Das Gespräch bezieht sich auf folgendes "Dokument der Woche": Dokument der Woche, 19.12.1989 - Hintergrund Politik - Die Kanzlerreise nach Dresden
Doris Simon: Der November und der Dezember 1989, das war eine Zeit, wo jeden Tag sich etwas veränderte, jeden Tag etwas Neues passierte, man das kaum noch verarbeiten konnte, was sich in der DDR und auch im Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten bewegte, im Kleinen wie im großen Politischen. Und der 19. Dezember 1989, fünf Tage vor Heiligabend, das war so ein Tag, wo sich die Aktion vor allem erst mal auf der großen politischen Bühne abspielte. An diesem Tag nämlich reiste der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nach Dresden, um dort Hans Modrow zu treffen, der aus Dresden kam. Das war das erste persönliche Treffen dieser beiden Männer. Und das Ziel war ganz klar formuliert: Es sollte geredet werden über eine mögliche Vertragsgemeinschaft beider deutscher Staaten. Das war für die Zeit etwas wirklich Revolutionäres, ein herausragender Tag in Dresden, und das hieß natürlich, dass auch der Deutschlandfunk in Dresden dabei sein musste. Neben den Journalisten-Kollegen war mit dem Übertragungswagen nach Dresden gefahren mein Kollege Rüdiger Paul, damals als Techniker. Herr Paul, das war ja für Sie das erste Mal, nach Sachsen zu fahren, in eine Gegend, wo sehr viele auch kein Westfernsehen hatten sehen können aufgrund technischer Beschränkungen, wo man aber zum Teil sehr gut den Deutschlandfunk empfangen hat. Wie fühlten Sie sich denn da aufgenommen, als Sie ankamen mit dem blauen Wagen mit der Aufschrift „Deutschlandfunk" und da ausstiegen und Leute trafen?
Rüdiger Paul: Beeindruckend, absolut beeindruckend. Als wir in die Stadt einfuhren - ich bin im Übertragungswagen mitgefahren, weil man den Fahrer-Kollegen nicht alleine fahren lassen wollte: Wir wurden angehalten, es wurde zugewunken. An einer Ampel standen wir etwas länger, an einer großen Kreuzung. Da wurden uns Blumen unter den Scheibenwischer gesteckt. Das sind Bilder, die man einfach nicht vergisst.
Simon: War das in Sachsen damals - Sie hatten ja doch schon einige Wochen seit der Maueröffnung hinter sich in anderen Gegenden der damaligen DDR -, hat sich das irgendwie unterschieden?
Paul: Ja, es hat sich unterschieden. Wir sind überall in der damaligen DDR unheimlich positiv und beglückt aufgenommen worden, der Deutschlandfunk. Es wurde ans Auto immer wieder geklopft, es wurde uns immer wieder gesagt, wie man uns gehört hat, was man gehört hat. Sie waren bestens informiert über unsere Sendungen, besser als die eigenen Leute kannten sie das 24-Stunden-Programm. Aber da war es anders, denn es wurde uns klar gemacht, was wir für eine Stimme für sie waren in diesem „Tal der Ahnungslosen", wie es so schön heißt, die nicht viel empfangen konnten, aber den Deutschlandfunk irgendwie doch immer noch hineinbekommen hatten.
Simon: Während die Journalisten-Kollegen, die Reporter des Deutschlandfunks damals sich darum kümmern mussten, wie können wir berichten, wo bekommen wir unsere Informationen her, was sind unsere Kontakte, mussten Sie sich um die technische Seite kümmern. Wie schwierig war das?
Paul: Wir haben die Erfahrung gemacht zu der damaligen Zeit, was Stellplatz, was Strom anging für die Übertragungswagen, überhaupt gar keine. Es wurde alles möglich gemacht. Und man muss ja erst mal sich überlegen: So ein Ü-Wagen braucht 380 Volt Strom, Drehstrom. Der war nicht überall, der musste beschafft werden. Das war kein Problem. Die Elektriker haben alles möglich gemacht.
Schwierig war es mit Leitungen. Drahtlos, Satellit gab es zu der Zeit so noch nicht. Die Leitungen waren ein Problem. Und wenn man in die offiziellen Leitungsbüros der damaligen Deutschen Post ging, wurde man doch zum Teil ganz schön schroff abgefertigt.
Simon: Die Deutsche Post war die DDR Deutsche Post.
