Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Rüstungsforschung bei der SS
KZ-Häftlinge als Versuchsobjekte

Wie rettet man abgeschossene Flieger aus großer Höhe? Wie therapiert man Unterkühlung? Mit solchen Fragen beschäftigte sich das "Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung". Der Historiker Julien Reitzenstein porträtiert die zweifelhafte Einrichtung der SS, in der KZ-Häftlinge als Versuchsobjekte benutzt wurden - in einer Villa, in der heute der Bundespräsident wohnt.

Von Otto Langels | 22.09.2014
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Die Dienstvilla des Bundespräsidenten Gauck im Berliner Stadtteil Dahlem: Hier wurde während der NS-Zeit mit KZ-Häftlingen experimentiert. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Am 4. April 1942 habe er dem Reichsführer SS eingehend über die Dachauer Versuche berichtet, schrieb der Reichsgeschäftsführer Wolfram Sievers an den Stabsarzt der Luftwaffe Sigmund Rascher. Himmler sei von den Ergebnissen sehr beeindruckt gewesen, so Sievers. Bei den Dachauer Experimenten handelte es sich um Höhenversuche in einer Unterdruckkammer, die der Mediziner im Auftrag der SS an KZ-Häftlingen durchführte und sie dabei filmte.
    Im Nürnberger Ärzteprozess wurde das Protokoll eines simulierten Flugzeugabsturzes in der Druckkammer verlesen:
    "In 15 km Höhe: Versuchsperson lässt Maske fallen. Nach 10 Minuten in 7,2 km Höhe: unkoordiniertes Strampeln mit den Extremitäten. Nach 20 Minuten in 1 km Höhe: schreit anfallweise, grimassiert, beißt sich auf die Zunge. In 0 Meter Höhe: nicht ansprechbar, macht den Eindruck eines völlig Geistesgestörten."
    Von den rund 200 KZ-Häftlingen, die zu dem Experiment gezwungen wurden, kamen mindestens 70 ums Leben.
    Sigmund Rascher leitete die Abteilung "R" des 'Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung', in der – neben Höhen- und Unterkühlungsversuchen – Kartoffelbreipulver und ein Blutstillmittel entwickelt wurden.
    Der Straßburger Historiker Julien Reitzenstein hat nach akribischem Quellenstudium erstmals die Personal- und Organisationsstruktur der SS-Forschungseinrichtung mit sämtlichen Abteilungen rekonstruiert. Seine Studie bietet profunde Einblicke in das Denken und Handeln ehrgeiziger Wissenschaftler, die häufig ohne Rücksicht auf ethische Standards vorgingen.
    "In zwei (...) Abteilungen fanden Verbrechen durch medizinische Versuche an Häftlingen statt, die heute zu den unmenschlichsten Ereignissen des NS-Regimes zählen. Somit besteht kein Zweifel, dass das gesamte Institut eine verbrecherische Einrichtung war."
    Das wehrwissenschaftliche Institut mit Sitz in Berlin war organisatorisch dem sogenannten "Deutschen Ahnenerbe" unterstellt. Heinrich Himmler hatte diese "Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte" 1935 ins Leben gerufen, um die Überlegenheit der "Arier" wissenschaftlich zu untermauern.
    Später integrierte Himmler den Verein "Ahnenerbe" in die SS, während des Zweiten Weltkriegs folgte die Gründung des Instituts, um im Auftrag und unter dem Dach der SS eigene Forschungen zu betreiben. Ungeachtet des propagierten militärischen Nutzens befasste sich das Institut mit Fragestellungen, die auf persönliche Vorlieben Himmlers zurückgingen. Wissenschaftler sollten z.B. Donner und Blitz als magische Wunderwaffen des von Himmler verehrten germanischen Gottes Thor erforschen. Ein mit dem SS-Chef verwandter Botaniker musste in Südamerika den vermuteten Einfluss des Mondlichts auf das Pflanzenwachstum untersuchen, andere Mitarbeiter betrieben wiederum Goldsuche in deutschen Flüssen.
