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Roman
Psychogramm der Familie Goya

In seiner Heimat Polen ist Jacek Dehnel längst ein Star. In Deutschland hingegen, wo vor fünf Jahren sein Roman "Lala" erschien, hat sich sein Name noch nicht richtige herumgesprochen. Das dürfte sich allerdings bald ändern, denn sein neues Buch, "Saturn", hat Bestseller-Qualitäten.

Von Marta Kijowska | 16.12.2013
    "Ich bin in der Straße der Enttäuschung zur Welt gekommen. Erst als ich acht oder neun war, hörte ich, in der Speisekammer versteckt, wie unsere Köchin dem Scherenschleifer erzählte, woher dieser Name stammte. Aber mein Vater war immer der Meinung, die Straße heiße so, weil ich, Javier, in einem Haus dieser Straße zur Welt gekommen bin, im Alkoven im Obergeschoss, in der Wohnung des Porträtmalers und Vizedirektors der Königlichen Teppichmanufaktur Santa Barbara und bald darauf des königlichen Hofmalers Francisco Goya y Lucientes."
    In diesen wenigen Sätzen - dem Auftakt des Romans Saturn - liefert der polnische Autor Jacek Dehnel dem Leser gleich zwei wichtige Informationen. Man erfährt, dass sein Buch von dem berühmten spanischen Maler handelt. Und man erkennt, dass es nicht so sehr die Stationen von Goyas Biographie sind, die über seinen Inhalt und Stil entscheiden, sondern eine bestimmte familiäre Konstellation. Genaugenommen basiert Dehnels Grundidee auf einer einzigen biographischen Tatsache: Mit seiner Frau Josefa, genannt La Pepa, hatte der Künstler vierundzwanzig Kinder gezeugt, von denen aber nur ein einziger Sohn überlebte: Javier, über den bis heute kaum mehr bekannt ist, als dass er ebenfalls Maler wurde. Und - dass das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater alles andere als einfach war.
    So ist Jacek Dehnels Roman, in dem die gleichen Situationen durchgehend aus zwei beziehungsweise drei Perspektiven, des Vaters, des Sohnes und des Enkels Mariano, beleuchtet werden, als ein Psychogramm dieser problematischen Beziehung zu verstehen - auch wenn dies ursprünglich nicht unbedingt die Absicht des Autors war.
    "Als ich mit der Arbeit an Saturn begann, ging es mir nur darum, eine bestimmte Art Vater-Sohn-Verhältnis zu zeigen. Ich wollte die Geschichte einer schwierigen patriarchalischen Familie erzählen, in der sich alle lieben und gleichzeitig aus irgendeinem Grund gegenseitig zerstören. Die Familie Goya diente mir dafür nur als Folie. Je länger ich aber schrieb, desto öfter sah ich, dass die biographischen Fakten exakt zu meinem Ansatz passten. Es war wirklich Goyas Leben. Seine gesamte Aura war genauso düster wie ein Teil seiner Bilder. Und auch die Bilder selbst, die etwas Klebriges und Widerwärtiges an sich haben, passten zu dieser Geschichte. "
    Diese Düsterheit resultiert in Dehnels Roman allerdings nicht so sehr aus den Ereignissen in Goyas Leben, sondern aus seinem eigenen Charakter. Der geniale Maler erscheint in dem Buch als der Inbegriff schlechter Eigenschaften, als ein selbstverliebter Haustyrann, Vielfraß und Flegel, der seine wahren Erfolge durch erfundene potenziert und auf die Bedürfnisse seiner Mitmenschen keine Rücksicht nimmt. Und der seinem einzigen Sohn nicht nur die Lust am Malen nimmt, sondern ihn auch permanent als Versager hinstellt.
    "Manchmal sah ich ihn plötzlich irgendwo im Haus und dachte: Ist das wirklich mein Sohn? Dieser Schwächling, der mit zwanzig hier und da Fett ansetzte, der immer träger wurde, bleich wie die Wand durchs Haus schlich und keinen Ton von sich gab? Dieses Etwas? Wie konnte es, verdammt noch mal, passieren, dass dieser hübsche Junge, der schönste Anblick von Madrid, sich in so eine erbärmliche Drohne verwandelte?"
