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Roman
Sieben Personen suchen einen Ort

Ein vier Generationen umfassendes Geschichtspanorama: Das ist Ulrike Draesners neuer Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt". Er feiert den Geist und die wiederauferstandene Schönheit von Breslau. Vor allem die deskriptiv-sinnlichen Passagen sind überzeugend.

Von Katrin Hillgruber | 22.09.2014
    Ulrike Draesner
    Ulrike Draesner (dpa / picture alliance / Swen Pförtner)
    "Wirft uns das Bier auch nieder, wir trinken morgen wieder": Dieser schwungvolle Slogan ist von der Selter- und Limonadenfabrik Paul Draesner überliefert, aus Oels in Schlesien, Ring 34, Fernsprecher 23, Postscheckkonto Breslau 28970. So wie Alfred Hitchcock in jedem seiner Filme einen sekundenkurzen Auftritt absolvierte, so lässt Ulrike Draesner auf Seite 344 ihres neuen Romans ein Erinnerungsstück an die Brauerei ihrer Familie auftauchen.
    "Die Familie von Eustachius Grolmann betreibt eine Bäckerei. Das Modell dafür waren die Familiengeschichte und eine Brauerei, die die Familie Draesner über viele Jahrhunderte hinweg tatsächlich besaß. Und es gab dieses Bier, Draesner, und es gibt auch noch Flaschen, die hier und da auftauchen, und mein Vater hat eine im Keller stehen und das war immer ein sehr interessantes Objekt, weil mein Vater ein ganz ambivalentes Verhältnis zu dieser Flasche hat, die klein ist, eben eine alte Bierflasche, so durchsichtig mit so einem erhabenen, aus Glas geprägten Namenszug, und er erinnert sich natürlich an den Gebrauch dieser Flaschen, da gab es Tausende, von da wurde abgefüllt und zugleich ist die durch irgendwelche Zufälle ihm später in die Hände gekommen, so ein unwahrscheinliches Relikt in einem Kontext. Und das wurde mir dann auch noch einmal beim Recherchieren so deutlich, wie es eigentlich ist, in so einem Kontext zu leben, in dem die ältesten Erbstücke, die Du hast, extrem rar sind, zwei Löffel, und alles andere ist einfach leer."
    Draesners wohl persönlichstes Buch
    Heute ist die schlesische Brauerei Draesner Geschichte, ist sie einer jener "Namen, die keiner mehr nennt", wie Marion Gräfin Dönhoff 1962 paradigmatisch ihre Erinnerungen an Ostpreußen überschrieb.
    Das Gefühl, dass mit der eigenen Existenz etwas nicht stimmt, beschäftigte Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, nach eigenen Angaben schon in der Kindheit. Ihr Vater war im Januar 1945 als Halbwüchsiger aus Schlesien geflohen. Da ihm Vertriebenenverbände suspekt gewesen seien, habe er sich mit anderen Landsleuten ins sogenannte unsichtbare Wohnzimmer zurückgezogen. Dort lauschte die Tochter einer unbekannten östlichen Mundart und versuchte sich vorzustellen, wie ein angeblich untergegangenes Land aussehen könnte. So reifte über Jahrzehnte der Plan zu Ulrike Draesners wohl persönlichstem Buch.
    "Da gab es dann Streuselkuchen zu essen, und die sprachen ja alle mit so einem östlichen Singsang, den ich sehr liebte, und das hörte ich jahrelang immer wieder, das ist das unsichtbare Wohnzimmer, weil nach außen, also jenseits der Wohnung, gab es diesen Raum nicht, darüber wurde nicht gesprochen, auch mit dem bayerischen Teil der Verwandtschaft. Das war so undenkbar, dass da jemand Zugang dazu gehabt hätte, und aus diesem Raum, aus diesem Stimmenfeld und aus diesem, es ist auch ein Verletzungsraum, da entsteht für mich, glaube ich, das ganze Thema, auch eine Prägung natürlich meiner Person, und auch, ja, diese schlesischen Worte, die es da gibt, das sind wirklich Klänge, aufgegriffene Klänge, daraus heraus entwickelte sich das Projekt, und dann ist es ja sozusagen ein Stückchen weit, das die Form dieses Buches angenommen hat, aber durch die Website und den Blog geht es wieder zurück in einen (…) halb oralen Raum, in dem sich ja Schriftlichkeit und Mündlichkeit dann noch mal anders mischen."
