorge, als der Mediziner Toby nach Beginn des Ersten Weltkriegs an die Front geht. Auch die Künstlerfreunde Paul und Kit melden sich freiwillig. Elinor selbst will mit dem Krieg nichts zu tun haben und sieht sich in ihrer Haltung durch die Bloomsbury-Gruppe um Virginia Woolf bestärkt. Bei einem Besuch auf dem Landsitz der Künstlergruppe trifft Elinor dort auf einen untergetauchten Kriegsdienstverweigerer.
    "Offensichtlich wartete er darauf, dass ich ihn fragte, weshalb er nicht auch "dort drüben" sei, aber das tat ich nicht. Das tue ich nie. Auf sein Drängen sagte ich, es gehe mich nichts an. Als Frau gehe es mich nichts an. Um ehrlich zu sein, übernahm ich etwas, was ich gestern Abend beim Essen von Mrs. Woolf gehört habe, dass nämlich Frauen außerhalb politischer Prozesse stünden und der Krieg daher mit ihnen nichts zu tun habe. Das klang klug, als sie es sagte, und dumm, als ich es wiederholte. (...) Wie auch immer, er besaß nicht die Kühnheit, mir zu widersprechen. Zweifellos sind Mrs. Ws Ansichten heilig."
    Historische Persönlichkeiten
    Virginia Woolf ist die bekannteste historische Persönlichkeit, die in dem Roman auftaucht - sie ist jedoch nicht die einzige. Elinor und ihre Künstlerfreunde erinnern ebenfalls an reale Personen. Und auch Henry Tonks, der Kunstprofessor an der Slade School of Fine Art, hat tatsächlich gelebt. Dass er auch Arzt war, erfahren wir im zweiten Teil des Romans, der 1917 spielt. Die Ereignisse haben sich mittlerweile zugespitzt: Elinor erfährt, dass ihr Bruder Toby als vermisst gilt und vermutlich gefallen ist. Ihre Freunde Paul und Kit kehren verwundet von der Front zurück - Kit ist durch eine Gesichtsverletzung völlig entstellt. Als Elinor ihn im Krankenhaus besucht, stößt sie dort auf ihren einstigen Dozenten: Henry Tonks zeichnet Patienten mit Gesichtsverletzungen, um den Chirurgen dabei zu helfen, den Männern wieder ansehnliche Züge zu verleihen. Elinor beschließt, es ihrem Lehrer gleichzutun, trotz anfänglicher Bedenken, sie könne damit die Kunst in den Dienst des Krieges stellen. Als größte Herausforderung erweist sich der Anblick der Versehrten:
    "Elinor zwang sich, den Blick zwischen Gesicht und Zeichnung hin und her zu wechseln, aber sie hatte Mühe, dem Mann ins linke Auge zu sehen, nicht, weil es beschädigt war, sondern weil es intakt war und voller Angst. Es war völlige Zeitverschwendung, sie wusste bereits, dass sie das nicht konnte. Derart konfrontiert mit diesem Wust aus zerrissenen Muskeln und gesplitterten Knochen, nützte ihr nichts von dem, was sie über Anatomie gelernt hatte, an der Slade oder im Sektionssaal, auch nur im Geringsten."
    Leiden der Kriegsversehrten
    Im Laufe der Zeit gelingt es Elinor, mit den verstörenden Eindrücken umzugehen und medizinische Illustrationen anzufertigen. Auch als Leser zögert man zunächst, die Verletzungen in allen Einzelheiten zur Kenntnis zu nehmen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Autorin eine Sprache gefunden hat, die den Zugang zu dem heiklen Thema erleichtert, weil sie klar und direkt ist. Pat Barker scheut sich nicht, die Leiden der Kriegsversehrten explizit zu beschreiben - vermeidet aber jede Effekthascherei. Und sie nimmt einmal mehr ein interessantes Kapitel der Medizingeschichte in den Blick: Während sich ihre früheren Romane auf eine psychiatrische Klinik in Schottland bezogen, erzählt "Tobys Zimmer" von den Anfängen der plastischen Chirurgie im Queen Mary's Hospital nahe London.
