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Rundlingsdörfer im Wendland
Kreisrunder Gruß aus dem Mittelalter

Rundlingsdörfer gab es im Mittelalter an vielen Orten. Aber nur im Wendland gibt es die um einen runden Platz gruppierten Siedlungen noch heute in großer Zahl. Maximale Öffentlichkeit vor dem Haus, Privatsphäre nur dahinter - über eine Siedlungsform, die eine ganz eigene Lebensweise mit sich bringt.

Von Gisela Jaschik |
    Rundlingsdörfer wie Klennow im Wendland sind typisch für Niedersachsen
    Im Kreis gebaut: Rundlingsdörfer wie Klennow waren früher weit verbreitet. (imageBROKER)
    Sie liegen abseits der Hauptstraßen und tragen märchenhaft klingende Namen: Mammoißel, Schreyahn, Meuchefitz, Salderatzen: Namen, die an die slawischen Einwanderer erinnern, die vor Jahrhunderten im Wendland siedelten. Hinein geht's oft nur durch eine Zufahrt zum großen Dorfplatz. In Jameln ist er eine Spielwiese mit Fußballtoren. Unter einer alten Kastanie laden Bänke und ein Tisch aus knorrigem Holz zum Verweilen ein. Rundherum: alte Bauernhäuser – deren schmucke Fachwerkgiebel mit der so genannten "Groot Dör" - dem großen Scheunentor zum Platz gerichtet sind:
    "Wenn wir hier sitzen, das ist das Typische. Eigentlich war das früher mal ne Milchbank hier. Es gibt so'n Schnack hier im Wendland: Die Männer gingen up Dörp. Das Dorf war der Dorfplatz."
    Ilka Burkhardt-Liebig ist Vorsitzende des Rundlingsvereins. Mit ihrem Lebenspartner Adrian Greenwood zog sie vor zwölf Jahren aus Südniedersachsen ins Wendland – nach Jameln. Seit 1681 steht ihr Zweiständerhaus mit dem verzierten Fachwerkgiebel im Rundling Nummer 4. Das Hundert-Taler-Haus, so viel kostete es laut Balkenspruch damals, ist eines der ältesten im Landkreis, ein architektonisches Kleinod, behutsam restauriert, ein Schmuckstück. Wohl ein gutes Dutzend alter Häuser stehen in Jameln in der Runde. Die Lehrerin im Ruhestand weiß es genauer:
    "Wir haben hier 13. Haben wir gerade durchgezählt."
    "Interessantes Phänomen von Distanz und Nähe"
    Wie Tortenstücke reihen sich die Höfe der niedersächsischen Hallenhäuser mit ihren engmaschigen Fachwerkfassaden in den Rundlingsdörfern aneinander. Stets mit den großen – oft blau oder grün gestrichenen – Dielentoren und den beiden Stalltüren links und rechts zum Dorfplatz:
    "Das heißt, man hat einen öffentlichen Raum, wo wir jetzt sitzen und einen privaten Raum hinterm Hof. Die Häuser stehen sehr dicht beieinander und trotzdem gibt es ein interessantes Phänomen von Distanz und Nähe. Man könnte sagen, es ist sehr eng. Aber wenn ich nach hinten gehe, sieht mich kein Mensch. Da hab ich meine Ruhe. Ich kann hinterm Haus machen was ich will."
    Die Häuser gruppieren sich in Rundlingsdörfern wie Satemin um einen zentralen Platz.
    Die Häuser gruppieren sich in Rundlingsdörfern wie Satemin um einen zentralen Platz. Privatsphäre gibt es nur hinten heraus. (imageBROKER)
    Warum die Dörfer einst in kuscheliger Runde erbaut wurden, ist unklar. Von Kultplätzen und Wehrdörfern slawischer Einwanderer war lange die Rede. Wahrscheinlich aber war es um Mitte des zwölften Jahrhunderts einfach modern so zu bauen, vermuten Forscher heute, sagt Ilka Burkhardt-Liebig:
    "Wir wissen, dass hier Slawen gewohnt haben. Das sieht man an den Dorf- und den Feldnamen. Aber es ist eine geplante deutsche Ansiedlung in dem Gebiet wo Slawen ansässig waren. Es war ursprünglich eine Hufeisenform. Das heißt, die offene Seite zum Acker, da konnte jeder kommen. Da war kein Schutz. Aber von hinten war Sumpf."