    Nur ein Mitarbeiter des Instituts musste sich im Nürnberger Ärzteprozess vor Gericht verantworten
    "Ein typisches Beispiel ist sein Glauben, dass germanische Fischer bei Unterkühlung von ihrer Frau im Bett erwärmt worden sein sollen. Aus diesem Mythos leitete Himmler konkrete Forschungsfragen ab, die unmenschliche Folgen für die menschlichen Versuchspersonen von Raschers Versuchen zu Unterkühlung hatten."
    Sigmund Rascher, lange Zeit ein Günstling Himmlers, wurde im März 1944 wegen des Verdachts verhaftet, aus "Gewinnsucht" Häftlinge begünstigt zu haben. Verheerend war aber der Vorwurf, in die Kindesentführungen seiner Frau verwickelt zu sein: Karoline Rascher, eine langjährige Bekannte Himmlers, hatte dem SS-Chef mit einer vielköpfigen Familie imponieren wollen. Sie hatte deshalb mehrere Schwangerschaften vorgetäuscht und Säuglinge entführt, die sie als ihre eigenen Kinder ausgab.
    "Offenbar hatte Himmler kein Interesse, dass sein Verhältnis zum Ehepaar Rascher Gegenstand eines Verfahrens werden sollte und löste die Situation, indem er beide Raschers ohne rechtsstaatliches Verfahren inhaftieren und später ermorden ließ."
    Finanziert wurde das 'Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung' von der SS. Hier fanden Angehörige einer, wie Julien Reitzenstein schreibt, "jungen, gut ausgebildeten, durch völkische Einflüsse radikalisierten Elite" ein neues Betätigungsfeld mit Aufstiegschancen. Der Autor bestätigt damit die Befunde anderer Studien zum Personal des NS-Regimes, ohne freilich die Arbeit des Instituts insgesamt einzuordnen. Offen bleibt z.B. die Frage, ob und welche Relevanz die wehrwissenschaftlichen Projekte der SS im Vergleich zu anderen NS-Forschungen hatten und ob sie nicht vorwiegend Heinrich Himmlers absonderlichen Privatinteressen dienten.
    Nur ein Mitarbeiter, Wolfram Sievers, der Direktor des Instituts, musste sich 1946 im Nürnberger Ärzteprozess vor Gericht verantworten, u.a. wegen der Ermordung von 86 jüdischen KZ-Häftlingen für eine geplante Skelettsammlung an der Universität Straßburg.
    "Es handelt sich hier um eine Angelegenheit der Anatomie der Universität Straßburg. – I asked you, did you hear about it. – Jawohl, ich habe davon gehört. - You played an active part in the collection of those skeletons? Didn´t you? - Nein!"
    Das Leugnen half Wolfram Sievers nicht, er wurde im August 1947 als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und im Juni 1948 hingerichtet.
    Leider geht Julien Reitzenstein weder auf den Nürnberger Ärzteprozess noch auf die medizinischen Verbrechen des wehrwissenschaftlichen Instituts näher ein. Diese seien in der Literatur hinlänglich dokumentiert, begründet der Autor seinen Verzicht. Dabei hätten entsprechende Ausführungen dem Buch durchaus gutgetan, denn langatmige Erläuterungen zu Ämtern, Budgets und Personalproblemen - bis hin zum Ärger mit der Haushaltshilfe - wirken auf Dauer ermüdend. Statt minutiös den Kampf um Professuren und Posten zu beschreiben, hätte man sich einige erhellende Passagen zu den Medizinverbrechen der SS-Forscher gewünscht.
    Immerhin präsentiert Reitzenstein einige überraschende Details: Das deutsche "Ahnenerbe", die von Heinrich Himmler 1935 gegründete völkische Gemeinschaft, wurde erst 1955 aus dem Vereinsregister gelöscht. Und das großzügige Anwesen in der Pücklerstraße 16 in Berlin-Dahlem, in dem sich ab 1939 die Zentralen des "Ahnenerbes" und des 'Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung' befanden, dient heute dem Bundespräsidenten als Dienstvilla.
    Julien Reitzenstein: Himmlers Forscher. Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im "Ahnenerbe" der SS. Ferdinand Schöningh Verlag, 415 Seiten, 44,90 Euro.