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Russland
"Ein Schlag gegen die Religionsfreiheit"

Die Zeugen Jehovas sind seit einigen Tagen in Russland verboten. Die Begründung: Die Glaubensgemeinschaft sei extremistisch. DLF-Korrespondent Thielko Grieß erklärt, was diese Maßnahme bedeutet und warum die russischen Medien darüber schweigen.

Thielko Grieß im Gespräch mit Monika Dittrich | 24.04.2017
    Ein Schild am Eingang des russischen Verwaltungssitzes der Zeugen Jehovas in der Stadt Solnechnoye.
    Der Eingang des russischen Verwaltungssitzes der Zeugen Jehovas in der Stadt Solnechnoye. (picture alliance / Alexander Demianchuk / TASS / dpa / Alexander Demianchuk)
    Monika Dittrich: Die russische Verfassung ist eigentlich eindeutig: Es gilt Religionsfreiheit, alle Religionen sind gleichwertig und es gibt eine Trennung von Kirche und Staat. So steht es auf dem Papier. Aber wie sieht es in der Praxis aus? Gerade hat das oberste Gericht in Russland, auf Antrag des Justizministeriums, die "Zeugen Jehovas" verboten. Diese christliche Glaubensgemeinschaft hat nach eigenen Angaben weltweit etwa acht Millionen Mitglieder. Hierzulande sieht man sie schon mal auf der Straße oder an der Haustür missionieren – zum Beispiel mit ihrer Zeitschrift "Der Wachturm". Kritiker halten die "Zeugen Jehovas" für autoritär organisiert, in Deutschland allerdings sind sie wie die großen Kirchen als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. In Russland sind mehr als 100 000 Menschen von dem Verbot betroffen. Sie müssen künftig mit empfindlichen Strafen rechnen, wenn sie ihre Religion praktizieren. Ich bin jetzt mit unserem Korrespondenten Thielko Grieß in Moskau verbunden. Herr Grieß, wie wird denn das Verbot der "Zeugen Jehovas" begründet?
    Thielko Grieß: Es wird begründet mit dem Vorwurf des Extremismus. Extremismus geht zurück auf ein "Gesetz zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten". Der Extremismusbegriff ist in Russland nicht genau definiert. Das kann Verschiedenes sein, aus anderen Diskussionen und Politikbereichen wissen wir, dass auch zum Beispiel Internetnutzer schon einmal verurteilt worden sind für Kommentare in sozialen Netzwerken, wenn sie dort die russische Ukrainepolitik kritisiert haben oder etwa für die Behauptung, die annektierte Krim gehöre nicht zu Russland, sondern zur Ukraine. Zurück zu den "Zeugen Jehovas" - da ging es um Broschüren, die herausgegeben worden sind von den "Zeugen Jehovas". Inhalte sind extremistisch nach Auffassung des Gerichtes und die Haltung der "Zeugen Jehovas", Bluttransfusionen nicht zu erlauben, gehöre ebenfalls in den Bereich des Extremistischen.
    "In ganz Russland sind 175.000 Menschen betroffen"
    Dittrich: Wie beurteilen Sie diese Argumente? Halten Sie das für politisch motiviert?
    Grieß: Ich bin kein Verfassungsrechtler, aber ich vermute doch nach intensiven Recherchen in den vergangenen Tagen - die Entscheidung ist Donnerstagabend gefallen -, dass eine ähnliche Begründung, wie sie jetzt vor uns liegt, zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand hätte. Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, Sie haben es gesagt: Sie ist auch in Russland qua Verfassung geschützt. Und hier geht es um das Verbot einer ganzen Gruppe. Nach eigenen Angaben oder nach Angaben der "Zeugen Jehovas" sind in ganz Russland 175.000 Menschen betroffen. Wenn es tatsächlich Inhalte gibt, die andere Grundrechte gefährden, dann kann man ja zum Beispiel andere Schritte gehen: Dann kann man die Broschüren aus dem Verkehr ziehen oder man kann Einzelfälle anklagen, Individuen anklagen – aber eine ganze Gruppe zu verbieten ist ein - nach meiner Einschätzung - ein bedeutender, schwieriger und schwerer Schlag, nicht nur gegen die "Zeugen Jehovas" in Russland, sondern gegen die Religionsfreiheit in der russischen Föderation insgesamt.
