Dienstag, 14. Mai 2024

Archiv

Roman
Polyfones Erzählen mit harten Schnitten

"Seine Zeit zu sterben", der neue Roman von Albert Ostermaier, spielt im Skiort Kitzbühel. Im Deutschlandfunk erzählt der Schriftsteller, was er am Skifahren mag und was nicht. Er spricht über ein Breughelsches Szenario, Glaube und ein verschwundenes Kind.

Albert Ostermaier im Gespräch mit Sandra Hoffmann | 16.01.2014
    Sandra Hoffmann: Albert Ostermaier: Sie sind Lyriker, Sie schreiben fürs Theater und Sie sind Romancier. All das spürt man in Ihrem neuen Roman "Seine Zeit zu sterben", und fragt sich: Was war zuerst da, die Sprache oder die Story?
    Albert Ostermaier: In diesem Fall war die natürlich die Story zuerst da, bei mir zwar naturgegeben immer die Sprache, in meiner Faszination für die Sprache und in meinem Getriebensein und Begeistertsein von der Sprache, und nachdem sich ja auch vieles durch die Sprache auslöst, aber dort, bei diesem Buch war es wirklich ein ganz konkreter Vorfall, dass ich beim Skifahren war, und im Sessellift saß, und auf einmal eine Durchsage kam, dass ein Kind, jetzt nicht direkt vermisst wird, aber dass das Kind sich melden sollte, und es war auf jeden Fall klar, dass es gesucht wird, und in dem Moment schoss mir wirklich diese Geschichte durch den Kopf, und als ich dort auf die Wälder schaute, auf den Schnee, und dann, während dieser Sesselliftfahrt, wusste ich, dass das eine Geschichte ist, die ich erzählen möchte, nämlich dass ein Kind in diesem ganzen Skizirkus, in diesem ganzen Wahnsinn auch verloren geht, und was das für Konsequenzen hat und auslöst.
    Hoffmann: Der Roman spielt in Kitzbühel, dem mondänsten Skiort in Österreich, mit der schwierigsten, aber glaube ich auch bedeutendsten Abfahrt im Skiweltcup, der Streif. Warum spielt er dort und was hat Sie gereizt an diesem Ort?
    Ostermaier: Mich hat natürlich gereizt die Legende der Streif. Die Streif ist ja wirklich eine unglaublich riskante Abfahrt, eine Abfahrt, die immer dadurch sich ausgezeichnet hat, dass die Skifahrer alles riskieren müssen, dass es spektakuläre Abfahrten gab, spektakuläre, dramatische Stürze, und dass sich dort einfach dieser Ort in diesen Tagen der Streif einer völligen Metamorphose eigentlich unterzieht, und diese Stadt einfach überfallen wird, von Massen von Fans, von ganzer B - bis Z-Prominenz, wo die Leute sich generieren und den Skizirkus zelebrieren, eigentlich wie ein Breughelsches Szenario oder Tafelbild, wo man also hier so ein Triptychon hat, und wirklich Dinge sieht, Menschen sieht, Metastasen sieht, die unglaublich sind, und die einfach in einem unglaublichen Kontrast stehen, zu dem, was dieser Ort auch sein kann, und man merkt das eben grade während der Streif, wo alles sich auf diesen Zielhang konzentriert, dass in der Zeit das eigentliche Skigebiet völlig verlassen ist, und dass man da wunderbar alleine Skifahren kann, und dass dieses Nebeneinanderexistieren von verschiedenen Welten ganz offensichtlich ist.
    Hoffmann: Nicht nur ganz wunderbar alleine Skifahren kann, sondern eigentlich auch ganz wunderbar diese Geschichte in diesen leeren Hang hineinleben lassen kann. Die Geschichte, Sie sagten es ja schon, vordergründig wird ein Junge, Igor, vermisst, die Geschichte setzt sich aber aus ganz vielen Perspektiven zusammen und es gibt ein ganz gewaltiges Aufgebot von Figuren, also die Eltern des Jungen, die Kommissarin und ihr Gehilfe Schatterer, ein gealterter Skirennfahrer, Huller, zwei Russen, ein Anwalt, der Macher von einer Skialm, den geheimnisvollen Ödon Lunge darf man nicht vergessen, weil der eine ganz zentrale Rolle spielt, darauf möchte ich später nochmals zurückkommen, ein Pfarrer und jede Menge Nebenpersonal. Was reizt Sie an dieser Vielstimmigkeit des Erzählens?
    Ostermaier: Mich interessiert hier genau dieses vielstimmige, dieses polyfone Erzählen, dieses filmische Erzählen mit harten Schnitten, mit Gegenschnitten, mit Kamerafahrten, mit Perspektivwechseln, mit dem Sprung zugleich, was ja die Literatur kann, dass sie ja auch die ganzen Innenstimmen zeigen kann, und dass sie diese ganzen Beschleunigungen zeigen kann, und dass sie die verlangsamen kann, und dass sie mit der Zeit arbeiten kann, und dass man diese Parallelität hat zwischen verschiedenen Ereignissen, die sich scheinbar widersprechen, die sich ausschließen, die aber doch zur gleichen Zeit stattfinden und miteinander verbunden sind durch ein geheimes System, und alle ja eigentlich genauso gefangen sind in eigentlich so einer dantesken Höllenschleife, die diese Abfahrt auch ist, und so kann man das auch sehen, was da passiert, und dass sie alle über diesen Jungen, der eigentlich im Zentrum stehen muss, aber für sie alle nicht so sehr die Rolle spielt, die er spielen müsste, aber über ihn sind sie verbunden, und somit kommt dann als letzte große Figur noch die Natur ins Spiel, und der Schneesturm, der ja fast eine kathartische und reinigende Rolle hat.
