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Ronald Dworkin
Plädoyer gegen religiösen Fanatismus

Bis heute werden Glaubensgrundsätze für kriegerische Handlungen bemüht - wie unter anderem im Nahost-Konflikt. Und in den USA und in Europa geraten Gläubige und Nichtgläubige verbal aneinander. Das muss nicht sein, meinte der amerikanische Philosoph Ronald Dworkin, der kurz vor seinem Tod seine Gedanken über eine "Religion ohne Gott" entwickelte.

Von Tamara Tischendorf | 21.07.2014
    Der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin (1931-2013)
    "Religion ist etwas Tieferes als Gott", meinte der 2013 verstorbene amerikanische Philosoph Richard Dworkin. (picture alliance / dpa / Guido Montani)
    Die Gretchenfrage kann so harmlos daherkommen:
    "Denkst du viel darüber nach, wie es wohl im Himmel ist?"
    Das fragte der allererste Arbeitgeber den jungen Ronald Dworkin, als der gerade sein Jurastudium beendet hatte.
    "'Nein', sagte ich. 'Eigentlich nicht.' - Er sagte: 'Nun - ich bin alt und denke darüber nach. Wüsstest du gerne, wie es im Himmel ist?'"
    Reichlich trockener Martini, gutes Essen und Polo-Wettkämpfe – ein illustres Paradies malte sich Ronald Dworkins damaliger Chef aus. Am Ende seines Lebens holte den einflussreichen Rechtsphilosophen die Frage nach der Religion wieder ein. In seinem Buch gewordenen "Einstein-Lectures" behält Ronald Dworkin den für ihn typischen, gewitzten Plauderton bei. Die Antworten, die ein solches sokratisches Gespräch abwirft, fallen allerdings noch weitaus überraschender aus als bei seinem einstigen Vorgesetzten. Wie also hält es Dworkin mit der Religion?
    "Religion ist etwas Tieferes als Gott"
    "Religion ist etwas Tieferes als Gott – das ist das Thema dieses Buches. Religion ist eine sehr grundlegende, spezifische und umfassende Weltsicht, die besagt, dass ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt, dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat. Der Glaube an einen Gott ist nur eine der möglichen Manifestationen oder Konsequenzen dieser tieferen Weltsicht."
    So beschreibt Dworkin die Grundzüge dessen, was er "religiösen Atheismus" nennt. Sein Gewährsmann ist Albert Einstein. Obwohl der Physiker nicht an einen personalen Gott glaubte, begriff er sich selbst als einen durchaus "religiösen Menschen" und meinte damit seine Ehrfurcht vor den Wundern der Natur. Folgt man Dworkin, so kommen Gottlose wie Einstein und Gottgläubige in ihrer Haltung zur Moral und zur Welt auf einen gemeinsamen Nenner.
    "Sie stimmen (...) zu, dass es objektiv wichtig ist, wie man sein Leben führt, und denken, dass jeder Mensch von Haus aus eine unveräußerliche ethische Verantwortung hat, ein den Umständen entsprechend möglichst gutes Leben zu führen. Sie glauben auch, dass die Natur nicht nur eine Sache von irgendwelchen Teilchen ist, die über eine sehr lange Zeit hinweg irgendwie zusammengewürfelt wurden, sondern etwas intrinsisch Wunderbares und Schönes."
    Der Glaube an Werte verbindet demnach Theisten und religiöse Atheisten. Die müßige Frage, ob es Gott nun gibt oder nicht, darf dabei getrost offenbleiben. Das genau macht den bestechenden Charme dieser Konstruktion aus: Werte kommen ohne Rückgriff auf eine Gottesidee aus. Aber so sehr diese Gedankenfigur auch auf Ausgleich bedacht ist: Sie enthält gleich mehrere Zumutungen. Damit der Kunstgriff gelingt, die eigenständige Wirklichkeit von Werten zu behaupten, an der Gottgläubige und religiöse Atheisten gleichermaßen festhalten, führt Dworkin eine analytische Unterscheidung ein: Religionen bestünden aus einem wissenschaftlichen Teil und einem Werteteil.