Paul: Richtig. Die hieß damals ja Deutsche Post und zugleich auch das Rundfunkwesen. Die haben also beides gemacht. Die Kollegen der Übertragungswagen des DDR-Rundfunks, die die Deutsche Post vertreten hatten, die haben für uns alles gemacht. Wenn wir nicht weiter kamen - oft brauchten wir das gar nicht zu tun, sie haben uns alles vorbereitet. Es gab einige Telefonnummern, die man so hatte mittlerweile in den einzelnen Ländern oder in den Bezirken der DDR, und dann hat man diese Jungs angerufen und die haben alles gemacht. Ich habe noch nie so problemlos Leitungen bekommen in der Zeit als in der damaligen DDR.
Simon: Wie war denn das? Sie trafen da auf Kollegen, die Sie nicht kannten bis dahin, die vielleicht auch noch nie viel Kontakt gehabt hatten mit Westkollegen. Gab es da so ein gewisses Fremdeln, oder wie haben Sie das erlebt?
Paul: Ich habe es überhaupt nicht als Fremdeln erlebt. Ich habe es als ein tolles kollegiales Zusammenarbeiten erlebt, weil die alle den Deutschlandfunk kannten. Ich habe eigentlich keinen getroffen, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, der den Deutschlandfunk nicht kannte. Wir waren mehrere Male von Kollegen auch gerade in Sachsen zuhause eingeladen. Ich weiß nicht, ob es war, um zu zeigen, wie sie wohnen. Ich glaube, es war einfach die Gastfreundschaft, die große Gastfreundschaft, die uns da nicht nur dienstlich entgegengeschlagen ist.
Simon: Schauen wir noch mal auf den 19. Dezember 1989, also den Anlass der Reise, die damals der Deutschlandfunk-Übertragungswagen gemacht hat, mit Technik und Journalisten an Bord. Wenn heute sich zwei Regierungschefs treffen, dann gibt es da in Deutschland keine Aufläufe von Menschen. Das war in Dresden ganz anders. Da waren die Straßen gesäumt von Bürgern, die teilweise von weit weg gekommen waren. Was sind denn für Sie Bilder von diesem Tag, oder vielleicht auch akustische Eindrücke, die Ihnen geblieben sind?
Paul: Bilder muss man lange suchen, weil doch diese Zeit der Wende und danach sehr beeindruckend war. Bilder - speziell in Dresden war diese Wahnsinns-Menschenmenge. Kohl sprach, wenn mich nicht alles täuscht, Abends. Die Trümmer waren angestrahlt und wir standen ganz in der Nähe des Rednerpultes und ich sehe immer noch das Rednerpult vor mir und einen großen Trümmerhaufen mit einem Strauch, der oben rauswuchs.
Simon: Das waren die Trümmer der Frauenkirche.
Paul: ... der Frauenkirche. Und dieses Bild hat man einfach im Kopf. Dann gibt es ein zweites Bild. Es gab auf der Hauptstraße eine Demo mit roten Fahnen gegen Kohl, gegen den Westen, und diese Gruppe versuchte, auf den Platz zu drängen, wie sich die letzten 10, 20, 30 Reihen der Leute einfach herumdrehten zu den Demonstranten hin und sie vertrieben. Das ist auch noch ein Bild, was ich sehr stark im Kopf habe und der Kollege der Post immer gesagt hat, ihr braucht euch keine Sorgen machen: euch passiert nichts. Das ist immer noch dieser Satz und dieses Bild, was ich von diesem Tag eigentlich am meisten vor Augen habe, und natürlich die Menschenmenge, die jubelnde Menschenmenge und das ganze Drumherum ist dermaßen beeindruckend gewesen. Diese Bilder verliert man auch nicht aus dem Kopf.
Simon: Sind Sie eigentlich danach noch mal zurückgereist nach Dresden?
Paul: Ja, ich war noch einige Male in Dresden, dienstlich jetzt Wiederaufbau der Kirche. Mein Bild an die Stadt, an die Menschen hat sich nicht geändert. Im Gegenteil. Wir wurden auch nach zehn Jahren noch immer freundlich begrüßt und es wurden uns immer noch Geschichten erzählt über unser Haus, über unser Programm. Dieser Eindruck hat sich überhaupt nicht geändert. Ich möchte jetzt noch mal hin. Ich möchte jetzt noch mal erleben, wo sehr viel doch passiert ist und ich lange Zeit nicht mehr da drüben war. Ich würde gerne noch mal hin.
Simon: Rüdiger Paul, im Dezember 1989 beim Treffen Kohl-Modrow in Dresden Techniker im Übertragungswagen in Dresden. Vielen Dank!
Paul: Gerne.
Doris Simon war am 19.12.1989 mit dabei in Dresden und hat uns eine Erinnerung an diesen Tag zur Verfügung gestellt: