Sonntag, 28. April 2024

Archiv


Rudolf Heß - Der Mann an Hitlers Seite

Theißen: Biographische Neuerscheinungen stehen im Mittelpunkt unserer heutigen Revue politischer Literatur. Dabei geht es im einzelnen um Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß und um Leben und Sterben der Magda Goebbels. Wir stellen eine Biographie des Verlegers und Herausgebers der Weltbühne, Siegfried Jacobsohn, vor und gehen ein auf die Neuausgabe der Schostakowitsch-Biographie von Solomon Volkov.

Otto Köhler | 06.03.2000
    Theißen: Biographische Neuerscheinungen stehen im Mittelpunkt unserer heutigen Revue politischer Literatur. Dabei geht es im einzelnen um Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß und um Leben und Sterben der Magda Goebbels. Wir stellen eine Biographie des Verlegers und Herausgebers der Weltbühne, Siegfried Jacobsohn, vor und gehen ein auf die Neuausgabe der Schostakowitsch-Biographie von Solomon Volkov.

    "Was wird am Ende von Rudolf Heß in Erinnerung bleiben? Sicher sein langes Dasein hinter Gefängnismauern, doch wichtiger noch das Wissen um jene zwei Jahrzehnte, in denen Rudolf Heß als "treuester" unter den Gefolgsmännern Hitlers agierte, zuerst als ein Vorkämpfer gegen die Weimarer Republik, danach als Installateur einer blutigen Diktatur und schließlich als einer der Wegbereiter des Zweiten Weltkrieges. Beharrlich verfocht er eine folgenreiche nationalistische und imperialistische Politik. Mehr und hartnäckiger als andere hielt er am Vorrecht der "weißen Rasse" fest, den Rest der Welt zu beherrschen, entsprang doch die spektakuläre, sein Leben grundsätzlich verändernde Aktion vom Mai 1941 hauptsächlich der Bereitschaft, sich mit der Konkurrenz darüber zu verständigen, wer - unter deutscher Führung - über welchen Teil der Erde zu bestimmen habe. Großmachtversessene und friedensgefährdende Politik gehört noch immer nicht der Vergangenheit an, auch wenn sich die Methoden wandelten, mit denen solcher Herrschaftswille sich zu verwirklichen sucht. Vorläufig bleiben das Leben des Rudolf Heß und die Zeit, in der er an Hitlers Seite wirkte, daher denkwürdig."

    Theißen: So beenden Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker ihr biographisches Werk "Rudolf Heß: Der Mann an Hitlers Seite", das im Militzke Verlag, Leipzig, erschienen ist. Hören Sie die Rezension von Otto Köhler:

    Beitrag Otto Köhler

    Köhler: Treue zu seinem Führer Adolf Hitler bis in den selbstgewählten Tod, das war das hervorragende Charakteristikum von Rudolf Heß. Ein seit 1933 offiziell verbreitetes Foto zeigt Heß in SS-Uniform, der Uniform der Männer, die ihre Feuerprobe in den Verbrennungsöfen von Auschwitz fand. Und diese Treue empfinden auch heute Deutschlands Rechtsextremisten gegen über dem Stellvertreter des Führers: Der in Ägypten geborene und erst im 14. Lebensjahr nach Deutschland umgesiedelte Rudolf Heß ist nach seinem "Märtyrertod" im Spandauer Gefängnis zur Integrationsfigur für die nationalistischen Banden geworden, die in West- und in Ostdeutschland, in den "befreiten Gebieten", auf Ausländerjagd gehen. Erstaunlich aber ist, dass es neben Kolportageliteratur, Guido-Knopp-Erzeugnissen und einigen Monographien über seinen Englandflug bis heute keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie des Führer-Stellvertreters gab. Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker haben sie jetzt endlich geschrieben - das ostdeutsche Historikergespann, dem wir eine solide Hitler-Biographie, ein Buch über die NSDAP und ein Sammelwerk über die in Nürnberg gehenkten Hauptkriegsverbrecher verdanken.

    Rudolf Heß stammt aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, das sich allerdings zu Beginn des Ersten Weltkriegs als wahrhaft asoziales Milieu entpuppt. Er meldet sich gleich zu Kriegsbeginn freiwillig. Die Mutter schreibt ihm, sie würde, wäre sie nur ein Mann, auch gern kämpfen, und der Vater ermuntert ihn, auf seine Rechnung einen zusätzlichen Privatrevolver zu kaufen. Der wohlgeratene Sohn aber, der zunächst erst einmal hoffen musste, dass seine an der Front stehenden Kameraden fallen, damit er aus der Reserve an die Front nachrücken könne, dichtete dann glücklich im Felde die passende Revolverlyrik:

    "He, Franzmann, das ist der böse Morgengruß! Ihr müsst dort sterben, dass wir leben können, wir selbst und unser ganzes armes Volk."