    Javiers Urteile über seinen Vater fallen nicht minder hart aus, doch im Grunde schneidet in diesem Buch niemand gut ab - weder er selbst, noch seine mädchenhaft fade Frau Gumersinda, noch die schweigsame La Pepa oder der ein wenig zu geschäftstüchtige Mariano. Das gibt dem Roman eine sehr eigene Aura, von der sogar der Autor sagt, sie habe ihm die schlimmste Depression seines Lebens beschert. Doch das beeinträchtigt den Reiz des Roman in keiner Weise. Und dieser liegt vor allem darin, zu verfolgen, mit wieviel Geschick und Phantasie Dehnel mit Goyas Biographie umgeht. Am meisten interessiert ihn dabei die umstrittene Herkunft der Schwarzen Bilder, des berühmten Zyklus, auf den er im Untertitel anspielt. Früher wurde angenommen, Goya habe sie selbst an die Wände seines Landhauses "Quinta del Sordo" gemalt. Seitdem aber ein spanischer Kunsthistoriker dies infrage gestellt hat, werden sie manchmal Javier zugeschrieben: Für einen Schriftsteller ein sehr reizvolles Thema:
    "Wenn man ein Buch über einen so berühmten Mann wie Francisco Goya schreibt, dann muss man damit rechnen, dass er sofort einen zentralen Platz einnimmt. Das entspricht auch seinem Charakter: Er war ja sehr dominant, wollte alle um sich herum beherrschen und verschlingen. Und hier ergab sich für mich eine sehr interessante Situation. Denn ich hatte einerseits ihn, Goya, eine Gestalt, die man aus unzähligen Beschreibungen kennt und die sich auch in meinem Roman sofort breitmachen wollte. Und andererseits Javier, der praktisch gar nicht existierte, der aber trotzdem keine schlechtere Figur abgab, weil ich ihn völlig neu erfinden konnte."
    Bei diesem Erfinden geht Dehnel insofern raffiniert vor, als er zwei Kunstgriffe miteinander verbindet. Zum einen gibt er Javier die fehlenden biographischen Konturen, zum anderen macht er ihn zum Autor der Schwarzen Bilder. Dabei unterbricht er die Handlung wiederholt durch Passagen, die als Beschreibungen dieser Bilder und zugleich als Javiers innere Monologe gestaltet sind. Sie sollen ihm helfen, von seinem übermächtigen Vater loszukommen. Allen voran die Beschreibung des titelgebenden Saturn:
    "Was gibt es Größeres auf der Welt als deinen Appetit? Sechs hast du schon gefressen, jetzt verschlingst du das siebte; von Zeit zu Zeit unterbrichst du das Kauen. Du spuckst, rülpst und schimpfst auf den kopflosen Körper, den du mit den muskulösen Fingern so zerquetschst, dass deine Knöchel weiß werden und die Kinderhaut platzt und unter ihr dickes, helles Blut herausspritzt."
    So interessant diese Beschreibungen der im Buch auch abgedruckten Schwarzen Bilder zu lesen sind - ihre therapeutische Funktion wird nicht immer ersichtlich. Jedenfalls nicht, wenn man an diese Art Interpretation nicht herangeführt wird. Dehnel:
    "Das ist natürlich nur eine der möglichen Interpretationen - eine, in der die Schwarzen Bilder eng mit bestimmten traumatischen Ereignissen im Hause Goya verbunden sind. Sie stehen auch im Buch an sehr bestimmten Stellen, was bedeutet, dass ihre Beschreibungen einen stark visuellen Charakter haben mussten. Sie verkörpern ja das Unbenannte, das schwer Definierbare. Und sie berühren sehr schmerzhafte Dinge, weshalb sie oft die Energie eines Ausbruchs, einer Explosion haben. Sie mussten also stilistisch anders sein, um diesem schwierigen, komplizierten psychologischen Prozess zu entsprechen, den der Mensch in einem Moment der Reinigung, der Katharsis durchlebt."
    Diese Passagen sind stilistisch nicht nur anders, sondern auch besonders eindrucksvoll - das steht außer Frage. Alles in allem zeigt sich Jacek Dehnel in "Saturn" als ein gereifter Schriftsteller. Während sein Romanerstling Lala noch ein wenig undiszipliniert wirkte, setzt er diesmal sein literarisches Können sehr bewusst ein: Die Auswahl des biographischen Materials ist sorgsam durchdacht, die Komposition durchgehend eingehalten, der Erzählstil präzise und gleichzeitig sehr farbig und plastisch - was bei einem Autor, der aus einer Malerfamilie stammt und selbst Maler werden wollte, auch nicht sonderlich verwundert.