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Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens

Bisweilen machen vor allem die Worte Gehalt und Gestalt eines Lebens aus. Rigoros nimmt der Zauber der Sprache eine Biographie in Beschlag und drängt sie in eine dann wie vorbestimmt scheinende Richtung. "Les mots", "Die Worte", hatte etwa Jean Paul Sartre den autobiographischen Abriss seiner jungen Jahre genannt und so angedeutet, wo die wesentlichsten Impulse zu seinem späteren Schaffen lagen. Insofern hatte die französische Philosophin Anne Dufourmantelle einen überaus passenden Einfall, als sie sich entschloss, das Leben des italienischen Theoretikers, Viellesers und Aktivisten der italienischen Linken, Antonio Negri, nicht historisch oder thematisch, sondern anhand alphabetisch geordneter Stichworte zu ordnen, ihrem Interviewpartner Parolen, Begriffe, Lautbilder zuzuspielen, die dieser dann kommentiert und so einen lockeren Eindruck von den großen Themen seines Lebens gibt.

Kersten Knipp | 22.09.2003
    Indes war und ist Negris Leben so bewegt, dass es sich anhand von nur 26 Stichworten kaum erzählen lässt und darum oft nach mehr als bloß einem Stichwort pro Buchstaben verlangt. "Angriff", "Attentat", "Aktion" lauten etwa die ersten Begriffe, und sie geben Anlass, zurückzuschauen auf die jüngeren Jahre dieses Lebens, die politische Radikalisierung weit vor dem Zauberjahr ´68, auf die Kontakte zu den "Roten Brigaden" in den frühen 70ern, die subversiven Schriften dann, die ihn im April 1979 im Rahmen einer Massenverhaftung ins Gefängnis brachten. Ein Gericht verurteilte Negri zu 17 Jahren Haft, doch weil er dann als Abgeordneter der "Radikalen Partei" ins italienische Parlament gewählt wurde, konnte er das Gefängnis nach vier Jahren verlassen. Dann aber entzündete sich im Parlament eine Debatte darüber, ob man Negri die parlamentarische Immunität entziehen sollte. Man sollte, entschieden die Abgeordneten mit knapper Mehrheit. Doch der drohenden Haft entzog sich Negri durch Flucht nach Frankreich, von wo er 1997 aus freien Stücken nach Italien zurückkehrte – und sich umgehend wieder im Gefängnis fand, seine Strafe seit Mai 2002 allerdings zu Hause absitzen darf.

    Negris Erläuterungen bieten einen anschaulichen Eindruck von der politisch gereizten Stimmung im Italien zur Zeit des Kalten Krieges: Italien, so Negri, war damals, Zitat, "ein Frontstaat des Westens mit einer kommunistischen Partei und einer Linken, die bei den Wahlen 35 Prozent erreichte und mit einer völlig unkontrollierbaren Dynamik." Was das heißt, kann man sich vorstellen: Jede politische Auseinandersetzung erschien den Beteiligten als ein Kampf ums Ganze, wurde hochgespielt zum Richtungskampf zwischen den beiden konkurrierenden Systemen Kapitalismus und Kommunismus.

    Der politische Radikalismus stieg in jener Zeit, und so kam es bald zum blutigen Schlagabtausch zwischen dem Staat und seinen Gegnern. Allein 1978, dem schlimmsten Jahr des Konflikts, verzeichnete man knapp 2400 Attentate in Italien. Die "Roten Brigaden" entführten und töteten Aldo Moro, im Gegenzug verhaftete der Staat über 6000 tatsächliche oder bloß vermeintliche Terroristen, die teilweise über Jahre auf ihren Prozess warteten; und auf einer Kundgebung der Linken im Frühjahr 1977 in Bologna starben mehrere Demonstranten im Kugelhagel der Polizei.

    Doch der Staat war nach Negri keineswegs der Hüter der bedrohten Ordnung. Vielmehr, so der Philosoph, war er der Hauptverantwortliche für den Beginn und die Radikalisierung der politischen Gewalt. Denn im Dezember 1969 explodierte mitten in Bologna eine Bombe, die 16 Menschen tötete und knapp hundert verletzte. Hinter dem Attentat, so Negri unter Berufung auf die gerichtlichen Untersuchungsergebnisse, standen italienische und amerikanische Geheimdienstkreise. "Der Terrorismus", so Negri wörtlich, "begann mit dem Staatsterrorismus." Dessen Ziel: Einschüchterung der eigenen Bevölkerung, um sie so von aller Militanz abzuhalten.

    Vom bewaffneten Kampf der Linken hat sich Negri – der nach eigener Aussage selbst niemals Gewalt gegen Personen anwandte -, Ende der 70er Jahre öffentlich distanziert. Ohne dass ihn dies mit dem Staat versöhnt hätte – was der Philosoph auch gar nicht beabsichtigte – hat ihn dieser Schritt die Sympathie zahlreicher Glaubensgenossen gekostet. Noch heute ist Negri in Italien bei vielen als "cattivo maestro", als "Rattenfänger", verschrien, immer noch muss er gelegentlich Schmähartikel in der Presse ertragen.