    Leiden unter einer Phantombelastung
    Sieben Personen suchen einen Ort, könnte man die Anlage dieses überbordenden, vier Generationen umfassenden Geschichtspanoramas beschreiben. Im Zentrum stehen die 52-jährige Verhaltensforscherin Simone Grolmann und deren knapp 83-jähriger Vater Eustachius, genannt Stach oder Stächelchen, auch er - selbstredend - habilitierter Zoologe und eine nach wie vor aktive Koryphäe der Primatenforschung. Diese Vater-Tochter-Konstellation (die bayerische Mutter spielt keine Rolle) erinnert an die im Leipziger Zoo angesiedelte ARD-Serie "Tierärztin Dr. Mertens", in der die sympathische Titelfigur bei kniffligen medizinischen Fällen stets ihren Vater, den pensionierten Zoodirektor, konsultiert. Eustachius‘, des "Affenprofessors" wahrer Liebling aber ist seine Enkelin Esther. Auch bei ihr handelt es sich um eine Überfliegerin, die beim Anblick eines Seidenreihers diesen sofort vor ihrem inneren Auge mit der Abbildung in Wikipedia abgleicht.
    Simone kam genau siebzehn Jahre nach jener verschneiten Januarnacht zur Welt, als sich Eustachius mit seiner Mutter Lilly und dem geistig behinderten Bruder Emil auf den Weg nach Westen machte. Emil, der immer die schwarzen SS-Uniformen bestaunt hatte und bereits als Euthanasie-Opfer begutachtet worden war, kam auf der Flucht zu Tode. Die näheren Umstände haben sich seitdem als drückendes Geheimnis über Eustachius und seine Nachkommen gelegt. Simone, sonst so couragiert, hat eine unerfindliche Angst vor Schnee. Sie leidet offenbar unter einem Trauma aus zweiter Hand, einer Phantombelastung - genau in dem Maße, wie Eustachius‘ Erfahrungen mit Menschen ihn die Gesellschaft von Schimpansen und Schildkröten suchen ließen.
    "Er ist jemand, der eben als 14 ½-jähriger die Situation der Flucht erlebt, in der Familiensituation, in der er flieht, besonders angespannt, weil sein älterer, behinderter Bruder dabei ist, der nicht laufen kann, und eigentlich auch eine völlig überforderte, von der Situation überforderte Mutter, sodass plötzlich auf ihn, das Halbkind, Verantwortung zukommt. Er muss der Erwachsene sein, etwas, was sehr viele, ja, Jugendliche, auch Kinder noch, erlebt haben in dieser Situation. (…) Er erlebt den Tod des Bruders auf der Flucht, er sieht Szenen, wie die SS auf Flüchtlinge einschlägt, sieht vielleicht noch das eine und andere, worüber er eben nicht sprechen kann. Was er mitnimmt, ist eine tiefe Angst vor den Menschen, vor anderen Menschen, und zugleich natürlich auch so ein Drang, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen, er kann es aber nicht auf direkte Weise tun, und seine Menschenaffenforschung ist für ihn eine Art Ventil, also ein Flucht- und Vertreibungsschaden, ein Effekt der Traumatisierung. Er beschäftigt sich dann mit Menschenaffen, um an ihnen eigentlich der Frage nachzugehen, warum sind Menschen aggressiv, warum töten Menschen Menschen."
    Da drunter ist es leer
    Die Autorin wählt das Stilmittel der lyrischen Verknappung, um darzustellen, wie Kriegs- und Gewalterlebnisse generationenübergreifend weiterwirken. Auf der Gegenwartsebene des Romans übertreibt sie damit allerdings gehörig. Das mit Espressomaschinen im Wert von 1.700 Euro ausgerüstete Leben der Erfolgsmenschen Simone & Co. erscheint als einzige Hyperbel. Das enerviert und wirkt unfreiwillig komisch. "Sie machten sich wahnsinnig Mühe", heißt es einmal symptomatisch. Die Autorin verteidigt ihre Protagonistin Simone:
    "Da agiert jemand auf einem scheinbar festen Boden, der ist aber nicht fest, da drunter ist es leer. Und das führt zu so hyperaktiven Auswüchsen, ja, ich funktioniere, ich muss mich auch immer noch beweisen, das ist ein Stück Erbe. Die Unselbstverständlichkeit des Daseins ist das, was sie eigentlich antreibt. (…) Das war übrigens auch das, was ich in Polen bei dieser zweiten Generation aus den 60er Jahren, was ich da auch traf, dieses Gefühl, dass irgendwas mit Deiner eigenen Existenz nicht stimmt. Vermittelt durch die eigenen Eltern und die Großeltern, die sich sozusagen immer noch zurücksehnen an diesen alten Ort, der vielleicht Heimat genannt wird, nicht unbedingt, wo dann irgendwann einem dämmert: Meine Güte, wenn die nicht vertrieben worden wären, es gäb‘ Dich gar nicht. Und diese Menschen vermitteln Dir ein melancholisches Gefühl davon, dass sie leben am falschen Ort. Und wie kann aber dieser Ort – Du bist dort geboren, Du liebst diesen Ort, und Deine nächsten Verwandten, die Du liebst, sagen Dir, das ist falsch, das zerreißt einen fast. Da entsteht sozusagen ein Moment Nichtverwurzelung, Entwurzelung, nicht da sein, nicht selbstverständlich leben dürfen, und dagegen agiert sie an."
