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Russland
Angeklagt trotz dürftiger Beweise

Am 6. Mai 2012 wurde Wladimir Putin in sein Amt als Präsident eingeführt. Damals kam es zu Massenprotesten, die in Gewalt umschlugen. Gegen mehr als zwei Dutzend Demonstranten wurde danach Anklage erhoben - obwohl Videos keinen Beweis für ihre Schuld liefern. Nun fallen die ersten Urteile.

Von Gesine Dornblüth | 31.01.2014
    "Stören Sie nicht die öffentliche Ordnung", warnt der Polizist. Die Kundgebung auf dem Manege-Platz am Kreml ist nicht genehmigt, die rund vierzig Demonstranten bleiben trotzdem. Uniformierte nehmen mindestens ein Dutzend von ihnen fest. Dabei tragen die Demonstranten teils nicht mal Plakate, nur eine kleine weiße Schleife der Opposition oder einen Button mit der Aufschrift "6. Mai".
    Der 6. Mai, das war der Tag, an dem eine Protestdemonstration am Bolotnaja-Platz in Gewalt umschlug. 2012 war das, am Vorabend von Putins Amtseinführung. Danach wurden rund zwei Dutzend Männer und Frauen verhaftet und vor Gericht gestellt. Die Laborantin Tatjana kommt immer wieder zu Solidaritätsaktionen für die Angeklagten. Noch hält sie ihr Plakat hoch. "Sie sind Opfer, nicht Täter", steht darauf.
    "Diese Leute sind absolut unschuldig. Videoaufzeichnungen beweisen das. Trotzdem sollen sie fünf bis sechs Jahre ins Gefängnis. Das ist Willkür. Das ist ein Verbrechen. Mir fehlen die Worte. Diese Strafsache ist die Rache Putins dafür, dass ihm die Demonstranten seine Amtseinführung verschandelt haben."
    Kurz darauf reißt die Polizei Tatjana das Plakat aus der Hand und führt auch sie ab. Tatsächlich wurden im Gerichtssaal im Rahmen der Beweisaufnahme stundenlang Videoaufnahmen der Geschehnisse am 6. Mai vorgeführt. Darauf waren zwar Gedränge, viele Polizisten und teils auch die Angeklagten zu sehen, aber meist hatten die Bilder nur sehr entfernt etwas mit dem zu tun, was den Angeklagten vorgeworfen wird: Geplante Gewalt gegen die Staatsmacht nämlich, ein Pogrom, bewaffneter Widerstand, aktive Teilnahme an Massenunruhen. Unabhängige Gutachten kamen, nachdem sie hunderte Videoaufnahmen und Zeugenaussagen ausgewertet hatten, zu dem Schluss: Es gab gar keine Massenunruhen. Die Staatsanwaltschaft sieht das anders.
    Staatsanwaltschaft fordert mehrere Jahre Haft
    Einer der Angeklagten ist der 34-jährige Artjom Savjolov. Er soll unter anderem staatsfeindliche Losungen gerufen haben, wie, "Nieder mit dem Polizeistaat". Sein Vater sagt, Artjom habe so etwas gar nicht rufen können, er stottere stark. Viktor Savjolov, ein weißhaariger Mann Ende 60, war an jedem Verhandlungstag im Gericht, um seinen Sohn zu unterstützen.
    "Wir sind zusammen gewandert, wir haben gemeinsam unsere Datscha gebaut. Und wir haben einander immer gesagt: Wir müssen Optimisten sein. Ein Mensch, der guter Dinge ist, gewinnt, selbst wenn man ihn schlägt. Artjom versucht, gesund zu bleiben. Im Gefängnishof macht er Gymnastik. In seiner Zelle hat er sich aus Wasserkanistern Hanteln gebaut. Manchmal sagt er jetzt: Papa, ich hab dir so viele Sorgen bereitet, wenn sie mich raus lassen, grabe ich den ganzen Garten um."
    Wann das sein wird, ist ungewiss. Die Staatsanwältin hat fünfeinhalb Jahre Haft für Artjom Sawjolow gefordert. Die Verteidigung bezeichnet die acht Angeklagten als Opfer der Umstände. Eine Anwältin zitierte in ihrem Schlussplädoyer den russischen Schriftsteller Michail Schwanetzkij. Der sagte einmal: "Verurteilt werden nicht die, die etwas verbrochen haben, sondern die, die man zu fassen kriegte."
    In der kommenden Woche erhalten die Angeklagten noch einmal die Gelegenheit zu einem letzten Wort. Bald danach wird das Urteil verkündet. Darüber, wie es ausfallen wird, wagt Wiktor Sawjolow keine Prognose.
    "Ich bin Ingenieur, ich bin gewohnt, zu reden, wenn ich Dinge verstehe. Bei diesem Prozess ist völlig klar, dass es um Objektivität überhaupt nicht geht. Und deshalb kann ich auch keine Schlüsse ziehen."
    Die Hausfrau Nina Chatschaturian, Teilnehmerin der Solidaritätsaktion auf dem Manege-Platz, ist optimistischer.
    "Entweder, sie bekommen ein Strafmaß, dass sie bereits in der Untersuchungshaft abgesessen haben, oder sie bekommen eine Bewährungsstrafe. Nicht, dass Putin ein guter Zar wäre; aber er muss vor Olympia Gnade zeigen."