Quay: Herr Rüttgers, zum ersten Mal nach langer Zeit hat die Union die SPD in den demoskopischen Umfragen wieder überflügelt. Der Betrachter der Szene muss das Gefühl haben, die Union wähnte sich schon als Sieger bei den Bundestagswahlen im September 2002. Wer hat diese Stimmung herbeigerufen, der Kandidat Edmund Stoiber oder die plötzliche in den letzten Jahren seltene Einigkeit der CDU/CSU?
Rüttgers: Alle Umfragen, Herr Quay, zeigen, dass die Union die Bundestagswahl gewinnen kann. Das ist nicht nur erfreulich, sondern auch im Vergleich mit den Aussagen des Bundeskanzlers im vorigen Jahr eine ganz, ganz beachtliche Veränderung der politischen Landschaft. Vor einem Jahr hatte Schröder ja noch vor lauter Kraft nicht laufen können. Er hatte den Eindruck erweckt, er hätte die Bundestagswahl schon im Sack. Jetzt zeigt sich, dass die Fehler in der Politik, die Schröder gemacht hat, auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Geschlossenheit der Union - übrigens auch beim Abschluss der Debatten über die Kanzlerkandidatur - die Union nach vorne gebracht hat. Die Menschen trauen der Union wieder mehr zu, sie trauen ihr eine Politik - eine moderne Politik - zu, und sie wollen anscheinend auch einen Regierungswechsel.
Quay: Es ist nicht bewiesen, dass der erfahrenere CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber mehr Stimmen holt als die CDU-Chefin Angela Merkel. Wäre es nicht besser gewesen, mal eine Frau zu präsentieren - also die erste seit Bestehen der Bundesrepublik, eine Frau, die ihre Geschlechtsgenossinnen zur Union herüberzieht, und dazu eine Frau, die einen liberaleren Anstrich hat? Warum wurde diese Idee so schnell beiseite geschoben?
Rüttgers: Die Idee wurde nicht schnell beiseite geschoben, sondern wir haben ja eine lange Debatte geführt, mit wem die Union bei der Bundestagswahl die besten Chancen hat. Angela Merkel ist Bundesvorsitzende der CDU. Das zeigt, dass wir Frauen an der Spitze große Verantwortung übertragen. Wenn zwei sich um eine Position bewerben, kann nur einer gewinnen. Das Entscheidende, ob eine solche Kandidatur dann der Partei und ihren Wahlchancen nützt, ist die Art und Weise, wie die Debatte geführt worden ist und wie sie abgeschlossen wird. Wenn man das etwa vergleicht mit der damaligen Auseinandersetzung zwischen Franz-Josef Strauß und Ernst Albrecht, dann kann man schon spüren, warum jetzt dieser Schub in den Umfragen und die Aufbruchstimmung in der Union entstanden ist. Wir werden geschlossen mit Edmund Stoiber diesen Wahlkampf führen, und wir werden - darauf hoffen wir zumindest - ihn auch erfolgreich führen.
Quay: Sie sind jetzt von Edmund Stoiber zu einem der zehn wichtigsten Denker im Wahlhauptquartier der Union erkoren worden; deshalb die Frage: Eine Partei gewinnt nie allein Wahlen durch eine Person, sondern in starkem Maße durch Sachkompetenz. Hat denn die Union überhaupt noch, wie Jahrzehnte vorher, etwa die Wirtschaftskompetenz? Wenn Sie das meinen - wo äußert sich das?
Rüttgers: Ich habe in einem Strategiepapier auf der Klausurtagung in Magdeburg vorgeschlagen, dass wir keinen Lagerwahlkampf führen, dass wir nicht einfach rechts gegen links setzen. Ich glaube nicht, dass die Menschen solche Schlachten mit den Argumenten des letzten Jahrhunderts noch haben wollen. Es kommt nach meiner festen Überzeugung auf die Kompetenz an, deshalb einen Kompetenzwahlkampf! Und da ist für die Union - da ist für die CDU zentral die Wirtschaftskompetenz. Die Leute haben früher immer gesagt "die können besser mit Geld umgehen als die Sozialdemokraten". Und deshalb ist ganz wichtig, dass wir auf diesem Feld mit klaren Konzepten in diese Wahlauseinandersetzung gehen. Schröder, der ja den Versuch gemacht hat in dieser Legislaturperiode, der CDU die Wirtschaftskompetenz streitig zu machen, ist mit seiner Politik wirtschaftlich gescheitert - 4,3 Millionen Arbeitslose sind der Beweis für diese Behauptung. Wir müssen als Union sehr deutlich machen, dass wir auch aus der Niederlage von 1998, der letzten Bundestagswahl, gelernt haben. Wirtschaftskompetenz ist die eine Sache, aber sie muss ergänzt werden durch eine hohe Sozialkompetenz. Die SPD hat ja in ihren eigenen wahlkampfvorbereitenden Umfragen festgestellt, dass inzwischen 42 Prozent der Menschen in Deutschland der Union ein größeres Maß an Kompetenz in Sachen sozialer Gerechtigkeit zutrauen. Beides, Wirtschaftskompetenz und Sozialkompetenz gehört zusammen.
Quay: Die frühere Bundesregierung Helmut Kohl aus FDP und Union hatte auch mal 4,5 Millionen Arbeitslose. Wo sehen Sie denn konkret die Rezepte, um Arbeitslosigkeit zu verringern, dazu noch möglicherweise gegen die Gewerkschaften, die heute bei Gerhard Schröder sich sehr mit Kritik zurückhalten?
Rüttgers: Das Erste: Ich glaube nicht, dass die Union eine Politik gegen die Gewerkschaften machen sollte. Ich bin zum Beispiel dafür, dass wir nach einer gewonnenen Wahl das Bündnis für Arbeit fortsetzen. Es gibt zwar viel Kritik in Deutschland an dieser Einrichtung, nur - die Eliten des Landes und speziell diejenigen, die Verantwortung in der Wirtschaft tragen - das sind die Arbeitgeber, das sind die Gewerkschaften, das ist die Politik -, müssen sich über eine gemeinsame Strategie verständigen. Eines der großen Probleme dieses Landes ist, dass wir die Reformen ja in vielen Punkten noch gar nicht angepackt haben. Wenn Sie mal die Zeitungen in diesen Tagen lesen, dann habe ich manchmal das Gefühl, dass wir in diesem Wahlkampf immer noch dieselben Fragen diskutieren, die wir schon im Wahlkampf 1998 diskutiert haben. Da geht es um die Steuerreform, da geht es um die Renten, da geht es um die Gesundheitsreform. Die Tatsache, dass wir das diskutieren, zeigt übrigens, dass die Regierung Schröder diese Probleme nicht gelöst hat. Nehmen wir das Beispiel Steuerreform: Da ist eine Steuerreform gemacht worden, die hat in erster Linie die Großindustrie entlastet. Nur fünf Prozent der Menschen in Deutschland glauben, dass sie selbst durch die Steuerreform entlastet worden sind. Das ist ein Eindruck, der dadurch entsteht, dass die gleiche Regierung Schröder nicht nur die Steuern gesenkt hat, sondern gleichzeitig die Steuern erhöht hat - denken Sie an Tabaksteuer, an Benzinsteuer, an Ökosteuer, an Versicherungssteuer, so dass der normale Mensch im Portemonnaie nicht mehr Geld hat. Was wir brauchen - das wäre der erste konkrete Punkt für eine moderne Wirtschaftspolitik -, ist eine Steuerreform zugunsten des Mittelstandes. Da werden die neuen Arbeitsplätze entstehen, und nicht in der Großindustrie, die sehr stark aus internationalen Wettbewerbsgründen rationalisieren muss. Sie können das in all den Branchen - vom Maschinenbau über die Stahlindustrie, über die Automobilindustrie sehen. Der zweite Punkt ist die Schaffung eines Niedriglohnsektors. Das ist zwar ein furchtbares Wort, zeigt aber eines der ganz zentralen wirtschaftspolitischen Probleme des Landes auf. Wir haben im Dienstleistungsbereich ganze Sektoren, wo Arbeitsplätze nicht entstehen können - und wenn sie angeboten werden, nicht besetzt werden können, weil es für viele Menschen sich nicht lohnt, solche Arbeitsplätze anzunehmen. Da ist es dann einfacher und teilweise lukrativer für sie, Sozialhilfe zu nehmen und vielleicht zusätzlich sogar Schwarzarbeit dann hinzuzufügen. Der Niedriglohnsektor meint im Kern, dass die Sozialbeiträge, die ja bis zu 40 Prozent des Lohnes auffressen, dass die entweder ganz - im ganz niedrigen Einkommensbereich - oder teilweise - in einem linear progressiven Tarif - übernommen werden aus Steuergeldern. Die Ansprüche entstehen, das heißt, die Menschen sind genau so sozial abgesichert wie in allen anderen Modellen. Wenn man ein solches Modell einführt, dann kann man Hunderttausende neue Arbeitsplätze schaffen. Die Regierung hatte Anfang der Legislaturperiode im Bündnis für Arbeit über dieses Thema diskutiert, dann hat man nichts getan - Monate um Monate nichts getan. Jetzt unter dem Eindruck von 4,3 Millionen Arbeitslosen hat man die Debatte wieder aufgenommen, die Gewerkschaften waren dagegen. Man hat sich auf einen faulen Kompromiss verständigt, nämlich die Übertragung des sogenannten Mainzer Modells. Das schafft allenfalls, wie Experten sagen, 20.000 bis 30.000 Arbeitsplätze und hat wieder damit zu tun, dass die Politik der ruhigen Hand, die Bundeskanzler Schröder verkündet hat, letztlich das Eingeständnis ist, wirtschaftspolitisch nichts getan zu haben und damit zu scheitern.
Quay: Wenn CDU/CSU, Herr Rüttgers, oder SPD nach den Wahlen mit der FDP jeweils eine Regierung bilden können, sind Sie denn sicher, dass die Freien Demokraten der Union den Vorrang geben?
Rüttgers: Ich bin ganz sicher, dass, wenn die CDU mehr als 40 Prozent bekommt, die Freien Demokraten mit der CDU eine Regierung bilden. Das ist, Herr Quay, eine ganz spannende Frage, weil natürlich die Menschen, die zur Wahl gehen, auch wissen wollen: Kann ich mit meiner Stimme etwas bewegen. Gerade bürgerliche Wähler neigen dazu. Wenn sie das Gefühl haben, ich kann mit meiner Stimme nichts bewegen, gehen sie nicht zur Wahl. Oder sie sagen: Wenn es mit der CDU/CSU nicht geht, dann wähle ich halt FDP und versuche, den Schaden, den die SPD anrichtet, dadurch in meinem Sinne zu minimieren. Schauen Sie, bei dieser Wahl wird das anders sein. Die Umfragen zeigen eines ganz deutlich: Rot-Grün hat keine Mehrheit - unter keiner denkbaren Konstellation, was bedeutet, dass es auf der Linken nur eine Mehrheit gibt, die entweder von der PDS geduldet wird oder sogar die PDS einbezieht, wie das ja gerade in der Bundeshauptstadt Berlin erfolgt ist. Das heißt, Voraussetzung für eine bessere, eine andere Politik ist, dass die CDU über 40 Prozent bekommt. Dann reicht es mit der FDP. Sonst gibt es überhaupt keine Chance, einen Wechsel zu bekommen. Also, die Stärkung der CDU, der Union ist die zentrale Möglichkeit, wie man jetzt einen Wechsel in der Politik herbeiführen kann.
Quay: Herr Rüttgers, das Thema Zuwanderung ist noch nicht geklärt, weder in der Union selbst, noch in der Bundesrepublik. Wollen Sie dieses Thema aus dem Wahlkampf heraushalten, oder ist dieses Thema nicht ohnehin auf der Tagesordnung, auch wenn es ein Zuwanderungsgesetz gibt?
Rüttgers: Herr Quay, da bin ich der falsche Ansprechpartner für diese Frage, weil rot und grün es in der Hand haben, das Zuwanderungsgesetz, das der Bundesinnenminister vorgelegt hat, vor der Wahl einvernehmlich entschieden werden kann oder nicht. So, wie es jetzt vorliegt, ist es nicht akzeptabel. Die Bundestagsfraktionen werden sich in wenigen Tagen mit dem Innenminister treffen, um einmal auszuloten, wie viel Bewegung noch in dieser Diskussion ist. Ich persönlich würde es begrüßen, wenn es möglich ist, zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Aber da müssen rot und grün sich bewegen. Ihre Frage ist im zweiten Teil mehr als berechtigt. Auch dieses Zuwanderungsgesetz wird die Probleme, die wir in Deutschland haben, nicht lösen. Schauen Sie, wir haben als Union früher einmal den Fehler gemacht und haben unser Wollen in der Zuwanderungsfrage in den Satz gekleidet: "Deutschland ist kein Einwanderungsland". Dieser Satz war missverständlich und falsch, weil, während wir das gesagt haben, gleichzeitig Hunderttausende Asylbewerber nach Deutschland gekommen sind. Jetzt gibt es wieder Leute, die laufen herum und sagen: "Deutschland braucht Zuwanderung". Dieser Satz ist auch falsch. Mit Zuwanderung können Sie kein einziges der Probleme in Deutschland lösen, weder das Problem bei den Steuern, weder das Problem bei der Gesundheitsreform, noch das Problem bei der Rentenreform. Und es kann nicht richtig sein, angesichts von 4,3 Millionen Arbeitslosen jetzt billige Arbeitskräfte ins Land zu holen. Das ist eine falsche Strategie. Das Thema, das uns - gleich wie - erhalten bleibt, ist und bleibt die Integration der hier lebenden und der auch noch zu uns kommenden Menschen - es wird ja weiter Zuwanderung geben - in unsere Gesellschaft. Und das Thema ist auch nicht mit dem Zuwanderungsgesetz erledigt. Wenn Sie in dieser Woche an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Schächten zurückdenken, dann ist das so ein Urteil - das mag juristisch richtig sein, ich hab trotzdem das Gefühl, dass das Urteil von normalen Menschen nicht verstanden werden kann. Was sollen die denn eigentlich von Gerichten halten und denken, die auf der einen Seite sagen, man darf keine Kreuze in Schulklassen mehr aufhängen, man hat einen Anspruch, die entfernen zu lassen und kann das auch durchklagen, und auf der anderen Seite wird dann gesagt, Tiere dürfen aber gequält werden aus Gründen der Berufsfreiheit oder aus Gründen der Religion. Das passt nicht zusammen. Im Kern steht da - glaube ich - ein falsches Verständnis vom Zusammenleben in einer Gesellschaft dahinter. Multikulturelle Gesellschaften funktionieren nicht, das weiß man. Sie sind übrigens, wie Daniel Cohn-Bendit gesagt hat, brutal und hart und damit auch nicht erstrebenswert. Wenn man in Vielfalt und Einheit zusammenleben will - und das muss doch eigentlich unser Ziel sein -, dann muss es in unserer Gesellschaft drei Dinge geben, die gleich sind. Das sind die Spielregeln, die für alle gelten, das ist die Sprache, da muss man viel, viel mehr tun, und es muss so sein, dass jeder, der hier lebt, auch seinen Beitrag leisten muss zur Integration in diese Gesellschaft. Was nicht notwendig ist, ist, dass alle die gleiche Rasse und die gleiche Religion haben. Aber dieses Maß an Gemeinsamkeit in einer Gesellschaft ist erforderlich, wenn man gut zusammenleben will.
Quay: Nun gibt es neben der Zuwanderungsfrage noch ein Thema, bei dem die Union keine einheitliche Linie hat - bei der Frage des christlichen Menschenbildes der Union, dem Embryonenproblem. Wo werden sich die Ablehner und Befürworter treffen, und was schlagen Sie vor?
Rüttgers: Es gibt ja zwei Fragen, die in dem Zusammenhang von Bedeutung sind. Die eine Frage ist: Darf der Mensch alles das, was er kann? Und die Frage muss von der Union klar beantwortet werden: Nein! Es gibt Sachen, die wir nicht tun dürfen. Es gibt aber auch eine zweite Frage. Die Frage lautet, ob wir eigentlich schon alles können, was wir können müssten, um besser mit Hunger, Elend und Krankheit in der Welt fertig zu werden. Insofern verbietet sich eine einfache Antwort, weil beide Gedanken ein Stück weit in Widerspruch miteinander stehen. Konkret steht jetzt in wenigen Tagen im Deutschen Bundestag die Frage an, wie wir beim Import von Stammzelllinien aus dem Ausland verfahren wollen. Wir tun uns da schwer in der Union, es gibt da unterschiedliche Auffassungen. Ich glaube aber, dass es möglich ist, zu einer gemeinsamen Auffassung zu finden. Das Erste und Wichtigste, was man sich klarmachen muss, ist, dass nach dem geltenden Embryonenschutzgesetz es heute so ist, dass der Import von Stammzelllinien erlaubt ist, dass es keinerlei Beschränkung dafür gibt. Das heißt, man kann bestehende Stammzelllinien importieren, man kann aber auch Embryonen im Ausland töten und damit neue Stammzelllinien herstellen und die dann importieren. Das heißt, die Frage, die wir uns als verantwortliche Politiker stellen müssen, ist: Wollen wir eine Einschränkung dieser unbeschränkten Importmöglichkeit? Es geht also nicht in erster Linie bei der konkreten Entscheidung um die Frage, wie stehe ich generell zur Embryonenforschung, sondern: Im Ausland findet sie statt - und importieren wir jetzt, oder schränken wir das ein. Und ich empfehle uns eine Einschränkung - nicht eine totale Einschränkung, sondern eine teilweise Einschränkung. Ich will verhindern, weil für mich Embryonen menschliches Leben sind, dass im Ausland für deutsche Forschungsbedürfnisse Embryonen getötet werden. Nun gibt es aber bereits Stammzelllinien im Ausland, dafür sind Embryonen getötet worden, aber dies kann ich ja nicht mehr rückgängig machen. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten in vielen Gesprächen mit den Kirchen in Deutschland, mit Moraltheologen, mit Philosophen, mit Ethikern versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob ich eigentlich, wenn ich diese Stammzelllinien, die vor dem 9. August - das ist ein Stichtag, an dem der amerikanische Präsident eine Liste von Stammzelllinien im Ausland veröffentlicht hat -, also wenn ich diese damals schon bestehenden Stammzelllinien importiere, ob ich damit rückwirkend eine moralische Billigung für den Tod der Embryonen ausspreche. Meine Antwort ist "nein". Dadurch, dass ich diese Stammzelllinien benutze, rechtfertige ich nicht - moraltheologisch - die Tötung der Embryonen. Wenn ich dann also jetzt eine Lösung suche und finde, und sage, die damals bestehenden Stammzelllinien können importiert werden, aber es dürfen keine importiert werden, für die neue Embryonen getötet werden, dann tue ich etwas, was moralisch gerechtfertigt ist. Und ich habe gleichzeitig eine Möglichkeit, mit diesen vorhandenen Stammzelllinien die Forschung an alternativen Stammzelllinien, also adulten Stammzelllinien, fötalen Stammzelllinien, Stammzelllinien aus dem Knochenmark, dass ich die damit vorantreiben kann und damit dann auch Kranken besser helfen kann als ich dies heute kann. Es gibt also eine Möglichkeit, wo ich den Embryonenschutz auf der einen Seite mit den Forschungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten verbinden kann, ohne moralisch schuldig zu werden.
Quay: Die FDP macht Wirtschaft und Bildung zu ihren Hauptthemen. Welchen Stellenwert wird die PISA-Studie über den schlechten Bildungsstand der deutschen Jugend im Vergleich zu anderen Ländern für die Union einnehmen?
Rüttgers: Wir haben eben lange mit Recht über die Wirtschaftskompetenz diskutiert. Jeder, der sich mit Wirtschaftsfragen beschäftigt, weiß, dass das größte Gut, was wir in Deutschland haben, die Bildung und Ausbildung der Menschen ist. Wir sind ein Land ohne Rohstoffe, und wir werden in diesem neuen Jahrhundert uns wirtschaftlich nur behaupten können, wenn wir weiter die bestausgebildete Bevölkerung auf der Welt haben. PISA hat gezeigt, dass wir davon leider nach 30 Jahren ideologischer Schuldebatte weit von entfernt sind. Das heißt, wir brauchen jetzt eine große, eine - im Wortsinne - radikale Bildungsreform. Die Strukturen können nicht so bleiben wie sie sind. Es kann nicht dabei bleiben, dass wir hier in Nordrhein-Westfalen nicht mehr sicher sein können, dass Absolventen nordrhein-westfälischer Schulen rechnen, schreiben und lesen können. Es kann nicht dabei bleiben, dass die Lehrerkollegien immer älter werden. Es kann nicht dabei bleiben, dass in Nordrhein-Westfalen die Eltern jedes Jahr 400 Millionen Mark an Nachhilfeunterricht ausgeben müssen, bloß damit die Kinder halbwegs in der Schule mitkommen. Alles das zeigt, wie wichtig eine Reform ist. Wir müssen auch wieder den Mut zur Erziehung haben, wir müssen wieder klar durchsetzen, dass nicht nur irgendwelches Wissen vermittelt wird, dass dann übrigens häufig nachher gar nicht mehr abgefragt wird, weil die Leistungskriterien abgesenkt worden sind, sondern wir müssen auch wieder erziehen, weil gerade in der Wissensgesellschaft der Mensch die Fähigkeit haben muss, nicht nur zu sehen, welche Informationen es überhaupt gibt, welche Information richtig und welche falsch ist, sondern er muss in diesem richtig und falsch ja eine Bewertung vornehmen. Und das geht nur dann, wenn er auch in der Erziehung die notwendigen Werte vermittelt bekommen hat.
Quay: Sie haben beklagt, dass Sie in gewisser Weise den Kontakt zu den Kirchen verloren haben. Woran liegt denn das, dass der Kontakt schlechter geworden ist? Sind das die Kirchen, ist das die CDU?
Rüttgers: Das liegt an mehreren Gründen. Dahinter steckt eine gesellschaftliche Veränderung. Deutschland ist säkularer geworden. Die Anzahl der Menschen, die sich zu den christlichen Kirchen bekennen, ist zurückgegangen. Die Anzahl derjenigen, die noch engagiert sind in den Kirchen, ist zurückgegangen. Und das hat jetzt dazu geführt, dass auch zwangsläufig die Anzahl derjenigen zurückgegangen ist, die aus den Kirchen kommend sich danach in der Politik engagieren. Das heißt, es gibt in der CDU weniger kirchlich engagierte Menschen, und umgekehrt hat die CDU, die ja auch weniger Mitglieder hat, weniger Leute, die dann gleichzeitig irgendwo in den Kirchen engagiert sind. Die Kirchen sind deshalb nicht mehr, wie das in den 50er-60er Jahren noch war, das normale Rekrutierungsfeld für die Mitglieder der CDU. Wenn das so ist, dann muss die CDU begreifen, dass sie nicht mehr davon ausgehen kann, dass Christen grundsätzlich CDU wählen, sondern sie muss um jeden Christen werben. Sie muss ihre Politik auch so anlegen, dass sie deutlich macht, dass sie mit dem "C" nicht nur einen Namen hat, sondern dass damit verbunden ist eine wertebezogene Politik auf der Basis des christlichen Menschenbildes. Und das wird dann sehr konkret - übrigens für manche dann wieder ganz erstaunlich konkret. Beispiel: Wenn wir eintreten in der CDU für Religionsunterricht - das hat was mit Erziehung zu tun, wir sprachen gerade davon - dann gilt das zum Beispiel nicht nur für Katholiken und Protestanten, sondern dann muss das auch für Muslime gelten. Das heißt, etwa die Frage der Integration einschließlich eines sich langsam entwickelnden deutschen Islam ist eine solche wertegebundene Frage. Wenn wir damit über das Thema Zuwanderung diskutieren, dann müssen wir mit den Kirchen, die ja teilweise skeptisch zu der Haltung der Union in dieser Frage sind, diskutieren, wie wir denn bitte diejenigen, die zu uns gekommen sind, wie wir die in unsere Gesellschaft integrieren. Die Kirchen leisten da ja auch viel. Oder Biotechnik/Gentechnik haben wir diskutiert. Was wir brauchen, ist einen ganz, ganz breiten und ständigen Dialog. Der muss organisiert werden, weil er sich nicht mehr in den Personen einfach so ergibt.
Rüttgers: Alle Umfragen, Herr Quay, zeigen, dass die Union die Bundestagswahl gewinnen kann. Das ist nicht nur erfreulich, sondern auch im Vergleich mit den Aussagen des Bundeskanzlers im vorigen Jahr eine ganz, ganz beachtliche Veränderung der politischen Landschaft. Vor einem Jahr hatte Schröder ja noch vor lauter Kraft nicht laufen können. Er hatte den Eindruck erweckt, er hätte die Bundestagswahl schon im Sack. Jetzt zeigt sich, dass die Fehler in der Politik, die Schröder gemacht hat, auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Geschlossenheit der Union - übrigens auch beim Abschluss der Debatten über die Kanzlerkandidatur - die Union nach vorne gebracht hat. Die Menschen trauen der Union wieder mehr zu, sie trauen ihr eine Politik - eine moderne Politik - zu, und sie wollen anscheinend auch einen Regierungswechsel.
Quay: Es ist nicht bewiesen, dass der erfahrenere CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber mehr Stimmen holt als die CDU-Chefin Angela Merkel. Wäre es nicht besser gewesen, mal eine Frau zu präsentieren - also die erste seit Bestehen der Bundesrepublik, eine Frau, die ihre Geschlechtsgenossinnen zur Union herüberzieht, und dazu eine Frau, die einen liberaleren Anstrich hat? Warum wurde diese Idee so schnell beiseite geschoben?
Rüttgers: Die Idee wurde nicht schnell beiseite geschoben, sondern wir haben ja eine lange Debatte geführt, mit wem die Union bei der Bundestagswahl die besten Chancen hat. Angela Merkel ist Bundesvorsitzende der CDU. Das zeigt, dass wir Frauen an der Spitze große Verantwortung übertragen. Wenn zwei sich um eine Position bewerben, kann nur einer gewinnen. Das Entscheidende, ob eine solche Kandidatur dann der Partei und ihren Wahlchancen nützt, ist die Art und Weise, wie die Debatte geführt worden ist und wie sie abgeschlossen wird. Wenn man das etwa vergleicht mit der damaligen Auseinandersetzung zwischen Franz-Josef Strauß und Ernst Albrecht, dann kann man schon spüren, warum jetzt dieser Schub in den Umfragen und die Aufbruchstimmung in der Union entstanden ist. Wir werden geschlossen mit Edmund Stoiber diesen Wahlkampf führen, und wir werden - darauf hoffen wir zumindest - ihn auch erfolgreich führen.
Quay: Sie sind jetzt von Edmund Stoiber zu einem der zehn wichtigsten Denker im Wahlhauptquartier der Union erkoren worden; deshalb die Frage: Eine Partei gewinnt nie allein Wahlen durch eine Person, sondern in starkem Maße durch Sachkompetenz. Hat denn die Union überhaupt noch, wie Jahrzehnte vorher, etwa die Wirtschaftskompetenz? Wenn Sie das meinen - wo äußert sich das?
Rüttgers: Ich habe in einem Strategiepapier auf der Klausurtagung in Magdeburg vorgeschlagen, dass wir keinen Lagerwahlkampf führen, dass wir nicht einfach rechts gegen links setzen. Ich glaube nicht, dass die Menschen solche Schlachten mit den Argumenten des letzten Jahrhunderts noch haben wollen. Es kommt nach meiner festen Überzeugung auf die Kompetenz an, deshalb einen Kompetenzwahlkampf! Und da ist für die Union - da ist für die CDU zentral die Wirtschaftskompetenz. Die Leute haben früher immer gesagt "die können besser mit Geld umgehen als die Sozialdemokraten". Und deshalb ist ganz wichtig, dass wir auf diesem Feld mit klaren Konzepten in diese Wahlauseinandersetzung gehen. Schröder, der ja den Versuch gemacht hat in dieser Legislaturperiode, der CDU die Wirtschaftskompetenz streitig zu machen, ist mit seiner Politik wirtschaftlich gescheitert - 4,3 Millionen Arbeitslose sind der Beweis für diese Behauptung. Wir müssen als Union sehr deutlich machen, dass wir auch aus der Niederlage von 1998, der letzten Bundestagswahl, gelernt haben. Wirtschaftskompetenz ist die eine Sache, aber sie muss ergänzt werden durch eine hohe Sozialkompetenz. Die SPD hat ja in ihren eigenen wahlkampfvorbereitenden Umfragen festgestellt, dass inzwischen 42 Prozent der Menschen in Deutschland der Union ein größeres Maß an Kompetenz in Sachen sozialer Gerechtigkeit zutrauen. Beides, Wirtschaftskompetenz und Sozialkompetenz gehört zusammen.
Quay: Die frühere Bundesregierung Helmut Kohl aus FDP und Union hatte auch mal 4,5 Millionen Arbeitslose. Wo sehen Sie denn konkret die Rezepte, um Arbeitslosigkeit zu verringern, dazu noch möglicherweise gegen die Gewerkschaften, die heute bei Gerhard Schröder sich sehr mit Kritik zurückhalten?
Rüttgers: Das Erste: Ich glaube nicht, dass die Union eine Politik gegen die Gewerkschaften machen sollte. Ich bin zum Beispiel dafür, dass wir nach einer gewonnenen Wahl das Bündnis für Arbeit fortsetzen. Es gibt zwar viel Kritik in Deutschland an dieser Einrichtung, nur - die Eliten des Landes und speziell diejenigen, die Verantwortung in der Wirtschaft tragen - das sind die Arbeitgeber, das sind die Gewerkschaften, das ist die Politik -, müssen sich über eine gemeinsame Strategie verständigen. Eines der großen Probleme dieses Landes ist, dass wir die Reformen ja in vielen Punkten noch gar nicht angepackt haben. Wenn Sie mal die Zeitungen in diesen Tagen lesen, dann habe ich manchmal das Gefühl, dass wir in diesem Wahlkampf immer noch dieselben Fragen diskutieren, die wir schon im Wahlkampf 1998 diskutiert haben. Da geht es um die Steuerreform, da geht es um die Renten, da geht es um die Gesundheitsreform. Die Tatsache, dass wir das diskutieren, zeigt übrigens, dass die Regierung Schröder diese Probleme nicht gelöst hat. Nehmen wir das Beispiel Steuerreform: Da ist eine Steuerreform gemacht worden, die hat in erster Linie die Großindustrie entlastet. Nur fünf Prozent der Menschen in Deutschland glauben, dass sie selbst durch die Steuerreform entlastet worden sind. Das ist ein Eindruck, der dadurch entsteht, dass die gleiche Regierung Schröder nicht nur die Steuern gesenkt hat, sondern gleichzeitig die Steuern erhöht hat - denken Sie an Tabaksteuer, an Benzinsteuer, an Ökosteuer, an Versicherungssteuer, so dass der normale Mensch im Portemonnaie nicht mehr Geld hat. Was wir brauchen - das wäre der erste konkrete Punkt für eine moderne Wirtschaftspolitik -, ist eine Steuerreform zugunsten des Mittelstandes. Da werden die neuen Arbeitsplätze entstehen, und nicht in der Großindustrie, die sehr stark aus internationalen Wettbewerbsgründen rationalisieren muss. Sie können das in all den Branchen - vom Maschinenbau über die Stahlindustrie, über die Automobilindustrie sehen. Der zweite Punkt ist die Schaffung eines Niedriglohnsektors. Das ist zwar ein furchtbares Wort, zeigt aber eines der ganz zentralen wirtschaftspolitischen Probleme des Landes auf. Wir haben im Dienstleistungsbereich ganze Sektoren, wo Arbeitsplätze nicht entstehen können - und wenn sie angeboten werden, nicht besetzt werden können, weil es für viele Menschen sich nicht lohnt, solche Arbeitsplätze anzunehmen. Da ist es dann einfacher und teilweise lukrativer für sie, Sozialhilfe zu nehmen und vielleicht zusätzlich sogar Schwarzarbeit dann hinzuzufügen. Der Niedriglohnsektor meint im Kern, dass die Sozialbeiträge, die ja bis zu 40 Prozent des Lohnes auffressen, dass die entweder ganz - im ganz niedrigen Einkommensbereich - oder teilweise - in einem linear progressiven Tarif - übernommen werden aus Steuergeldern. Die Ansprüche entstehen, das heißt, die Menschen sind genau so sozial abgesichert wie in allen anderen Modellen. Wenn man ein solches Modell einführt, dann kann man Hunderttausende neue Arbeitsplätze schaffen. Die Regierung hatte Anfang der Legislaturperiode im Bündnis für Arbeit über dieses Thema diskutiert, dann hat man nichts getan - Monate um Monate nichts getan. Jetzt unter dem Eindruck von 4,3 Millionen Arbeitslosen hat man die Debatte wieder aufgenommen, die Gewerkschaften waren dagegen. Man hat sich auf einen faulen Kompromiss verständigt, nämlich die Übertragung des sogenannten Mainzer Modells. Das schafft allenfalls, wie Experten sagen, 20.000 bis 30.000 Arbeitsplätze und hat wieder damit zu tun, dass die Politik der ruhigen Hand, die Bundeskanzler Schröder verkündet hat, letztlich das Eingeständnis ist, wirtschaftspolitisch nichts getan zu haben und damit zu scheitern.
Quay: Wenn CDU/CSU, Herr Rüttgers, oder SPD nach den Wahlen mit der FDP jeweils eine Regierung bilden können, sind Sie denn sicher, dass die Freien Demokraten der Union den Vorrang geben?
Rüttgers: Ich bin ganz sicher, dass, wenn die CDU mehr als 40 Prozent bekommt, die Freien Demokraten mit der CDU eine Regierung bilden. Das ist, Herr Quay, eine ganz spannende Frage, weil natürlich die Menschen, die zur Wahl gehen, auch wissen wollen: Kann ich mit meiner Stimme etwas bewegen. Gerade bürgerliche Wähler neigen dazu. Wenn sie das Gefühl haben, ich kann mit meiner Stimme nichts bewegen, gehen sie nicht zur Wahl. Oder sie sagen: Wenn es mit der CDU/CSU nicht geht, dann wähle ich halt FDP und versuche, den Schaden, den die SPD anrichtet, dadurch in meinem Sinne zu minimieren. Schauen Sie, bei dieser Wahl wird das anders sein. Die Umfragen zeigen eines ganz deutlich: Rot-Grün hat keine Mehrheit - unter keiner denkbaren Konstellation, was bedeutet, dass es auf der Linken nur eine Mehrheit gibt, die entweder von der PDS geduldet wird oder sogar die PDS einbezieht, wie das ja gerade in der Bundeshauptstadt Berlin erfolgt ist. Das heißt, Voraussetzung für eine bessere, eine andere Politik ist, dass die CDU über 40 Prozent bekommt. Dann reicht es mit der FDP. Sonst gibt es überhaupt keine Chance, einen Wechsel zu bekommen. Also, die Stärkung der CDU, der Union ist die zentrale Möglichkeit, wie man jetzt einen Wechsel in der Politik herbeiführen kann.
Quay: Herr Rüttgers, das Thema Zuwanderung ist noch nicht geklärt, weder in der Union selbst, noch in der Bundesrepublik. Wollen Sie dieses Thema aus dem Wahlkampf heraushalten, oder ist dieses Thema nicht ohnehin auf der Tagesordnung, auch wenn es ein Zuwanderungsgesetz gibt?
Rüttgers: Herr Quay, da bin ich der falsche Ansprechpartner für diese Frage, weil rot und grün es in der Hand haben, das Zuwanderungsgesetz, das der Bundesinnenminister vorgelegt hat, vor der Wahl einvernehmlich entschieden werden kann oder nicht. So, wie es jetzt vorliegt, ist es nicht akzeptabel. Die Bundestagsfraktionen werden sich in wenigen Tagen mit dem Innenminister treffen, um einmal auszuloten, wie viel Bewegung noch in dieser Diskussion ist. Ich persönlich würde es begrüßen, wenn es möglich ist, zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Aber da müssen rot und grün sich bewegen. Ihre Frage ist im zweiten Teil mehr als berechtigt. Auch dieses Zuwanderungsgesetz wird die Probleme, die wir in Deutschland haben, nicht lösen. Schauen Sie, wir haben als Union früher einmal den Fehler gemacht und haben unser Wollen in der Zuwanderungsfrage in den Satz gekleidet: "Deutschland ist kein Einwanderungsland". Dieser Satz war missverständlich und falsch, weil, während wir das gesagt haben, gleichzeitig Hunderttausende Asylbewerber nach Deutschland gekommen sind. Jetzt gibt es wieder Leute, die laufen herum und sagen: "Deutschland braucht Zuwanderung". Dieser Satz ist auch falsch. Mit Zuwanderung können Sie kein einziges der Probleme in Deutschland lösen, weder das Problem bei den Steuern, weder das Problem bei der Gesundheitsreform, noch das Problem bei der Rentenreform. Und es kann nicht richtig sein, angesichts von 4,3 Millionen Arbeitslosen jetzt billige Arbeitskräfte ins Land zu holen. Das ist eine falsche Strategie. Das Thema, das uns - gleich wie - erhalten bleibt, ist und bleibt die Integration der hier lebenden und der auch noch zu uns kommenden Menschen - es wird ja weiter Zuwanderung geben - in unsere Gesellschaft. Und das Thema ist auch nicht mit dem Zuwanderungsgesetz erledigt. Wenn Sie in dieser Woche an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Schächten zurückdenken, dann ist das so ein Urteil - das mag juristisch richtig sein, ich hab trotzdem das Gefühl, dass das Urteil von normalen Menschen nicht verstanden werden kann. Was sollen die denn eigentlich von Gerichten halten und denken, die auf der einen Seite sagen, man darf keine Kreuze in Schulklassen mehr aufhängen, man hat einen Anspruch, die entfernen zu lassen und kann das auch durchklagen, und auf der anderen Seite wird dann gesagt, Tiere dürfen aber gequält werden aus Gründen der Berufsfreiheit oder aus Gründen der Religion. Das passt nicht zusammen. Im Kern steht da - glaube ich - ein falsches Verständnis vom Zusammenleben in einer Gesellschaft dahinter. Multikulturelle Gesellschaften funktionieren nicht, das weiß man. Sie sind übrigens, wie Daniel Cohn-Bendit gesagt hat, brutal und hart und damit auch nicht erstrebenswert. Wenn man in Vielfalt und Einheit zusammenleben will - und das muss doch eigentlich unser Ziel sein -, dann muss es in unserer Gesellschaft drei Dinge geben, die gleich sind. Das sind die Spielregeln, die für alle gelten, das ist die Sprache, da muss man viel, viel mehr tun, und es muss so sein, dass jeder, der hier lebt, auch seinen Beitrag leisten muss zur Integration in diese Gesellschaft. Was nicht notwendig ist, ist, dass alle die gleiche Rasse und die gleiche Religion haben. Aber dieses Maß an Gemeinsamkeit in einer Gesellschaft ist erforderlich, wenn man gut zusammenleben will.
Quay: Nun gibt es neben der Zuwanderungsfrage noch ein Thema, bei dem die Union keine einheitliche Linie hat - bei der Frage des christlichen Menschenbildes der Union, dem Embryonenproblem. Wo werden sich die Ablehner und Befürworter treffen, und was schlagen Sie vor?
Rüttgers: Es gibt ja zwei Fragen, die in dem Zusammenhang von Bedeutung sind. Die eine Frage ist: Darf der Mensch alles das, was er kann? Und die Frage muss von der Union klar beantwortet werden: Nein! Es gibt Sachen, die wir nicht tun dürfen. Es gibt aber auch eine zweite Frage. Die Frage lautet, ob wir eigentlich schon alles können, was wir können müssten, um besser mit Hunger, Elend und Krankheit in der Welt fertig zu werden. Insofern verbietet sich eine einfache Antwort, weil beide Gedanken ein Stück weit in Widerspruch miteinander stehen. Konkret steht jetzt in wenigen Tagen im Deutschen Bundestag die Frage an, wie wir beim Import von Stammzelllinien aus dem Ausland verfahren wollen. Wir tun uns da schwer in der Union, es gibt da unterschiedliche Auffassungen. Ich glaube aber, dass es möglich ist, zu einer gemeinsamen Auffassung zu finden. Das Erste und Wichtigste, was man sich klarmachen muss, ist, dass nach dem geltenden Embryonenschutzgesetz es heute so ist, dass der Import von Stammzelllinien erlaubt ist, dass es keinerlei Beschränkung dafür gibt. Das heißt, man kann bestehende Stammzelllinien importieren, man kann aber auch Embryonen im Ausland töten und damit neue Stammzelllinien herstellen und die dann importieren. Das heißt, die Frage, die wir uns als verantwortliche Politiker stellen müssen, ist: Wollen wir eine Einschränkung dieser unbeschränkten Importmöglichkeit? Es geht also nicht in erster Linie bei der konkreten Entscheidung um die Frage, wie stehe ich generell zur Embryonenforschung, sondern: Im Ausland findet sie statt - und importieren wir jetzt, oder schränken wir das ein. Und ich empfehle uns eine Einschränkung - nicht eine totale Einschränkung, sondern eine teilweise Einschränkung. Ich will verhindern, weil für mich Embryonen menschliches Leben sind, dass im Ausland für deutsche Forschungsbedürfnisse Embryonen getötet werden. Nun gibt es aber bereits Stammzelllinien im Ausland, dafür sind Embryonen getötet worden, aber dies kann ich ja nicht mehr rückgängig machen. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten in vielen Gesprächen mit den Kirchen in Deutschland, mit Moraltheologen, mit Philosophen, mit Ethikern versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob ich eigentlich, wenn ich diese Stammzelllinien, die vor dem 9. August - das ist ein Stichtag, an dem der amerikanische Präsident eine Liste von Stammzelllinien im Ausland veröffentlicht hat -, also wenn ich diese damals schon bestehenden Stammzelllinien importiere, ob ich damit rückwirkend eine moralische Billigung für den Tod der Embryonen ausspreche. Meine Antwort ist "nein". Dadurch, dass ich diese Stammzelllinien benutze, rechtfertige ich nicht - moraltheologisch - die Tötung der Embryonen. Wenn ich dann also jetzt eine Lösung suche und finde, und sage, die damals bestehenden Stammzelllinien können importiert werden, aber es dürfen keine importiert werden, für die neue Embryonen getötet werden, dann tue ich etwas, was moralisch gerechtfertigt ist. Und ich habe gleichzeitig eine Möglichkeit, mit diesen vorhandenen Stammzelllinien die Forschung an alternativen Stammzelllinien, also adulten Stammzelllinien, fötalen Stammzelllinien, Stammzelllinien aus dem Knochenmark, dass ich die damit vorantreiben kann und damit dann auch Kranken besser helfen kann als ich dies heute kann. Es gibt also eine Möglichkeit, wo ich den Embryonenschutz auf der einen Seite mit den Forschungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten verbinden kann, ohne moralisch schuldig zu werden.