    Dittrich: Ist die Religionsfreiheit in der russischen Öffentlichkeit überhaupt ein Thema? Wurde jetzt beispielsweise viel darüber berichtet? Wie wurde dieses Verbot aufgenommen?
    Grieß: Es ist wenig berichtet worden. In den großen, relevanten Zeitungen ist es notiert worden. Eine breite Debatte habe ich nicht erkennen können. In freien Sendern - wie dem im Internet zu sehenden Fernsehkanal "Doschd" oder im "Echo Moskaus" - ist auch kommentiert worden, kritisch auch kommentiert worden, erinnert worden daran, dass die "Zeugen Jehovas" auch schon in der Sowjetunion, unter Stalin, Deportationen zu erleiden hatten nach Sibirien. Dass sie auch, durch eine Entscheidung eines Moskauer Gerichts Anfang des Jahrtausends schon einmal verboten worden waren, bevor der europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg dieses Urteil aufgehoben hatte. Dann hatte es bis zur Wiederzulassung auch noch einiges gedauert. Und wichtig sind immer auch soziale Netzwerke, aber selbst dort habe ich - etwa auf Youtube, Facebook - keinen ganz großen Widerhall gefunden. Vielleicht noch eine Argumentation derjenigen, die das Verbot unterstützen: Da wird oft hervorgehoben, dass es sich bei den "Zeugen Jehovas" um eine aus den Vereinigten Staaten stammende Organisation handelt, mit großer Finanzkraft. Und das funktioniert gewissermaßen in Russland auf dem Narrativ, auf der Folie der Bedrohung der Unterwanderung aus den Vereinigten Staaten. Dass dort Organisationen nach Russland kommen, die man hier eigentlich nicht haben will.
    "Die russisch-orthodoxe Kirche kann sich entfalten"
    Dittrich: Welche Rolle spielt denn Religion in Russland und auch in der russischen Politik?
    Grieß: Es spielt eine nicht unbedeutende Rolle, aber ich würde sie auch nicht überschätzen. Es gibt zwar steigende Zahlen der Mitglieder, etwa der russisch-orthodoxen Kirche, die in Russland sozusagen, verzeihen Sie mit das saloppe Wort, den "Platzhirsch" spielt. Aber die Zahl derjenigen, die in die Kirche gehen, ist dann doch noch mal deutlich geringer. Es gibt aber eine Verbindung zwischen beiden Seiten, zwischen sozusagen der "offiziellen Kreml-Linie" und der russisch-orthodoxen Kirche, die zu beiderseitigem Nutzen führt. Die russisch-orthodoxe Kirche kann sich entfalten, sie bekommt auch indirekte Subventionen, sie bekommt Immobilien zurückerstattet, zum Beispiel darunter auch große, wichtige Kirchen und Klöster, deren Zahl wächst. Der Staat garantiert Personenschutz zum Beispiel des Vorstehers der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I., die Kirche bekommt Sendezeit im Staatsfernsehen. Und beide Seiten sind sich einig, wenn es um die Bewahrung sogenannter "traditioneller russischer Werte" geht. Beispiel Familienbild: Da geht es um eine traditionelle Familie, heterosexuell, Vater - Mutter - mehrere Kinder, da sind sich beide einig und propagieren dieses Leitbild in der Kirche, aber eben nicht nur in der Kirche, sondern gemeinsam auch im politischen Raum.
    Dittrich: Vielen Dank nach Moskau. Das waren Einschätzungen unseres Korrespondenten Thielko Grieß zum Verbot der "Zeugen Jehovas" in Russland.