    Köhler: So aufgewachsen, in diesem Milieu gutbürgerlicher Anständigkeit, gerät er nach dem vierjährigen Blutband, in dem er es zum Leutnant und zum Eisernen Kreuz, allerdings nur zweiter Klasse, bringt, in ein anderes asoziales Milieu, das der in Freicorps und Wehrverbänden vagabundierenden Militärs und der Münchner Professoren.

    Die anderen müssen sterben, damit wir leben können, das ist auch die Quintessenz jener Geopolitik, die der Student Rudolf Heß an der Münchner Universität hörte. Dass hier endlich einmal der ganze Umfang von Karl Haushofers Einfluss auf Heß und damit auf Hitler abgesteckt wird, gehört zu den wichtigsten Verdiensten dieser Biographie. Karl Haushofer, zunächst General, dann Universitätsprofessor in München, ist der eigentliche Begründer der Geopolitik in Deutschland - eine Lehre, die meint, dass alles politische Geschehen von den geographischen Gegebenheiten ausgehe. Über Haushofer gibt es allerhand apologetische Literatur - darunter ein allerdings sehr materialreicher und darum nützlicher Zweibänder von Hans-Adolf Jacobsen -, ja, seine wirren geopolitischen Ideen finden immer noch Anklang, und sein Einfluss auf Hitler wird von den meisten Biographen des NS-Führers als gering angesehen. Joachim Fest etwa widmet Haushofer in seinem 1.184-Seiten-Opus gerade mal einige Zeilen auf einer einzigen Seite. Doch Pätzold und Weißbecker konnten jetzt für ihre Heß-Biographie eine 240-Seiten-Studie des Jesuitenpaters Bruno Hipler auswerten, die 1996 nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit im EOS-Verlag der Erzabtei St. Ottilien erschien:

    "Hitlers Lehrmeister - Karl Haushofer als Vater der NS-Ideologie."

    Köhler: Es war General-Professor Haushofer, der Heß erst einmal klar machte, dass man nicht allein auf den Zusammenbruch der demokratischen Systeme warten und nach einem neuen Cäsar rufen dürfe. Man müsse den "Führer" wollen und aufrichtig zu letzter Treue ihm gegenüber bereit sein. Sie fanden, sie erfanden ihn in Adolf Hitler, der sich damals nur als "Trommler" und noch keineswegs als Führer der nationalsozialistischen Bewegung betrachtete. Hauptmann Karl Mayr, der Chef der Aufklärungsabteilung beim bayerischen Gruppenkommando der Reichswehr, für die Hitler ursprünglich als Spitzel tätig war, sah in Heß dessen "ersten und erfolgreichsten Mentor".

    "Vor jeder wichtigen Rede zog sich Heß mit Hitler zurück, manchmal gingen sie für mehrere Tage in Klausur. Dort gelang es Heß irgendwie, Hitler in jenen rasenden Zustand zu versetzen, in dem er sich dann an die Massen wandte."

    Köhler: Heß gehörte zu jenen, die Hitlers Rolle als alles entscheidender "Führer" der Partei durchsetzten, er half, wie die Autor unter Berufung auf Hipler feststellen,

    "Hitler zu schulen und ihn als Führerpersönlichkeit zu präsentieren."

    Köhler: Was den Erfinder Heß nicht hinderte, sein Produkt Hitler zu präsentieren als

    "Fleisch gewordene reine Vernunft."

    Köhler: In dieser Zeit aber begab es sich, dass an der Universität München ein ominöses Preisausschreiben veranstaltet wurde. Der Spender blieb anonym, der Rektor, der es vermittelt hatte, war ein enger Freund Haushofers. Thema:

    "Wie wird der Mann beschaffen sein, der Deutschland wieder zur Höhe führt?"

    Köhler: 60 Arbeiten wurden eingereicht. Haushofers Schüler Heß verfasste einen Text, der den Preis bekam und dann als Flugblatt in ganz München verbreitet wurde. Das Manuskript ist Ende 1922 geschrieben, doch Heß weiß natürlich, wen er meint, wem er dies auf den Leib geschrieben hat:

    "Als die römische Republik im Sumpfe zu ersticken drohte, kam Caesar. In unseren Tagen bewahrte Mussolini den morschen italienischen Staat vor dem Bolschewismus. Das Chaos der kranken Volksherrschaft gebiert den Diktator. So wird es auch in Deutschland kommen."