    "Im wissenschaftlichen Teil werden Antworten auf wichtige Tatsachenfragen gegeben (...). Diese Antworten besagten, dass ein allmächtiger und allwissender Gott das Universum erschaffen hat, über die Leben der Menschen richtet, ein Leben nach dem Tod garantiert und auf Gebete reagiert."
    Von diesen Tatsachenbehauptungen setzt Dworkin den Wertebereich der konventionellen theistischen Religionen ab. Dort:
    "... findet sich ein ganzes Sortiment von Überzeugungen darüber, wie wir unser Leben gestalten und was wir wertschätzen sollten. Einige von ihnen sind direkt auf Gott bezogen (...). (Hierzu gehören gottesdienstliche Pflichten, Gebetsvorschriften und Gehorsam gegenüber dem Gott der jeweiligen Religion.) Daneben gibt es aber auch religiöse Wertvorstellungen, die (...) jedenfalls formell nicht vom Glauben an einen Gott abhängig sind."
    Überdehnung des Religions-Begrifffs
    Nur mit Blick auf diese Schnittmenge kann die theistisch-atheistische Ökumene gelingen. Das augenfälligste Problem an Dworkins Theorie ist, dass er mit seiner Idee einer Religion ohne Gott den Begriff der Religion völlig überdehnt. Aber der Philosoph hat vorgebaut. Religion sei eben ein "interpretativer Begriff." Das heißt:
    "Diejenigen, die ihn verwenden, sind darüber uneins, was genau er bedeutet; indem sie ihn verwenden, legen sie sich darauf fest, was er bedeuten sollte."
    Nur, wer diesem Sprachspiel folgt, wer das Staunen vor dem erhabenen Grand Canyon, vor einem großen Kunstwerk oder einer eleganten kosmologischen Theorie gleichermaßen als "religiöse Erfahrung" wertet, kann schließlich Dworkins entscheidenden Schritt mitmachen. Und der geht so: Eine wissenschaftliche Erklärung des Universums braucht keinen Gott. Denn ihre Plausibilität beziehen die physikalischen Theorien letztlich aus einem Netz von Annahmen, die sich gegenseitig stützen. Dworkins spezieller Dreh ist nun, den Geltungsanspruch moralischer Urteile ganz parallel herzuleiten.
    "Ein vernünftiges System moralischer Überzeugung verfügt über starke Integrität – über einen Zusammenhalt insofern, als jedes in ihm enthaltene persönliche oder politische Moralurteil alle anderen stützt - , und diese Integrität ist, wie im Fall der Mathematik, durch die begriffliche Wahrheit abgesichert, dass ein Werturteil nur durch ein anderes gestützt werden kann."
    Wer an die Menschenwürde glaubt, muss demnach zwingend auch gegen Folter sein. Im letzten Kapitel seines kompakten Buches spiegelt Dworkin seinen Grundgedanken zurück in die Welt des Rechts und der Politik. Auch hier kehrt er in origineller Weise vermeintlich selbstverständliche Annahmen um: Nicht die Religionsfreiheit will er als grundlegendes Menschenrecht verstanden wissen. Das viel fundamentalere Recht sei vielmehr das Recht auf ethische Selbstbestimmung. Für viele Fragen, die vor allem die öffentliche Debatte in den USA bestimmen, hat diese Wendung weitreichende Folgen. Ob es um die Homo-Ehe oder um Abtreibung geht, am Ende ist Dworkins gottfreie Moral liberal:
    "Das Grundrecht (...) ist die Idee, dass man eine ethische Verantwortung dafür trägt, seinen eigenen Standard für ein gelungenes Leben festzulegen. Das mag eine liberale Idee sein, aber das ist auch die Seele von wahrem Glauben."
    Mit seinem nachgelassenen Buch ist Ronald Dworkin ein bedenkenswertes Plädoyer gegen moralische Skepsis und religiösen Fanatismus gelungen. Selbst, wenn man den philosophischen Spagat in den ersten beiden Teilen nicht mitmachen mag: Die Anregung, über eine Neufassung der Menschrechte nachzudenken, lohnt die Lektüre allemal.
    Ronald Dworkin: Religion ohne Gott (Übersetzung: Eva Engels)
    Suhrkamp Verlag, 146 Seiten, 19,95 Euro
    ISBN: 978-3-518-58606-8