    Kirchen stehen außerhalb der Rundlinge
    Die kleinsten Rundlinge haben vier bis fünf Häuser, in den größten bilden 18 bis 20 Höfe einen Kreis. Seit den 1960er-Jahren standen in der dünn besiedelten Region immer mehr Gehöfte leer und verfielen. Sie waren der modernen industriellen Landwirtschaft nicht gewachsen. Etliche wurden ohne Sachverstand modernisiert und verschandelt. Typische Merkmale wie das enge Eichenfachwerk und Prunkgiebel verschwanden hinter Putz. Bis der Rundlingsverein 1969 mit der Idee Schlagzeilen machte, die ungewöhnlichen Dörfer als einzigartiges Kulturgut zu erhalten:
    "In den ersten Jahren hat man auch versucht, Gelder zu akquirieren, um Hausbesitzer zu unterstützen. Das ist dann in die Denkmalpflege nicht unter Schutz."
    Fördermittel flossen von Bund und Land. Häuser und Nebengebäude wurden unter Denkmalschutz gestellt und sorgsam restauriert: Aufwendig gefertigte Giebelfassaden mit fein geschnitzten Spruchbalken und filigranen Blumenmustern strahlen in neuem Glanz. Rund die Hälfte der 200 erhaltenen Rundlinge hat ihre ursprüngliche Form bewahrt. Mehr oder weniger rund oder oval, einige bunt gemischt mit Gebäuden aus verschiedenen Jahrhunderten. Wie beiläufig hingetupft liegen sie an Feldern und Wiesen, die meisten nahe der Kreisstadt Lüchow.
    Besucher radeln auf schmalen Wegen durch die weiträumige parkähnliche Landschaft und bestaunen die malerischen Dörfer: Lensian, Schreyahn, Prießeck, Göttien, Belitz und viele mehr. Manche nur einen oder zwei Kilometer voneinander entfernt. Auffällig: Keinen Platz in den Rundlingen haben Kirchen. Sie stehen – wenn überhaupt – grundsätzlich außerhalb. Die Wenden ließen sich erst spät christianisieren.
    "Ruhe und Stille und diese alten Häuser"
    In fast jedem Rundling wirtschaftet noch der eine oder andere Bauer, aber inzwischen sind die Höfe oft Feriendomizile für Großstädter aus Hamburg und Berlin, und beinahe überall genießen Künstler und Kunsthandwerker den besonderen dörflichen Charme. Nach Satemin mit seinen mehr als 20 prächtigen Bauernhäusern aus dem frühen 19. Jahrhundert locken Cafés, ein Atelier und eine Töpferei. Schreyahn hat einen Künstlerhof mit Stipendiatenwohnungen. Die Steinbildhauerin Doris Gessner fand in Köhlen ihr neues Zuhause. Ihr Traumhaus, wie die gebürtige Westfälin sagt. 1794 erbaut, ein Hingucker am Ortseingang des Rundlings:
    "Irgendwie hab ich mich verliebt, so spontan. Dieses Morbide und Alte, keine Gewerbegebiete, keine Industrie, Ruhe und Stille und diese alten Häuser. Das war genau das, was ich klasse fand."
    Köhlen wirkt besonders harmonisch: 13 prächtige Vierständer-Hallenhäuser gruppieren sich um den mehr als 50 Meter breiten, fast kreisrunden Dorfplatz:
    "Ja, der gehört zu den 19 Rundlingen, die zum Weltkulturerbe angemeldet worden sind, weil er auch noch sehr gut erhalten ist in seiner Form. Vor allen ist diese Tortenstruktur noch gut erhalten, wenn man von oben drauf guckt. Und viele Grundstücke haben noch diese alten Eichenwälder hinterm Haus."