    Köhler: Der Mann, der Deutschland als Diktatur wieder aufwärts führe, sei voller heiliger Vaterlandsliebe. Er werde Deutschland wieder zur Vernunft bringen wie, ja "wie ein Arzt den Halbirren - wenn nötig mit brutaler Gewalt."

    Köhler: Dieser Mann der brutalnötigen Gewalt darf es nicht verabscheuen, die "Mittel des Gegners, Demagogie, Schlagworte, Straßenumzüge" zu benützen:

    "Er ist ein Meister der Journalistik. Bei seiner unendlichen Arbeitskraft erzieht er das Volk politisch und moralisch mit allen nur denkbaren Mitteln. Die gesamte entjudete Presse, Kino usw. sind dem Diktator untergeordnet."

    Köhler: Der kommende Diktator verwirklicht alle Rache-Phantasien:

    "Ein fürchterliches Strafgericht bricht herein über die Verräter an der Nation vor, während und nach dem Kriege. In jeder Richtung wird ganze Arbeit getan."

    Köhler: Und auch das ist sicher: Diesem Diktator, der "Blut vergießen" und selbst über seine nächsten Freunde "hinwegstampfen" darf, gebührt "blindvertrauende Ergebenheit".

    Köhler: Aber wann kommt er? Heiß scheinbar ahnungslos:

    "Noch wissen wir nicht, wann er rettend eingreift, der 'Mann'. Aber dass er kommt, fühlen Millionen."

    Köhler: Das von der Universität München preisgekrönte Pamphlet endet mit dem Ruf:

    "Deutschland erwache!"

    Köhler: Im darauf folgenden Jahr, beim Putsch vom 9. November, entführt Heß mit seinen Leuten Regierungsmitglieder und ein dickes Geldpaket - als alles gescheitert war, gibt ihm Haushofer mehrere Monate lang sicheren Unterschlupf. Das überaus milde Urteil gegen Hitler und seine Getreuen veranlasst Heß, sich zu stellen - er darf schließlich mit ihm die hochkomfortable Haft auf der Festung Landsberg teilen. Ein vom bayerischen Staat finanzierter hochehrenhafter Arbeitsurlaub. Seiner Braut schreibt Heß, er sei nun Hitler

    "ergeben mehr denn je! Ich liebe ihn!"

    Köhler: Zunächst macht er Protokolle von Gesprächen mit Hitler, notiert seine Ideen, dann hilft er ihm, den Plan eines autobiographisch-politischen Buches zu verwirklichen. Hitlers Titulierung:

    "Viereinhalb Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit!"

    Köhler: Heß macht aus dieser Umständlichkeit den Erfolgstitel "Mein Kampf", der in Millionen-Auflage erscheinen wird. Er hat mitgeholfen, das Buch zu schreiben. Und die Vernichtungsideologie des Lebensraums, die das Buch beherrscht, lieferte sein akademischer Karl Haushofer, der Hitler und Heß achtmal zu langen Gesprächen - insgesamt 22 Stunden - auf der Festung Landsberg besucht. Pätzold und Weißbecker:

    "Das Problem des zu erobernden 'Raumes' verknüpfte sich in der Ideologie der NSDAP-Führer von vorneherein auch mit der Frage, wie eines Tages mit jenen Menschen umzugehen sein würde, die in den zur Eroberung vorgesehenen und mit Deutschen zu besiedelnden Gebieten wohnten."

    Köhler: Die Fragen, die der sensationelle England-Flug des Führer-Stellvertreters kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion aufwirft, werden in drei Exkursen auch von je einem britischen, weißrussischen und US-amerikanischen Historiker behandelt, hier können wir nicht auch noch auf dieses spannende Kapitel eingehen, wir müssen nach Nürnberg zum Kriegsverbrecher-Prozess, wo Heß anfangs noch den Wahnsinnigen, der er im psychiatrischen Sinn wohl nie war, spielte, dann aber schnell Pläne für morgen zur Regierungsübernahme nach dem Intermezzo von Nürnberg machte. Das war gewiss nicht Wahnsinn, sondern Konsequenz eines von vielen als durchaus vernünftig angesehenen Gedankens, dass nun Westdeutsche und Westalliierte gemeinsam gegen den kommunistischen Feind bestehen müssten. Aber natürlich nicht - dies war der Irrtum von Heß - mit der verbrauchten und desavouierten Nazi-Mannschaft. Doch er sah sich in seiner Nürnberger Zelle als Führer auf Abruf. Das heißt, ob er das Recht hatte, sich ebenfalls Führer zu nennen, da bekam er Zweifel. Der Stellvertreter des Toten aber war er. So machte er sich Gedanken über den Platz der Juden im neuen deutschen Staat. Über die neu einzurichtenden Konzentrationslager sollte nunmehr die Flagge der Humanitas wehen:

    "Wenn Juden wünschen, bitten oder darum ersuchen, vor der Rache des deutschen Volkes verschont und darum in Schutzlager gebracht zu werden, ist dem nachzukommen. Auf diese Weise soll alles getan werden, um die Juden vor Gewalttaten zu schützen. Es liegt an ihnen, sich ihr Leben innerhalb der Lager nach ihrem Geschmack so angenehm wie möglich zu machen. Die Lebensbedingungen in den Lagern sollen so menschlich wie irgend möglich sein."

    Köhler: Natürlich musste die deutsche Öffentlichkeit geschützt werden vor einem Mann, dessen Wahlspruch bis zuletzt lautete:

    "Ich bereue nichts."

    Köhler: Nach einer Freilassung aus dem Spandauer Gefängnis wäre er sofort der Führer der deutschen Rechtsextremisten geworden - mit unabsehbaren Folgen. Trotzdem gab es eine breite Bewegung, diesen Mann freizulassen, der in Spandau einen komfortablen Lebensabend in ehrlich verdienter Unfreiheit verbrachte. Organisiert von seinem Sohn Wolf-Rüdiger, dem man das nicht verdenken kann. Aber auch von seinem Nürnberger Verteidiger Alfred Seidl, der Freund und Anhänger seines Mandanten geworden war. Die Autoren heben diese "besondere Aggressivität" hervor, mit der Seidl über seine normalen Aufgaben als Verteidiger in Nürnberg agierte:

    "Nicht nur, dass Seidl, was seiner Pflicht entsprach, seinen Mandanten vor dem Galgen zu retten suchte. Er stellte sich als der Prototyp jener alsbald zu Millionen hervortretenden Nachkriegsdeutschen dar, die keine Neigung zeigten, zu der von ihnen zumindest mitgestalteten Vergangenheit von Faschismus und Krieg eine kritische Distanz zu gewinnen."

    Köhler: Sie erkennen in Seidl einen frühen Vorläufer der gegenwärtigen Geschichtsrevisionisten, sein Plädoyer vor dem alliierten Kriegsverbrechertribunal leitete er ein mit einem Satz, den Hitler nicht besser hätte formulieren können, nämlich:

    "Als im Jahre 1918 die deutschen Armeen nach mehr als vierjährigem heldenhaften Kampf die Waffen niederlegten..."

    Köhler: Seidl trat danach der CSU bei, er wurde bayerischer Innen- und damit Verfassungsminister und setzte sich weiterhin über seine Verteidigerpflichten hinaus für Heß ein. Und er unterstützte 1987 den Sohn, der nach dem Selbstmord seines Vaters die Verschwörungstheorie verbreitete, Rudolf Heß sei Opfer eines Mordkomplottes geworden. Hier wäre es schon erhellend gewesen, wenn die beiden Autoren dieses ansonsten so beziehungsvollen Buches darauf hingewiesen hätten - sie taten es nicht -, dass Seidl als oberster Chef des bayerischen Verfassungsschutzes, übrigens ebenso wie der Chef des Bundesnachrichtendienstes Reinhard Gehlen und der bayerische CSU-Kultusminister und Grundgesetzkommentator Theodor Maunz zu den Spezis des Münchner DVU-Chefs Gerhard Frey gehörte. Die Hilfeleistungen dieser drei Männer, ihre freundschaftlichen Briefe an den Extremistenführer, wurden nach ihrem Tod in dessen "Nationalzeitung" offenbart.

    Eine notwendige Fußnote. Das Buch enthält selbstverständlich ein Namensregister und umfangreiche Anmerkungen. Doch ein selbständiges Literaturverzeichnis fehlt wie bei allen Publikationen der Autoren, die im Militzke-Verlag erschienen sind. Das ist ein Übel, das sich in der wissenschaftlichen Literatur immer breiter macht und das die Arbeit der Benutzer ungemein erschwert. Vielleicht sollten sich die Rezensenten wissenschaftliche Literatur, bei der an einem solch unentbehrlichen Instrument gespart wird, in einem gemeinsamen Boykott-Aufruf dazu entschließen, derartige Bücher, mögen sie noch so wichtig und wertvoll sein, einfach nicht mehr zu besprechen.

    Theißen: Otto Köhler über Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker: "Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite". Der Band ist im Leipziger Militzke Verlag erschienen, umfasst 544 Seiten und kostet DM 58,--.