Jeden Vormittag macht der 70 Jahre alte Dmitrij Pyslar Telefondienst im Moskauer Komitee der russischen Soldatenmütter. Normalerweise beantwortet der Ex-Soldat der Roten Armee und Menschenrechtsaktivist Fragen zum Sold, zur Wehrpflicht oder berät bei Missbrauchsfällen. Aber allein in den letzten zwei Wochen, sagt er, haben sich rund 300 Menschen gemeldet, deren Ehemann, Sohn, Bruder oder Enkel auf Militärübungen an die russisch-ukrainische Grenze geschickt wurden. Dann irgendwann meldeten sie sich gar nicht mehr. Dmitrij Pyslar vermutet: Die Soldaten mussten ihre Handys abgeben, weil sie in die Ukraine geschickt wurden. Auch Soldaten, die zurückgekehrt sind, haben das bestätigt.
"Den Soldaten ist verboten, zu sagen, wo sie sich aufhalten, aber Informationen sickern trotzdem durch. Eine Mutter hat mir am Telefon erzählt, dass ihr Sohn Stepan und sein Freund Andrej aus der 76. Division der Fallschirmjäger in der Region Pskow von ukrainischen Nummern zu Hause angerufen haben. Wieso haben die ukrainische SIM-Karten? Und wieso sollten sie mit denen aus Russland anrufen? Es ist doch klar: Die haben aus dem Kampfgebiet angerufen."
Berichte von geheimen Begräbnissen
Aus dieser Division in Nordwest-Russland tauchten vor rund zwei Wochen in kremlunabhängigen Medien und sozialen Netzwerken Informationen über geheime Begräbnisse von Soldaten in ihren Heimatdörfern auf. Als Journalisten die Friedhöfe besuchten, wurden sie von Unbekannten bedroht. Dann wurden die Namen und traditionellen Bilder der Gefallenen von den Grabsteinen entfernt. Ein oppositioneller Lokalpolitiker, der die Informationen als erster öffentlich gemacht hatte, wurde brutal verprügelt. Ein Kremlsprecher sagte: Man werde die Todesumstände der Soldaten überprüfen.
Ende letzter Woche berichtete das Staatsfernsehen das erste Mal über einen in der Ukraine gefallenen Soldaten. Aber man betonte, er sei heimlich in seinem Urlaub als Freiwilliger dorthin gefahren. Neben Angst spüren viele Angehörige von Soldaten deshalb Wut, sagt Pyslar:
"Ich habe aufgeschrieben, was die Mutter eines Soldaten aus Kostroma mir gesagt hat. Sie sagte: Ukrainische Soldaten, die von Russen getötet werden, werden in ihrem Land als Helden begraben. Unsere russischen Soldaten, die von Ukrainern getötet werden, werden wie Hunde begraben, ohne Fotos und ohne Ehre."
Angehörige haben Angst vor Repressalien
Die wenigen kremlkritischen Medien bemühen sich um Aufklärung: Der oppositionsnahe Fernsehsender Doschd hat die Aktion "Unsere Soldaten" gestartet und bittet Zuschauer darum, Fotos und Informationen über in der Ukraine verschwundene, verwundete und getötete Soldaten zu schicken. Knapp 35 Namen stehen bisher auf der Internetseite der Aktion. Fünf Mitarbeiter beschäftigen sich fast rund um die Uhr damit, die Hinweise zu verifizieren, sagt Doschd-Chefredakteur Michail Zygar.
"Wir wissen, dass das wichtig für alle Russen ist. Viele machen sich große Sorgen. Und wir wissen leider auch, dass die großen Medien sich damit überhaupt nicht beschäftigen. Deshalb fühlen wir uns verpflichtet, uns darum zu kümmern. Aber die Familien der Soldaten haben riesige Angst, auch die der Verstorbenen. Zum Beispiel davor, dass sie ihre Hinterbliebenenrente oder die ihnen zugeteilte Wohnung verlieren. Alle haben Angst."
Das merkt auch der ehemalige Soldat Dmitrij Pyslar immer wieder. Eine junge Frau, die seit mehr als drei Wochen auf ein Lebenszeichen von ihrem Bruder wartet, fragt er, ob sie bereit wäre, anonym eine deutsche Journalistin zu treffen. Sie lehnt ab:
"Wir wollen abwarten und die Situation nicht weiter verschlimmern. Wir wissen, wie heikel und geheim alles ist. Man hat uns gesagt, dass wir in den nächsten Tagen Nachricht bekommen würden. Wir warten einfach."
Hilfsorganisationen für Soldaten und ihre Familien schätzen, dass in den letzten Monaten insgesamt schon bis zu 10.000 russische Soldaten im Einsatz auf ukrainischem Territorium waren. Laut einer repräsentativen Umfrage sind 95 Prozent der Russen gegen eine militärische Intervention in der Ukraine. Aber immer mehr Familien von Soldaten müssen sich mittlerweile die Frage stellen, ob diese nicht schon längst begonnen hat.