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Roman "Schwarze Seelen"
Irritierende Mythisierung archaischer Traditionen

Die abgelegenen Bergregionen Kalabriens bilden die Kulisse für Gioacchino Criacos Roman "Schwarze Seelen". Dort beginnt die Verbrecherkarriere von drei Jugendlichen. Criacos gibt dabei einen Einblick in eine fremde, archaische Welt. Seltsam mutet dabei nur an, dass die in Kalabrien herrschende Verbrecherorganisation 'Ndrangheta in einem seltsam milden Licht erscheint.

Von Aureliana Sorrento | 12.08.2016
    Das Kloster Santa Maria di Polsi in der Nähe von San Luca in Kalabrien am Aspromonte.
    Das Kloster Santa Maria di Polsi in der Nähe von San Luca in Kalabrien am Aspromonte. (imago stock&people)
    Steil und tückisch ist das Gebirge. Da von dichten Wäldern bedeckt, dort dürr und felsig. Sicher deswegen heißt es Aspromonte: der Saure Berg. Sturzbäche keilen sich zwischen die Gebirgszüge. Ihre Flussbetten waren lange die einzigen Wege zu den entlegenen Bergdörfern; bis ins 20. Jahrhundert hinein lebten deren Bewohner abseits jeglicher Zivilisation. Bauern und Ziegenhirten, deren Armut so archaisch war wie deren Bräuche, und die den Städtern als wilder galten als ihre Tiere. Irgendwann aber erlebten manche Bergdörfer an der östlichen Flanke des Aspromonte, die zum ionischen Meer blickt, eine eigenartige Wirtschaftsblüte: Dank dem Drogenhandel wurden San Luca, Platì und Africo Zentralen der 'Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, die heute angeblich zur reichsten kriminellen Organisation der Welt geworden ist. Ihr Grundkapital erwirtschaftete sie in den 70er- und 80er-Jahren durch Entführungen. Norditalienische Industrielle, aber auch weniger begüterte Bürger kalabrischer Städte wurden in den Aspromonte verschleppt. Ziegenhirten dienten den Mafiosi als Geiselwächter.
    Das ist der reale Hintergrund, vor dem Gioacchino Criacos "Schwarze Seelen" spielt. Ein Roman, der das erzählerische Können des Autors beweist. Aber wer die Verhältnisse in Kalabrien kennt, muss sich darüber wundern, dass Criaco die 'Ndrangheta in einem seltsam milden Licht erscheinen lässt.
    Der Roman beginnt mit einer Geiselübergabe, zu der ein Ziegenhirte seinen Sohn, den Ich-Erzähler, und dessen Freunde Luciano und Luigi mitgenommen hat. Der nächtliche Marsch durchs Gebirge, um die Geisel ins Versteck auf der ionischen Seite des Aspromonte zu führen, ist quasi eine Initiation. Damit beginnt die Verbrecherkarriere der drei Jugendlichen. Es folgen Entführungen, Raubüberfälle, Rachemorde, Auftragsmorde. Der blanken Armut entkommt man hier nur durchs Verbrechen. In der Abgeschiedenheit des Sauren Bergs hat eine urzeitliche Kultur fortgedauert, zu der vorzivilisatorische Normen gehören. Sie gründen auf dem Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn". "Schwarze Seelen", erklärt uns der Autor, heißen hier jene, die mit jemandem eine Rechnung offen haben. Criaco zelebriert die Mythen und Alltagsrituale der Aspromonte-Bewohner ebenso schwelgerisch wie die schaurig-schöne Natur des Gebirges. "Söhne der Wälder" nennt er sie, und malt bukolische Szenen aus, in denen sie als Bewahrer urwüchsiger Traditionen erscheinen. Da sollte der Leser aufpassen, dass er sich nicht betören lässt von derartigen Mythisierungen. Genau diese archaische Traditionen und Regeln bilden den kulturellen Humus, aus dem die 'Ndrangheta erwachsen ist.
    Die drei Protagonisten des Romans legen eine Karriere wie nach dem Bilderbuch der Neuen 'Ndrangheta hin: Sie ziehen nach Mailand, knüpfen Kontakte zu arabischen Drogenhändlern, dealen erst mit Heroin, dann mit Kokain. Sie geraten in die Kreise der Mailänder Schickeria und finden dort politische Schutzengel.
    Dass Criaco aus der Sicht der Kinder von Africo, Platì und San Luca erzählt, macht die Stärke des Romans aus. Dadurch bekommen wir Einblick in die Lebens- und Denkweisen und in die sozialen Zwänge, auf die sich die 'Ndrangheta stützt. Aber warum wird diese Mafia-Organisation in "Schwarze Seelen" nie erwähnt? In Kalabrien ist es ein Sakrileg, ihren Namen auszusprechen. Befolgt der Autor etwa dieses Schweige-Gebot?
    Hier und da werden im Roman Ehrenmänner erwähnt, aber als Nebenfiguren. Die Romanhelden sind keine Mafiosi. Unser Trio hasst die Mafiosi, handelt zwar genauso wie sie, führt aber einen Rachefeldzug gegen sie.
    Das wäre ja schön, würde man in Kalabrien sagen, wo die 'Ndrangheta jeden Zentimeter des Territoriums kontrolliert. Dort führen die 'Ndrangheta-Clans zwar Fehden gegeneinander. Aber jemand, der von außerhalb der Organisation einen Clan attackierte, würde nicht lange leben.
    Freilich muss sich Literatur nicht an die Realität halten. Aber gilt das auch für einen Roman, der so nah an die Realität herankommt, dass jede Abweichung davon nur als Verdrehung von Fakten wahrgenommen werden kann? Oder sogar als Verharmlosung einer kriminellen Organisation?
    Gioacchino Criaco: "Schwarze Seelen", aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl, Folio Verlag 2016, 229 Seiten, 22,90 Euro