    Hoffmann: In dem auch das Buch nochmals ganz schön an Beschleunigung aufnimmt. Das Buch, in dem es ja von der ersten Seite an um außerehelichen Sex, um Tod, um Missbrauch und Entführung, um Verrat, Schuld, Sünde, also nur um die Abgründe des Lebens eigentlich geht, um die dunklen Gedanken. Ist der Mensch schlecht?
    Ostermaier: Ich bin jemand, der eher versucht, das Schlechte in einem Menschen zu bannen, indem man das benennt. Ich bin also vielmehr jemand, der bis zum Letzten und bis zum letztmöglichen Punkt an den Menschen glaubt und an die Veränderbarkeit des Menschen, aber auch, dass man das Licht nur sehen kann, wenn man das Dunkel aushält, und das Dunkel als solches akzeptiert, dass es da ist, und es braucht diese Kontraste, und so denke ich, steht eben genauso im Brennspiegel dieses Romans eine Urangst, und zwar die Angst um das Kind; dieses schutzlose, dieses ungeschützte, das auch darum kämpft wahrgenommen zu werden, als das was es ist, als das Kind in seinem eigenen Sehnsüchten, in seinem eigenen Gesehenwerden wollen von den Eltern, von den anderen, und wie wir dieses Kind und auch dieses Kind in uns übersehen, und wie wir nur noch für das Äußeres, für all das Augen haben, was uns reizt, was einfach spektakulär ist, was etwas abwirft, und dass wir aber das Auge dafür verloren haben, auf die Dinge zu schauen, die entscheidend sind, die wesentlich sind.
    Hoffmann: Ein wichtiger Teil des Romans spielt im Beichtstuhl einer Bergkapelle. Ödon Lunge, die mysteriöseste Ihrer Figuren sitzt dort mit dem Pfarrer, und arbeitet sich wirklich an den zehn Geboten ab. Und man fragt sich, ob sie die Figur hier so eine Art psychoanalytische Kur durchlaufen lassen? Mit schlechtem Ausgang wohlgemerkt.
    Ostermaier: Mit schlechtem Ausgang. Ja, das ist eigentlich ein schöner Gedanke. Es ist wirklich so, dass diese Figur auf einmal in dieser völlig verlassenen Kapelle ist, die dort mitten im Skigebiet ist, die dort auch wirklich real existierte, und die aber zugleich innerhalb dieses Treibens, dieses lauten Skispektakels ein Ort der Ruhe ist und der Stille, einer bedrohenden Stille, und diese Figur, Ödon Lunge ist ja jemand, der sein Kind verloren hat und der sehr, sehr erfolgreich war und der all das hatte, was man in Kitzbühel haben sollte, oder was zu dem gehört, was einen auszeichnet, das einen mitspielen lässt in dieser Gesellschaft, noch dazu ein Spielervermittler, der auch die Verbindung zum Fußball, zum Sport hat, der aber dann durch sein Kind, das er verloren hat, nicht nur das Kind verloren hat, sondern alles verloren hat, auch seinen Glauben verloren hat in die Zukunft, in dieses Leben, das er führt. Und der selbst eine Kindheit hatte, die für ihn geprägt war, dass er sich selbst in einen Konflikt mit Gott gesetzt hat, und diese Vorstellung hatte, dass er mit Gott einen Kampf führt. Natürlich ein ungleicher Kampf. Und nachdem das alles für ihn im Laufe seines Lebens immer mehr in den Hintergrund geriet, ist er nun wieder in einer Situation, wo er diese ganzen Rechnungen wieder aufmacht, wo er eigentlich genauso wie der Schneesturm versucht, das alles zu klären, was dort passiert ist, so versucht er, wie der Schneesturm durch sein eigenes Leben zu gehen, und alles wegzufegen, was falsch war, und diese Sehnsucht zu haben, nochmals, noch ein letztes Mal zu einer Wahrhaftigkeit zu kommen.
    Hoffmann: Der Glaube ist also kein Ort der Rettung?
    Ostermaier: Der Glaube könnte ein Ort der Rettung sein, wenn der Glaube etwas ist, das etwas freisetzt, wenn der Glaube mit Freiheit zu tun hat, und in dem Sinn ihm diesen Halt bieten könnte, den er immer gesucht hat, den aber dann nicht gefunden hat. Aber er ist natürlich auch, wie es ein durchgängiges Motiv ist, er ist natürlich auch konfrontiert mit den Perversionen des Glaubens, mit dem Missbrauch des Glaubens, mit der Institution, die sich anstelle des Glaubens setzt.
    Hoffmann: Hier verraten wir nicht mehr mehr.
    Ostermaier: Hier verraten wir nicht mehr, aber es ist ja auch so auf der anderen Seite, dass man sagt, Skifahren ist etwas Wunderschönes, die Natur ist etwas Schönes, aber muss überall der Champagner fließen, muss aus jeder Box Musik dröhnen, gibt es überhaupt dort noch innerhalb dieses ganzen Skispektakels Stille, Schnee, und das, was man daran liebt, wenn man nicht nur selbst dann hochgeht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Albert Ostermaier: "Seine Zeit zu sterben"
    Suhrkamp, 305 Seiten, 18,95 Euro.