    Welche politischen Schlüsse für die Gegenwart Negri aus seiner Vergangenheit gezogen hat, auch darüber informiert das Buch. Insofern eignet es sich als Zusammenfassung seines gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftler Michael Hardt geschriebenen Buchs "Empire" das sich in den letzten Jahren ganz unerwartet zu einem internationalen bestseller entwickelte. Doch leider lassen wie dort, auch hier Negris Ausführungen zur politischen Konstellation der globalisierten Gesellschaft den Leser mit deutlich mehr Fragen als Antworten zurück.

    Sicher, die Diagnose trifft zu: Die Welt lässt sich als "Empire", als "Imperium", "Reich", bezeichnen, verstanden im Sinne einer, Zitat, "Verschiebung der Souveränität von den Nationalstaaten zu einer über die Nationalstaaten hinausgehenden Ordnung." Allerdings, warnt Negri, darf man sich das "Empire" darum noch lange nicht als über die gesamte Welt ausgedehnten Nationalstaat vorstellen. Vielmehr wird das "Empire", verstanden als über den ganzen Globus sich legendes kapitalistisches System, angeführt von einer "monarchischen" Macht, den Vereinigten Staaten, denen dann eine "aristokratische" Macht folgt, nämlich die multinationalen Konzerne und, ihnen bereits untergeordnet, die Nationalstaaten. Wie zerbrechlich dieses "Empire" ist, lässt sich derzeit vor allem in Nah- und Fernost beobachten. Stabil erscheint es indes nur in seinen Missständen, vor allem der ungleichen Verteilung des Wohlstands. Angesichts dieses Zustands fordert Negri vor allem dreierlei: die Globalisierung der Weltbürgerrechte – worunter er auch die uneingeschränkte globale Bewegungsfreiheit für alle versteht –, das Recht auf einen sozialen Lohn im Sinne eines garantierten Einkommens und schließlich, Zitat, "die Anerkennung der Tatsache, dass die Produktion der multitude, der Menge, gehört."

    Mit seinen Forderungen nach einer gerechten Verteilung des Wohlstands hat Negri sicher recht. Denn der ist ja ungerecht verteilt, sowohl, was das globale Nord-Süd-Gefälle, als auch, was die sich spreizende Gehaltsschere innerhalb der entwickelten Gesellschaft angeht, in denen die exorbitanten Spitzengehälter mancher Manager die Grenze zum Obszönen längst überschritten haben. Die entscheidende Frage allerdings, wie es um die Verwirklichung seiner Forderungen steht, verrät Negri seinen Lesern nicht.

    Recht vage bleiben die Hoffnungen, die er auf die multitude , die Menge, die ungeheure Masse von Individuen setzt, deren unüberschaubare Kreativität - auch im politischen Handeln - sich der Kontrolle des Empire eines Tages entziehen könnte. "Die Menge", schwärmt Negri, sei, Zitat, "eine irreduzible Vielfalt, eine unendliche Quantität von Potenzen, ein differenziertes Ganzes in einer unbeschränkten Differenzierung." Gegenüber solchen, in bestem poststrukturalistischen Jargon verfassten Sätzen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Sprache den Denker mit ihrem Klang verzaubert und aus der Realität zumindest ein Stück weit entführt hat. Anzeichen dafür nämlich, dass diese irreduzible Vielfalt sich eines Tages von den zentralen Mächten des Empires nicht mehr vertreten lassen wollte, sieht Negri an einem doch sehr zweifelhaften Punkt: im Protest der Globalisierungsgegner, wie er etwa in Genua und Seattle zu Tage trat. Ob Negri das im Ernst meint: Einige tausend Demonstranten, angeführt bisweilen von den dumpfen Schlägern des "Schwarzen Blocks", wie die militanteste Gruppierung der Globalisierungskritiker heißt, als Anfang des globalen Aufstands?

    Überhaupt scheinen viele von Negris Ausführungen überaus fragwürdig. So etwa, wenn er als Antrieb der Veränderung ausgerechnet die Armut preist, verstanden als das ungeheure Vermögen, Reichtum zu produzieren. Ärgerlich nur, dass dieses Vermögen sich bislang noch ganz unverbindlich im Konjunktiv, im bloß Möglichen aufhält. Es mag ja sein, dass die Armen, zu denen Negri auch die europäischen Armen und die Masse der derzeit gerade Verarmenden zählt, sich eines Tages erheben. Vorerst allerdings interessieren sich zumindest die noch nicht ganz so Armen überwiegend für den Bestandsschutz: den sozialen Klassenerhalt, den sie am besten in den klassischen Einrichtungen des Empire – Aktien, Pfandbriefe, Sparbuch –aufgehoben sehen. Doch vielleicht schmilzt dieses Vertrauen ja eines Tages dahin. "Vorstellbar", meint Negri "ist alles Mögliche." Das aber ist eben so zutreffend wie nichtssagend formuliert. Viel weiter hilft es nicht. Negris Anliegen ist durch und durch berechtigt. Wie es Wirklichkeit wird, bleibt sein Geheimnis.