Staatsakt zu 75 Jahren Grundgesetz
Rufe nach mehr Wertschätzung für Verfassung und Demokratie in Deutschland

Anlässlich der Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen des deutschen Grundgesetzes mehren sich Rufe nach mehr Wertschätzung für Verfassung und Demokratie. In Berlin wurde das Jubiläum mit einem Staatsakt gewürdigt.

23.05.2024
    Berlin: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht beim Staatsakt zu "75 Jahre Grundgesetz" auf dem Forum zwischen Bundestag und Bundeskanzleramt.
    75 Jahre Grundgesetz - Staatsakt mit Bundespräsident Steinmeier in Berlin (Michael Kappeler / dpa / Michael Kappeler)
    Vor den rund 1.100 Gästen bei der Festveranstaltung bezeichnete Bundespräsident Steinmeier das Grundgesetz als "geglückt, aber nicht auf ewig garantiert". Die Demokratie in Deutschland sei unter Druck geraten durch Kräfte, die sie schwächen und aushöhlen wollten. Deshalb seien alle aufgerufen, sich gegen Menschenverachtung, Hetze gegen Minderheiten und Hass einzusetzen. Das Grundgesetz garantiere Freiheit, sei aber zugleich auch ein Auftrag an alle Bürger.
    Steinmeier führte weiter aus, dass Deutschland nach Jahrzehnten von mehr Wohlstand, mehr Demokratie, mehr Europa, mehr Frieden und dem Glück der Deutschen Einheit jetzt einen epochalen Bruch erlebe. Mit Russlands Angriff auf die Ukraine sei der Krieg nach Europa zurückgekehrt, sagte Steinmeier. Zudem seien durch Pandemie, Inflation, Klimawandel und den Krieg im Nahen Osten Gewissheiten weniger geworden, die das Leben der Menschen geprägt hätten. Steinmeier warnte davor, den Kopf in den Sand zu stecken und sich von der Wirklichkeit zurückzuziehen. Wichtig sei vielmehr ein starker gesellschaftlicher Zusammenhalt trotz aller Unterschiedlichkeit.

    Buschmann (FDP) rät zu mehr Verfassungsoptimismus

    An dem Festakt nahmen unter anderem die Spitzen der fünf Verfassungsorgane teil. Neben dem Bundespräsidenten sind dies die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht - Bas, Schwesig und Harbarth - sowie Bundeskanzler Scholz. Die Berliner Philharmoniker spielten mehrere Stücke. Der Deutschlandfunk hatte den Staatsakt am Mittag live in seinem Digitalkanal "Dokumente und Debatten" übertragen. Vorausgegangen war ein ökumenischer Gottesdienst mit Beteiligung mehrerer Religionen in der St. Marienkirche. Am Wochenende folgt jetzt ein Demokratiefest im Berliner Regierungsviertel, am Samstag zusätzlich im alten Bonner Regierungsviertel, wo Steinmeier seinen dortigen Amtssitz, die Villa Hammerschmidt, öffnet.
    Im Vorfeld hatte Bundesjustizminister Buschmann der "Rheinischen Post" gesagt, den Deutschen täte ein wenig mehr Verfassungsoptimismus gut. All jenen, die die Demokratie infrage stellten, empfehle er einen Blick in die Welt: Es gebe keinen autoritären Staat auf der Erde, in dem man besser als in Deutschland leben könne.

    Zentralrat der Muslime erinnert an Schutz von Minderheiten durch das Grundgesetz

    Der ehemalige Bundestagspräsident Lammert sagte im Deutschlandfunk, kaum eine andere Verfassung auf der Welt sei so alt wie das Grundgesetz. Und mit 75 Jahren sei die Bundesrepublik inzwischen älter, als die drei vorausgehenden politischen Systeme, die es seit Gründung des deutschen Nationalstaates gegeben habe. Das sei eine bemerkenswert lange Strecke. Besonders erstaunlich nannte der CDU-Politiker den Einstieg mit dem Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Dies sei erkennbar keine Tatsachenbehauptung, sondern der Appell aus der Erfahrung, dass die Würde des Menschen antastbar sei. Dies nannte Lammert eine geniale Eröffnung für eine Verfassung.
    Der Zentralrat der Muslime erinnerte an den Schutz von Minderheiten und die Religionsfreiheit. Der Vorsitzende Mazyek betonte, dies stehe nicht nur auf dem Papier, sondern müsse immer wieder neu verteidigt und gelebt werden. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Schneider, sagte der Deutschen Presse-Agentur, das Grundgesetz regele das Miteinander durch Werte wie Fairness, Vielfalt und Zusammenhalt. Deshalb könne man es nicht genug feiern.

    Polizei sichert Staatsakt ab

    Der Staatsakt führte zu einem Großeinsatz der Polizei. Rund 1.000 Polizisten seien für die Sicherheit und zur Lenkung des Verkehrs im Einsatz, teilten die Behörden mit. So wurde der Bereich zwischen Bundeskanzleramt und den Bundestagsgebäuden gesperrt. Zudem gab es wegen des Gottesdienstes in der Marienkirche am Alexanderplatz Einschränkungen.
    Der 23. Mai 1949 markiert zugleich das Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland. Erinnert werden soll auch an die friedliche Revolution in der DDR, die sich in diesem Jahr zum 35. Mal jährt. Sie führte letztlich dazu, dass das anfangs nur für Westdeutschland geltende Grundgesetz zur Verfassung für ganz Deutschland wurde.

    Volksabstimmung über Grundgesetz

    Der ehemalige DDR-Außenminister Meckel schlug unterdessen vor, den vorläufigen Charakter des Grundgesetzes aufzuheben. Auch die Ostdeutschen hätten nun 34 Jahre mit dem Grundgesetz gut gelebt, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Man sollte Artikel 146 streichen. Dieser besagt: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
    Thüringens Ministerpräsident Ramelow, Die Linke, hatte zuvor in der "Frankfurter Allgemeinen" eine Volksabstimmung angeregt, um das Grundgesetz in eine deutsche Verfassung zu wandeln. So könne die "emotionale Fremdheit" Ostdeutscher mit dem vor 75 Jahren in Westdeutschland erarbeiteten Grundgesetz überwunden werden.
    Die Ministerpräsidenten von Brandenburg und Sachsen-Anhalt, Woidke (SPD) und Haseloff (CDU), lehnen eine Volksabstimmung über das Grundgesetz ab. Haseloff sagte dem Magazin "Stern", 75 Jahre nach seiner Verkündung sollte es nicht darum gehen, über das Grundgesetz abzustimmen, sondern vielmehr es weiter mit Leben zu füllen. Woidke betonte, es gebe weiterhin bestehende Ungerechtigkeiten zwischen Ost und West, die endlich abgebaut werden müssten. Von Volksabstimmungen zum Artikel 146 Grundgesetz habe aber kein Ostdeutscher etwas.
    Lesetipp: 75 Jahre Grundgesetz: Sollte unsere Verfassung modernisiert werden – oder nicht?
    Diese Nachricht wurde am 23.05.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.