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Romanian Radio Symphony Orchestra
Holocaust bekommt Raum bei Anatol Vieru

Anatol Vieru ist wie viele Rumänen auf dem mitteleuropäischen Musikmarkt so gut wie gar nicht präsent. Zu Unrecht, denn seine kompositorische Sprache wirkt spannend, sinnlich, unabgenutzt. Nun ist eine CD mit Orchestermusik von Anatol Vieru erschienen. Und gibt auch Lebenserfahrung des jüdischen Komponisten wider.

Von Frank Kämpfer |
    Ein Dirigent steht mit einem Taktstock vor seinem Pult und schaut in die Notenblätter
    Anatol Vieru (1926-1998) gehörte zu den Komponisten jener Generation der Bukarester Neuen Musik, die der Ceausescu Diktatur widerstand. (imago/suedraumfoto)
    Sinfonie Nr. 6
    3. Satz "San Antonio de la Florida"
    Take 03
    Die Glocken verraten den Ort: Ein In-sich-Kreisen hebt an, psalmodierende Bläsermusik, dazu – verfratzt – Marschartiges. Die Gemengelage scheint nebulös. Unzweifelhaft: Wir sind an einem Ort, wo das Leben pulsiert. Madrid. Der klingend intendierte Sakralbau gibt der Musik ihren Namen: San Antonio de la Florida. Doch es geht hier nicht um Verehrung, nicht um Religion, nicht um Programmmusik. In einer diesem Heiligen gewidmeten katholischen Kirche inmitten der spanischen Hauptstadt hat Anatol Vieru vielleicht Glocken und Bläser gehört, vor allem jedoch Francisco de Goyas berühmtes "Wunder des heiligen Antonius" gesehen. 1987, ein Jahr, bevor er mit einer neuen sinfonischen Arbeit anfing. – Was Vieru bei Goya als Generalthema sofort erkannte, war der Konflikt zwischen der Masse und dem Einzelnen, dem Individuum. In Vierus Musik schlägt er sich nieder in Unvereinbarem, das zeitgleich präsent ist, und sich nicht ineinander auflösen wird. Der Einzelne, so beider Vision, halte dem Druck der Menge der Mitläufer womöglich doch stand.
    Sinfonie Nr. 6
    3. Satz "San Antonio de la Florida"
    Take 03
    Anatol Vierus Sinfonie Nr. 6 entstand 1988/89. In einer Endzeit, deren Atem der Komponist deutlich verspürte und seiner Musik höchst intensiv einschrieb. Ein-dringlichkeit ist grundsätzlich ein Maß für Vierus Komponieren, das keiner ästhetischen Marke oder Mode entsprach und in jedem Werk anders sein konnte. In den vier Sätzen seiner monumentalen Sinfonie Nr.6 tritt das Heterogene deutlich zutage. Jeder Satz ein eigenes sinfonisches Werk. Immense Fliehkräfte, so scheint es, halten das Ganze zusammen. Der zweite Satz gibt der Sinfonie ihren Namen: Exodus. Ein Sog entfaltet sich darin, der alles in sich hineinreißt, oder durch den alles hinaus geschleudert wird. Das Rundfunk-Sinfonieorchesters Bukarest unter der Leitung von Horia Andreescu, einem ausgewiesenen Neue Musik-Spezialisten, musiziert konzentriert und beredt:
    Sinfonie Nr. 6
    2. Satz "Exodus"
    Take 02
    Keineswegs ist Anatol Vierus Sinfonie Nr. 6 "Exodus" eine Programmmusik für den politischen Umsturz, für das Fiasko des Ostblocks oder das dramatische Ende Nicolae und Elena Ceaușescus. Die Jahreszahl markiert vielmehr das Ende eines ungestümen Jahrhunderts, welches das allgemeine Leben beschleunigte, den Menschen als solchen entwurzelte, heimatlos, unbehaust machte. Und an dessen Ende zwingend ein nächster Neuaufbruch stand. Exodus verweist gleichwohl auf Alttestamentarisches. Der Auszug der Israeliten aus Ägypten im Zweiten Buch Mose markiert den Aufbruch aus Unterwerfung und Sklaverei. Vieru, selbst jüdischer Herkunft, komponierte mitnichten Erlösung, Befriedung. Am Ende des monumentalen zweiten Satzes Exodus folgt erneut eine Eruption.