    In der knorrigen Eiche hinterm ihrem Haus nisten seit kurzem wieder Weißstörche. Auf der Wiese vor dem Hof rückt Doris Gessner einen alten Gartentisch in den Schatten der Winterlinde. Die hölzerne Groot Dör am Giebel ist weit geöffnet. Der Eingang zum Werkstattatelier und zur Galerie der Künstlerin:
    "Das war früher die Einfahrt für die Heuwagen und Vieh. Das war ja Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. Die Wohnungen waren nach hinten ausgerichtet."
    Der Dorfplatz wird abwechselnd gemäht
    Wie heute auch, sagt die 67-Jährige. Die Dorfbewohner sehen einander eigentlich nur, wenn sie sich vor ihren Häusern aufhalten. Das sei praktisch und angenehm. Sie blickt auf die Dorfmitte:
    "Das ist der gemeinsame Dorfplatz. Da feiern wir auch ganz gern. Da ist ne Feuerstelle und bisschen Möbel, wo man sitzen kann. Da wechseln wir uns ab inzwischen. Jeder mäht einen Monat, da kommt man alle zwei Jahre dran und muss dann mal einen Monat den Dorfplatz mähen. Und das Stück vorm Haus muss man natürlich selber pflegen. Das ist öffentlicher Grund. Wir sitzen im öffentlichen Bereich, ja."
    Eine Mischung aus räumlicher Nähe, Zusammengehörigkeitsgefühl, gegenseitiger Hilfe und Toleranz, all das mache das Leben im Rundlingsdorf aus – für sie einfach ideal, sagt Doris Gessner:
    "Das ist wie eine WG, ohne dass man ne gemeinsame Küche hat. Es ist ne Dorfgemeinschaft mit Nähe und Distanz, so dass jeder gut klar kommen kann. Busse fahren auch durch. Aber die bleiben nicht stehen, fahren einmal die Runde, weil hier ja kein Café ist (lacht). Touristen fahren mit dem Rad durch oder auch mit dem Auto. Und da ich ja inzwischen eine Galerie hab, kommt der eine oder andere auf mein Grundstück. Jeder kann reinmarschieren. Ich freue mich auch, zu zeigen, wie schön das hier ist."
    In dem Rundlingsdorf Satemin (Kr. Lüchow-Dannenberg), typisch für das Wendland, schauen sich zwei Fahrrad-Touristen aus dem Kreis Gifhorn eines der im Kreis angeordneten Fachwerkhäuser an. Aufnahme vom 18.8.2003. Das Wendland ist aufgrund seines gut verzweigten Landwirtschaftswegenetzes, des geringen Verkehrsaufkommens und der malerischen Dörfer ein beliebtes Ausflugs- und Reiseziel für Radfahrer. | Verwendung weltweit
    Noch bis in die 1960er-Jahre verschwanden die typischen Fachwerkfassaden und Prunkgiebel regelmäßig unter Putz (Hans-Jürgen_Wege)
    Touristischer Magnet unter den Rundlingen im Wendland ist Lübeln mit seinem ungewöhnlich großen Dorfplatz. Die zwölf Hallenhäuser aus dem 17. bis 19. Jahrhundert wurden seit Mitte der 1970er-Jahre aus Fördermitteln renoviert. Auf einem Hof aus dem 18. Jahrhundert entstand das Rundlingsmuseum Wendlandhof. Ein Freilichtmuseum, das an Sprache und Eigenheiten der deutsch-slawischen Kultur erinnert – und das den Alltag der Dorfbewohner zunächst heftig durchrüttelte, wie Hanna Mieth sich erinnert. Die 81-jährige Altbäuerin kam Ende der 50er-Jahre durch ihre Heirat nach Lübeln. Plötzlich verstopften Reisebusse den Dorfplatz. Sie nickt vielsagend und verfällt spontan ins Wendländer Platt:
    "Midd'n op Dörp. Parkplätze harrn wi noch nich. De Kinner könn'n nich radfarn op Dörp, oder wer weit wat. Un wi, wenn wi ruutförn mit Trecker. De Kerls föhrt vorwech und moitn dat Heu dat Stroh tosom, un denn förten wi Fruen mid Trecker-Press un twei Wogns hinnaher. Alle Mann, so wör dat. Un da kom Ihnen eine Busladung entgegn. Glöiv man doch nich, dat dei wi de Schoop bisiet sprung harrn. Schafherde, die güng bisiet, aber düss Touristn nich. Dei dachten jo, wi moiken dat to Schau."
