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Rumäniens Vergangenheit
Verbrechen der Securitate werden aufgearbeitet

Zum ersten Mal seit dem Sturz von Nicolae Ceaușescu 1989 ist ein ehemaliger Gefängnisdirektor zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Dieser legte zwar Berufung ein, aber sein Fall gilt als Wendepunkt - Rumänien beginnt mit der Aufarbeitung seiner kommunistischen Vergangenheit.

Von Annett Müller | 04.08.2015
    Rumänische Studenten erinnerten 2009 in Bukarest an die Opfer der Revolution 1989.
    Rumänische Studenten erinnerten 2009 in Bukarest an die Opfer der Revolution 1989. (picture alliance / dpa / Foto: Robert Ghement)
    Rentner Octav Bjoza trägt trotz der Sommerhitze ein langärmliges Hemd, lange Hosen und festes Schuhwerk. Der frühere politische Häftling weiß, wie kalt es in den Räumen des ehemaligen Gefängnisses in Jilava ist. Dem 77-Jährigen folgt eine Gruppe neugieriger US-Studentinnen. Die braungebrannten Mädchen frösteln beim Rundgang in ihren Shorts. Es ist feucht, es riecht nach Schimmel. Lange wollen sie hier nicht verweilen. Bjoza hat in diesen Kellerräumen drei Monate verbracht: "So nass wie es heute hier ist, war es schon damals. Wir durften als Gefangene in der Zelle kein Wort miteinander sprechen. In dieser Grabesstille hörten wir die Schreie der anderen, die geschlagen wurden."
    Schätzungen zufolge gab es im kommunistischen Rumänien bis zu 120.000 politische Gefangene: Sie mussten in der Haftzeit bis zum Umfallen schuften, man ließ sie systematisch hungern, man folterte sie kaltblütig wegen ihrer Regime-Kritik. Nur knapp 3.000 von ihnen leben heute noch. Bjoza ist Chef ihres Opferverbandes. Er selbst wurde Ende der 50er-Jahre zu mehreren Jahren Arbeitslager verurteilt. An die Brutalität, die dort herrschte, kann er sich noch gut erinnern. "Wir hatten vor Hunger Steckzwiebeln gestohlen und wurden erwischt. Wir mussten sie alle auf einmal essen. Einer von uns schaffte das nicht. Der Chef des Arbeitslagers schlug ihn, bis er ohnmächtig wurde, dann trat er mit seinen Stiefeln auf ihn ein - immer auf sein Gesicht. Dieser Lagerleiter hat viele misshandelt. Wir alle wussten, dass er Häftlinge auch zu Tode geprügelt hat."
    Die Rede ist von Ion Ficior - dem einstigen Chef des Arbeitslagers im südrumänischen Periprava. Gegen ihn läuft jetzt ein Prozess - 55 Jahre nach den Ereignissen. Die Generalstaatsanwaltschaft macht Ficior für den Tod von über 100 politischen Häftlingen verantwortlich. Der Ex-Funktionär lebt in einem Block in der Innenstadt von Bukarest, wo die Wohnungen am teuersten sind. Geldnöte hat der 87-Jährige keine: Für seine Posten im kommunistischen Repressionsapparat erhält er eine üppige Rente. Sie ist fünfmal höher als eine rumänische Durchschnittsrente. Reden will Ficior über seine Vergangenheit nicht. Eine Interviewanfrage wimmelt er an der Gegensprechanlage ab. "Es ist besser, Sie lassen mich in Ruhe", sagt Ficior. "Ich bin müde und ich will nicht mit ihnen diskutieren."
    Besser spät als nie
    Noch Anfang 2014 wäre ein Prozess gegen Ficior und andere Gefängnisdirektoren undenkbar gewesen. Die Mehrheit der Regierungspolitiker hatte Ermittlungen fast ein Vierteljahrhundert verhindert, weil sie selbst vor 1989 zutiefst in den kommunistischen Repressionsapparat verstrickt war. Doch der stetige Druck von Opferverbänden, Zivilgesellschaft sowie der EU zeigte Wirkung: Die Archive wurden geöffnet und das Strafgesetzbuch abgeändert. Als Durchbruch bezeichnet das der Historiker Cosmin Budeanca vom Institut zur Erforschung der kommunistischen Verbrechen: "Wir haben als Institut schon vor acht Jahren Anzeige gegen zahlreiche Kommandanten von einstigen kommunistischen Gefängnissen gestellt. Doch die Justiz hat uns abgewiesen. Die Taten galten damals als verjährt. Das hat sich jetzt geändert. Ohne diese neuen juristischen Rahmenbedingungen hätten wir diese wichtigen Schritte nicht machen können."
    Ein rumänischer Gefängnisdirektor ist dieser Tage bereits in erster Instanz zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Ein ähnliches Strafmaß droht Ex-Lagerchef Ion Ficior.
    Geht es nach dem Willen des Instituts zur Erforschung der kommunistischen Verbrechen, dann sollen diese beiden Prozesse nicht die einzigen bleiben. Bis zu einer neuen Anklage könnte aber noch viel Zeit vergehen. Denn hinter jeder Anzeige steckt eine hundertseitige Beweissammlung, an der landesweit gerade mal eine Handvoll Historiker arbeitet. Opferverbände kritisieren, dass ihnen die Aufarbeitung viel zu langsam gehe. Die Schuldigen könnten derweil sterben und blieben ungestraft. Der 40-jährige Historiker Budeanca lässt sich von dieser Kritik nicht entmutigen: "Wir meinen, für diese Aufarbeitung ist es nie zu spät. Deshalb bringen wir die Schuldigen vor Gericht. Sollten sie schon verstorben sein, werden wir sie trotzdem nennen. Es ist dann immerhin eine Art symbolische Gerechtigkeit, dass die Öffentlichkeit von ihren Verbrechen auch post mortem erfährt."