    Sinfonie Nr. 6
    2. Satz "Exodus"
    Take 02
    In seiner Musik – so notiert Bookletautor und Herausgeber Thomas Beimel – "in seiner Musik gibt Anatol Vieru die vertraute Haltung symphonischer Musik, in der eine Menge instrumentaler Stimmen zu einer einheitlichen Geste zusammen geführt werden, zugunsten einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit auf." Gemeint ist damit: Die Musiker agieren zwar zeitgleich, an einem Ort, in einem klingenden Raum und Prozess – sie artikulieren aber nicht mehr nur eine einzige, gemeinsam vorgetragene Idee. Eine für Vieru grundsätzliche Frage ist auf diese Art formuliert: Gibt es in der Gegenwart noch eine ideologische Basis oder Motivation, die Menschen befähigt, als solidarische Gemeinschaft zu handeln?
    Im finalen Satz seiner Sinfonie Nr. 6 sind die Spannungen abgeklungen. "Pale" ist dieser 4. Satz überschrieben – deutsch: fale Sonne. Erleichterung artikuliert sich, aber keine Katharsis. "Einen Schatten der Hoffnung" hat der Komponist dieses Finale genannt. Zuweilen vermag man Vogelstimmen darin zu hören, belebte Natur – zugleich drängt sich eine Assoziation zu Charles Ives' "The Unanswered Question" auf. Zu jener berühmten Orchesterminiatur von 1908, die grundlegende Fragen des Daseins anspricht, die ohne Antworten bleiben.
    Sinfonie Nr. 6
    4. Satz "Pale"
    Take 04
    Anatol Vieru wurde 1926 in Jassy geboren, als Jugendlicher überlebte er dort 1941 das Massaker gegen die jüdische Bevölkerung, bei dem 13.000 Menschen starben. Zu seiner eigenen jüdischen Herkunft hat Vieru sich zeitlebens verbal nie geäußert. Das überrascht wenig, war doch die rumänische Beteiligung am Holocaust lange Zeit ein Tabu. Erst jetzt ist ihre Leugnung im Lande selbst unter Strafe gestellt.
    In Vierus Oeuvre gibt es das Thema Holocaust auch nur ein einziges Mal: in "Memorial" für Kammerorchester – 1991 in Israel uraufgeführt. Auf der CD findet sich die Orchestermusik als Gegenstück zur einstündigen Sinfonie – und zwar formal wie musikalisch. "Memorial" ist einsätzig und dauert nur siebzehn Minuten. Kompositionstechnisch basiert diese Arbeit auf modalen Skalen, wie sie in Volksmusik oder orthodoxer Tradition in Südosteuropa bis heute gegenwärtig sind. Auch in dieser Komposition thematisiert Anatol Vieru das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft – solistische Bläser, die quer zum Streichorchester agieren, verdeutlichen das unüberhörbar. Wenn sich beide gegensätzlich entfalten – Bläser und Streicher –, so geschieht es hier doch auf eine stets aufeinander bezogene Weise – bis es in den chromatischen und mikrotonalen Tiefen zu Verschmelzungen kommt. Ein Sinnbild für die Koexistenz divergierender Seinsformen möglicherweise – eine also mit musikalischen Mitteln angedeutete Utopie. – Hier ein Hineinhören etwa in der Mitte des Stücks.
    Memorial
    Take 05
    Anatol Vieru – Memorial. Sie hörten eine Aufnahme mit dem Rumänischen Rundfunk Kammerorchester unter der Leitung von Ludovic Bács. Beide Werke, also auch die Sinfonie Nr. 6 wurden in den 1990er-Jahren bei Radio Romana aufgezeichnet – klangschön, musikalisch wie technisch in hoher Qualität. Hier bei Troubadisc sind sie erstmals auf CD erschienen. Nach einer Porträt-CD mit Werken von Myriam Marbe und einer CD mit Streichermusik ist dies die dritte CD des Münchner Labels mit rumänischer Neuer Musik. Es ist an der Zeit, dass diese auch in deutschen Konzertprogrammen gespielt und gehört werden kann.
    Anatol Vieru
    Geboren 1926 in Jassy im Nordosten Rumänien, gehörte er zu jener Generation der Bukarester Neuen Musik, die der Ceausescu Diktatur widerstand und in den 1970er- und 1980er-Jahren künstlerisch bemerkenswerte eigene Wege einschlug.
    Romanian Radio Symphony Orchestra
    Ltg. Horia Andreescu
    CD Troubadisc TRO-CD 01446
    LC 06206