    "Gemütlichkeit wie im Rundling gibt es nirgends"
    Für die Besucher war eben ganz Lübeln ein Freilichtmuseum. Und so spazierten sie wie selbstverständlich von Hof zu Hof:
    "Jede Dör, dei open goht, güng'n se rin. Manchmal is dat hüüt noch sou, dat se frogn, ob wie ewentuell hier ouk'n Messa hebbn, domit ich jem dat Broud afschnien kann. Dei hebbn all dacht, wie köim hie angereist mit uns Kram. Nä, weil dat ja all Museum is. Also, bi uns wör immer Völkerwanderung."
    Längst hat der Rundling einen Besucherparkplatz vor dem Dorf. Die Touristen heute wissen und respektieren in der Regel auch, dass es neben dem Freilichtmuseum, Hotel und Café hier vor allem Privathöfe gibt. Und nun ist es einfach wieder idyllisch in ihrem Rundlingsdorf, sagt Hanna Mieth:
    "Das Besondere ist: Vor jedem Hof ist eine Bank. Un wenn wi obends ruutgüng nach Fierabend – up jeden Hoff weern ja Landwirte – denn goht man ruut, setzt sich dor'n Ogenblick vor Dör hen, un de Noarbor sett ouk doa: Oh, komm mal'n beten her. Diese Gemütlichkeit, die sie in einem Rundling haben, gibt es nirgends. Ouk wenn ju sidden dout in Runde ist gemütlich. Un so is dit hier ouk."
    Mit dem Weltkulturerbe klappt es bislang nicht
    An der Milchbank in Jameln verstauen Ilka Burkhardt-Liebig und Adrian Greenwood ihr Kaffeeschirr wieder im Picknickkorb. Ein kleiner Trecker tuckert vorbei, der Fahrer winkt herüber:
    "Ja, das ist ne sehr angenehme Dorfform. Vor allen Dingen ist es klein, aber man hat nicht das Gefühl, dass man aufeinander wohnt. Man hat diese Riesenplätze in der Mitte. Und wir lieben das hier. Hier drüben das ist von 1611, eines von den ältesten Häusern im ganzen Wendland. Und unseres ist 1681. Das war im relativ schlechten Zustand vor 25, 30 Jahren."
    "Man kann es nicht wirklich in Worte fassen: Man kommt auf so einen Dorfplatz und merkt: Da ist anscheinend irgendetwas was bedeutet, dass man da wohnen kann."
    Diese einzigartige Kulturlandschaft sollte unbedingt als UNESCO-Weltkulturerbe geschützt werden, sagt Ilka Burkhardt-Liebig. Bisher schafften es die Rundlinge jedoch nicht auf die deutsche Vorschlagsliste. Aber vielleicht klappt es bei der nächsten Nominierung. Das würde helfen, diese besonderen Dörfer für die Nachwelt zu erhalten und sie bekannter machen:
    "Schon erstaunlich, dass sie nicht wahrgenommen werden. Es ist so eine abgelegene Gegend, dass man sich nicht hierher verirrt. Es sei denn, man wird angesprochen, dass es da besonders schön ist, dass man da entschleunigt seinen Urlaub genießen kann."
    Vielleicht in Tolstefanz, Krummasel, Saggrian, Tüschau oder einem der vielen anderen Rundlinge mit ihren so märchenhaft klingenden Namen.