    Den sieben Hauptpersonen - darunter der polnische Psychologe Boris - sind Schmuckzeichen aus der Affensprache Yerkish zugeordnet. So steht das Zeichen für "mouth" für Simone, "hand" für Eustachius oder "chase", Jagd, für dessen Vater Hannes, den schlesischen Bankdirektor und Teilnehmer an zwei Weltkriegen. Der Roman blendet weit in seine Kindheit zurück, wobei einzelne Grausamkeit wie die Misshandlung eines Vogels wie Leuchtbojen hervorstechen, als unheimliche Vorausdeutungen einer alles mit sich reißenden Gewalt.
    Ein topografisches Laufgefühl
    Hannes‘ innere Monologe sind die interessantesten, da historisch am stärksten unterfütterten. Ulrike Draesner hat intensiv vor Ort in Breslau/Wrocław recherchiert, so lange, bis sie nach eigener Aussage ein topografisches "Laufgefühl" entwickelt hatte. Als modern, klar und stolz beschreibt Hannes seine Heimatstadt, einst eine Spielwiese modernistischer Architekten wie Hans Poelzig oder Max Berg, der dort 1911 die Jahrhunderthalle mit ihrer riesigen, frei tragenden Kuppel konzipierte.
    Wie thematisiert man als Vertreterin der Enkelgeneration Trauer und Schmerz über den Verlust eines deutschen Kulturraums, ohne sich dem Revanchismus-Verdacht auszusetzen? Ulrike Draesner hat für dieses politische wie ästhetische Kernproblem ihres Buches eine plausible Lösung gefunden: Sie kontrastiert das Schicksal ihrer deutschen Vertriebenen mit dem einer ostpolnischen Familie, die nach der von Stalin dekretierten Westverschiebung des polnischen Staatsgebietes 1945 nach Breslau zwangsumgesiedelt wurde.
    "In Polen hat man angefangen vor gut zehn Jahren, dieses Kapitel der eigenen Geschichte noch einmal ganz anders anzugehen und aufzuarbeiten. Es befindet sich in Breslau ein Zentrum, gegründet für Erinnerung und Zukunft (…) das hat seine Tore noch nicht geöffnet, aber ich bekam Zugang zu den Archivmaterialien, also es ist eigentlich Oral History, die da betrieben wird, Zeitzeugen-Interviews. (…) Man war bereit, sich mit mir zu treffen, man wollte sich das erstmal angucken, was ist das für ein Projekt, und nach einer Weile sprach man mit mir auch, ich hatte den Eindruck, sehr offen, auch in dem Bewusstsein, wie wichtig das Thema ist, weil es wirklich ein nachbarschaftliches und ein europäisches Thema auch ist und weil es uns auf eine Art und Weise auch noch mal verbindet, (…) die wichtig ist, die wertvoll sein könnte, und wir sehr ähnliche Probleme vielleicht auch haben, damit umzugehen, vielleicht können wir da auch wirklich über dieses Thema näher aneinanderrücken, das wäre eine Hoffnung, auf die ich auf der anderen Seite stieß, die ich selbst auch habe. Insofern war das auch noch mal wirklich sehr bewegend."
    Als die junge Halka aus dem heute ukrainischen Lemberg in Breslau eintrifft, findet sie dort eine - wie es heißt - postdeutsche Trümmerwelt vor, einschließlich postdeutscher Oper und postdeutschem Schwimmbad. Diese deskriptiv-sinnlichen Passagen wirken höchst überzeugend, bis hin zum Aschegeruch der zurückgelassenen Wäsche. Jahrzehnte später wird Simone mit Halkas Sohn Boris ein Verhältnis beginnen. "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen", wird sich Ulrike Draesner mit Goethe beim Verfassen ihres ambitionierten Romans gedacht haben. Das gelingt ihm trotz Einwänden in der Tat - vor allem aber feiert er den Geist und die wiederauferstandene Schönheit von Breslau alias Wrocław.
    Ulrike Draesner: "Sieben Sprünge vom Rand der Welt", Roman, Luchterhand Literaturverlag, München 2014, 560 Seiten, 21,99 Euro