
Dirk Müller: Es soll überall offiziell im Land gesucht werden, Viktor Janukowitsch: wo hält er sich auf, der geflüchtete Präsident, der Ex-Präsident? Vitali Klitschko will dessen Nachfolger werden. Und was ist mit Julia Timoschenko? Wird sie auch antreten bei den Wahlen im Mai? Wird die Opposition, die inzwischen vielleicht eine Regierung ist, auseinanderfallen, wird sie gegeneinander agieren und ist das Land Pleite, Bankrott? Und was macht, was will Russland? Wie verhält sich die Europäische Union zu der ganzen Entwicklung?
Was will der Kreml nun machen mit der Ukraine? Das ist unsere nächste Frage. Dazu sind wir verabredet mit dem russischen Politikwissenschaftler Andrej Zagorski vom Moskauer Institut für Internationale Beziehungen. Guten Morgen!
Andrej Zagorski: Guten Morgen!
Müller: Herr Zagorski, hat Moskau einen ganz wichtigen Verbündeten verloren?
Zagorski: Wenn man von Präsident Janukowitsch redet, dann ist das offensichtlich so, und er ist ganz deutlich schon abgeschrieben. Und ich denke, Moskau hat im Moment keine klare Politik gegenüber der Ukraine, obwohl einige erste Entscheidungen sich abgezeichnet haben. Auf jeden Fall streitet Moskau die Legitimität der gegenwärtigen Regierung in der Ukraine ab. Die Frage ist, wie kann man dann die Legitimität wieder herstellen.
Müller: Sie haben mit Ja geantwortet auf die Frage, hat Moskau einen Verbündeten verloren? Mit Janukowitsch, der jetzt weg ist, ist der Verbündete weg?
Zagorski: Ja, und es gibt auch keine andere politische Struktur, insoweit auf jeden Fall, die den Platz ersetzen würde.
Müller: Das heißt, man hat auch immer nur auf Janukowitsch und die politische Elite um Janukowitsch herum gesetzt?
Zagorski: Das war der Draht, der auch zu funktionieren schien, jedenfalls für kurze Zeit zwischen 2010 und dann mit Abstrichen bis Dezember, und die Konstellation im ukrainischen Parlament, die unter Janukowitsch existierte, galt in Moskau als die günstigste, die man überhaupt sich vorstellen kann – nicht unbedingt die günstigste, aber auf jedenfalls die kooperative.
Russland wird Legitimität der gegenwärtigen Regierung nicht anerkennen
Müller: Gab es auch andere Stimmen in der russischen Politik, führende Stimmen, die gesagt haben, wir müssen das breiter definieren, wir müssen das breiter fassen, wir müssen auch die Opposition mit einbinden?
Zagorski: Natürlich wird sich die russische Politik neu justieren müssen. Natürlich wird sehr viel darüber gestritten, welchen Weg die Politik Moskaus gehen muss. Es gibt unterschiedliche Optionen, die erwogen werden. Auf jeden Fall ist klar: Moskau ist im Moment nicht bereit, mit der gegenwärtigen Regierung Geschäfte einzugehen. Das wird auch von anderen Experten bestritten.
Das zweite, was klar ist: Es gibt kein Zurück, nicht zuletzt, weil ja Herr Janukowitsch auch nicht zurück sein kann. Und dann kommt die große Frage: Worauf kann man dann in der Zukunft schauen? Ich denke, einen guten Ausweg, denn die Ukraine braucht dringend eine Stabilisierung, sei es politisch, sei es finanzpolitisch, sei es wirtschaftspolitisch. Ein wichtiger erster Schritt wird sein nicht die Präsidentschaftswahlen, sondern die Parlamentswahlen im Sommer.
"Janukowitsch war eine einzige große Enttäuschung"
Müller: Herr Zagorski, reden wir noch einmal über Präsident Viktor Janukowitsch, über den geflüchteten Präsidenten, über den Ex-Präsidenten. Könnte sich Russland vorstellen, diesem einstigen Partner zu helfen?
Zagorski: Das würde ich nicht gänzlich ausschließen. Aber einen großen Wunsch sehe ich auf Moskauer Seite auch nicht, denn er war eine einzige große Enttäuschung in der letzten Krise in der Ukraine für Moskau. Aber ganz ausschließen würde ich das auch nicht.
Müller: Warum war er eine große Enttäuschung? Er hat doch letztendlich den Weg in Richtung Putin eingeschlagen.
Zagorski: Die Enttäuschung kam natürlich mit der Krise in der Ukraine, denn Moskau würde natürlich davon ausgehen, dass er seine Position hält und dass er für Ordnung in der Ukraine sorgt. Er hat sich aus der Moskauer Perspektive als ein Schwächling ausgewiesen.
Müller: Weil er nicht auf Gewalt gesetzt hat?
Zagorski: Nicht unbedingt auf Gewalt. Man konnte das vielleicht auch mit anderen Mitteln versuchen. Aber wo er auch nicht ganz genau wusste, worauf er hinaus will und wie er mit der Krise umgeht, also Unentschiedenheit und keine Entschlossenheit in der Handlung, nicht unbedingt, was den militärischen Einsatz angeht, war er natürlich eine Enttäuschung für Moskau.