    "Das Krankenhaus hatte keine Spiegel, nicht mal zum Rasieren. Wenn man sich schnitt, Pech gehabt. Das war nichts gegen das Ansinnen der Chirurgen. Sogar das Wasser im Zierbrunnen war abgelassen worden für den Fall, dass irgendein armer, irregeleiteter Narziss beschloss, einen Blick zu riskieren. Dennoch versuchte man, sich selbst zu betrachten: in Pfützen, nachtschwarzen Fensterscheiben, polierten Wasserhähnen - selbst in Dessertlöffeln, wobei das die Abkürzung zur Hölle war."
    Hintertür zur Gegenwart
    Man sollte sich von der Tatsache, dass die historischen Hintergründe des Romans sehr genau recherchiert sind, nicht zu der Annahme verleiten lassen, Barker ginge es in erster Linie darum, den Ersten Weltkrieg durch Fiktionalisierung anschaulich zu machen. Die Autorin selbst hat ihre historischen Romane einmal als "Hintertür zur Gegenwart" bezeichnet. Und so wirft auch "Tobys Zimmer" viele Fragen auf, die sich nicht nur im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg stellen: Dazu zählen das Verhältnis von Kunst und Politik, der Umgang mit Versehrten, aber auch das Thema Homosexualität in der Armee oder die Traumata, unter denen Hinterbliebene leiden. Bei Elinor führt der Verlust ihres Bruders zu obsessivem Verhalten: Sie will die genauen Umstände seines Todes ermitteln - koste es, was es wolle. Aufklärung erhofft sie sich vor allem von ihrem Freund Kit - denn der war Toby an der Front direkt unterstellt. Doch der Schwerverletzte ist nicht bereit und in der Lage, die Wahrheit zu erzählen. Als kluger Kunstgriff erweist sich, dass Pat Barker auf eine realistische Schilderung der Ereignisse an der Front verzichtet. Was sich dort abgespielt haben mag, kann sich der Leser aus Erinnerungsfetzen zusammenreimen, die Kit im Krankenhaus unter Morphiumeinfluss heimsuchen. Damit erscheint der Krieg als das, was er war: ein Albtraum.
    "Mit einem Teil seines Verstandes konnte er seinen Zustand recht objektiv analysieren, weil er ihn bei anderen Männern schon so häufig beobachtet hatte. Zunächst war man angemessen, rational ängstlich, stand das Maß der Angst im Verhältnis zur Gefahr. Mit Glück und einer stabilen Konstitution hielt diese Phase Monate an. Doch der Verschleißprozess ist unnachgiebig. Nach wiederholten Schüben überwältigender Angst dreht man allmählich durch. Man geht dumme Risiken ein, und manchmal kommt man damit durch, aber nicht sehr lange. Im günstigsten Fall wird man verwundet, aber darauf sollte man nicht zählen. Im ungünstigeren Fall lauert das dritte Stadium. Die allgegenwärtige Angst. (...) In dieser Phase befand er sich jetzt. Und die nächste? Zusammenbruch: Gestammel, die Unfähigkeit, sich an simpelste Verrichtungen zu erinnern, Zittern, vollgeschissene Kniehosen.... Ja, diesen Zustand hatte er beobachtet."
    Pat Barker nähert sich dem sperrigen Kriegsthema auf schnörkellose und unpathetische Weise. Und ihre vielschichtigen Figuren stehen uns näher als sich zunächst vermuten lässt. Mit "Tobys Zimmer" ist der britischen Schriftstellerin ein weiterer großartiger Roman gelungen, der lange nachhallt. Sie beweist damit erneut, dass sich die historische Distanz zum Ersten Weltkrieg durch Literatur überwinden lässt und dass ein Roman vielleicht sogar tiefere Erkenntnisse ermöglicht als manch einschlägiges Sachbuch.
    "Pat Barker: "Tobys Zimmer", aus dem Englischen von Miriam Mandelkow, Dörlemann Verlag, Zürich 2014, 400 Seiten, 23,90 Euro.