Quay: Die FDP macht Wirtschaft und Bildung zu ihren Hauptthemen. Welchen Stellenwert wird die PISA-Studie über den schlechten Bildungsstand der deutschen Jugend im Vergleich zu anderen Ländern für die Union einnehmen?
Rüttgers: Wir haben eben lange mit Recht über die Wirtschaftskompetenz diskutiert. Jeder, der sich mit Wirtschaftsfragen beschäftigt, weiß, dass das größte Gut, was wir in Deutschland haben, die Bildung und Ausbildung der Menschen ist. Wir sind ein Land ohne Rohstoffe, und wir werden in diesem neuen Jahrhundert uns wirtschaftlich nur behaupten können, wenn wir weiter die bestausgebildete Bevölkerung auf der Welt haben. PISA hat gezeigt, dass wir davon leider nach 30 Jahren ideologischer Schuldebatte weit von entfernt sind. Das heißt, wir brauchen jetzt eine große, eine - im Wortsinne - radikale Bildungsreform. Die Strukturen können nicht so bleiben wie sie sind. Es kann nicht dabei bleiben, dass wir hier in Nordrhein-Westfalen nicht mehr sicher sein können, dass Absolventen nordrhein-westfälischer Schulen rechnen, schreiben und lesen können. Es kann nicht dabei bleiben, dass die Lehrerkollegien immer älter werden. Es kann nicht dabei bleiben, dass in Nordrhein-Westfalen die Eltern jedes Jahr 400 Millionen Mark an Nachhilfeunterricht ausgeben müssen, bloß damit die Kinder halbwegs in der Schule mitkommen. Alles das zeigt, wie wichtig eine Reform ist. Wir müssen auch wieder den Mut zur Erziehung haben, wir müssen wieder klar durchsetzen, dass nicht nur irgendwelches Wissen vermittelt wird, dass dann übrigens häufig nachher gar nicht mehr abgefragt wird, weil die Leistungskriterien abgesenkt worden sind, sondern wir müssen auch wieder erziehen, weil gerade in der Wissensgesellschaft der Mensch die Fähigkeit haben muss, nicht nur zu sehen, welche Informationen es überhaupt gibt, welche Information richtig und welche falsch ist, sondern er muss in diesem richtig und falsch ja eine Bewertung vornehmen. Und das geht nur dann, wenn er auch in der Erziehung die notwendigen Werte vermittelt bekommen hat.
Quay: Sie haben beklagt, dass Sie in gewisser Weise den Kontakt zu den Kirchen verloren haben. Woran liegt denn das, dass der Kontakt schlechter geworden ist? Sind das die Kirchen, ist das die CDU?
Rüttgers: Das liegt an mehreren Gründen. Dahinter steckt eine gesellschaftliche Veränderung. Deutschland ist säkularer geworden. Die Anzahl der Menschen, die sich zu den christlichen Kirchen bekennen, ist zurückgegangen. Die Anzahl derjenigen, die noch engagiert sind in den Kirchen, ist zurückgegangen. Und das hat jetzt dazu geführt, dass auch zwangsläufig die Anzahl derjenigen zurückgegangen ist, die aus den Kirchen kommend sich danach in der Politik engagieren. Das heißt, es gibt in der CDU weniger kirchlich engagierte Menschen, und umgekehrt hat die CDU, die ja auch weniger Mitglieder hat, weniger Leute, die dann gleichzeitig irgendwo in den Kirchen engagiert sind. Die Kirchen sind deshalb nicht mehr, wie das in den 50er-60er Jahren noch war, das normale Rekrutierungsfeld für die Mitglieder der CDU. Wenn das so ist, dann muss die CDU begreifen, dass sie nicht mehr davon ausgehen kann, dass Christen grundsätzlich CDU wählen, sondern sie muss um jeden Christen werben. Sie muss ihre Politik auch so anlegen, dass sie deutlich macht, dass sie mit dem "C" nicht nur einen Namen hat, sondern dass damit verbunden ist eine wertebezogene Politik auf der Basis des christlichen Menschenbildes. Und das wird dann sehr konkret - übrigens für manche dann wieder ganz erstaunlich konkret. Beispiel: Wenn wir eintreten in der CDU für Religionsunterricht - das hat was mit Erziehung zu tun, wir sprachen gerade davon - dann gilt das zum Beispiel nicht nur für Katholiken und Protestanten, sondern dann muss das auch für Muslime gelten. Das heißt, etwa die Frage der Integration einschließlich eines sich langsam entwickelnden deutschen Islam ist eine solche wertegebundene Frage. Wenn wir damit über das Thema Zuwanderung diskutieren, dann müssen wir mit den Kirchen, die ja teilweise skeptisch zu der Haltung der Union in dieser Frage sind, diskutieren, wie wir denn bitte diejenigen, die zu uns gekommen sind, wie wir die in unsere Gesellschaft integrieren. Die Kirchen leisten da ja auch viel. Oder Biotechnik/Gentechnik haben wir diskutiert. Was wir brauchen, ist einen ganz, ganz breiten und ständigen Dialog. Der muss organisiert werden, weil er sich nicht mehr in den Personen einfach so ergibt.