Müller: Herr Zagorski, wenn ich jetzt sage, nicht auf Gewalt gesetzt, dann stimmt das natürlich nicht ganz. Wir haben ja über die Gewalt in Kiew berichtet. Von 60, von 80, von 100 Toten war die Rede in den vergangenen Tagen. Wurde in Moskau auch ganz offen darüber berichtet?
Zagorski: Ja, es wurde offen berichtet, obwohl natürlich die Optik oft unterschiedlich war. Ich würde auch sagen, dass unterschiedliche Fernsehkanäle auch unterschiedlich darüber berichtet haben. Es hat auch sehr viele öffentliche Diskussionen im Fernsehen mit der ganzen Palette von Meinungen gegeben. Die meisten gingen natürlich in die Richtung, Janukowitsch muss hart durchgreifen und den Demonstrationen ein Ende setzen, auch unter Gewalteinsatz, aber das muss nicht unbedingt die Politik der Regierung in Moskau gewesen sein.
Unterschiedliche Blickwinkel aus Russland und dem Westen
Müller: War das für Sie auch so eindeutig? War das so, dass die Demonstranten, die radikalen Kräfte die Verantwortung trugen, getragen haben für die Toten?
Zagorski: Ja! Man berichtete von Toten auf beiden Seiten. Natürlich eingehender wurde berichtet über die Opfer auf der Seite der Polizei. Den Unterschied, den ich feststellen kann zwischen der Berichterstattung im Westen und in Russland, wäre der, dass Moskau immer die Rolle der radikalen Opposition betont hätte, mit dem Vorsatz, die politische Opposition, die nicht radikale politische Opposition sei übernommen worden durch die radikale. Das ist inzwischen nicht mehr die politische Manifestation, wie das früher der Fall gewesen ist.

Von der westlichen Berichterstattung kann ich mitnehmen, dass man zwar die zunehmende Bedeutung der Radikalen auf der Oppositionsseite auch festgestellt hat, die nicht mehr von der politischen Opposition gesteuert werden konnten, dann aber mit dem Schluss, man muss über eine politische Übereinkunft dieser Tendenz ein Ende setzen. Aber Stabilisierung wird noch kommen müssen in der Ukraine. Es ist noch nicht ganz klar.
"Moskau muss mit allen sprechen"
Müller: Wir sprechen im Deutschlandfunk mit dem russischen Politikwissenschaftler Andrej Zagorski. - Die nächste Frage nach vorne gezielt: Sie haben gesagt, es muss sich alles stabilisieren. Hat Moskau jetzt noch Ansprechpartner in dieser etwas undurchsichtigen politischen Situation? Mit wem redet jetzt Wladimir Putin?
Zagorski: Ich habe noch nicht gehört, dass er mit jemand in der Ukraine telefoniert hätte. Ansprechpartner gibt es natürlich immer. Die gibt es traditionell auch in östlichen Gebieten der Ukraine. Ich würde annehmen, die gibt es auch in gegenwärtigen Regierungskreisen, wenn es auch um inoffizielle Kontakte gehen würde, denn auch Julia Timoschenko ist nicht ganz neu für Moskau. Sie war auch ein bewährter Partner für Moskau vor einigen Jahren. Also ich würde davon ausgehen, dass Moskau mit allen spricht im Moment, aber sich noch kein klares Bild verschafft hat, nicht so sehr, wie das heute aussieht in Kiew, sondern wo es langgeht.
Müller: Also man wird da ganz pragmatisch vorgehen? Man wird ganz pragmatisch schauen, wer übernimmt die Macht, wer bekommt die Verantwortung, und dann ist das die neue legitime Regierung und Janukowitsch ist vergessen?
Zagorski: Ja. Das heißt, Moskau muss mit allen sprechen, Moskau muss noch ausmachen, mit wem man sprechen soll, wenn man Geschäfte erreichen will, und das ist noch unklar.
Müller: Geht es vor allem ums Geld? Geht es um die Milliarden?
Zagorski: Es geht nicht nur um Geld. Ich würde sagen, es geht auch weniger um Geld, insbesondere wo das Geld, das der Ukraine als Kredit gewährt worden war, in erster Linie für Rückzahlungen an die russischen Geldgeber gedacht war. Ich denke, es geht auch um die künftigen Machtverhältnisse und Mehrheitsverhältnisse im ukrainischen Parlament, ob die nationalen Stimmen die Oberhand haben, oder ob es einen Ausgleich gibt und eine ausgewogenere Koalition sich herausbildet. Das sind politische Prozesse, die noch nicht völlig absehbar sind. Deswegen gehe ich davon aus, dass über diesen heutigen Moment hinaus die Vorbereitung auf die Parlamentswahlen mit die wichtigste Sache ist.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der russische Politikwissenschaftler Andrej Zagorski vom Moskauer Institut für Internationale Beziehungen. Danke für das Gespräch, auf Wiederhören nach Moskau.
Zagorski: Gerne! Auf Wiederhören.
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