Tatjana Netschepajewa tritt an das Panorama-Fenster im 13. Stock. Ganz oben in ihrem Hotel hat sie ein Restaurant eingerichtet, mit Blick über den Don. Das neue WM-Stadion ist zu sehen, die neue vierspurige Brücke, die dorthin führt, die neue Ufer-Promenade. Vor drei Jahren hat das Hotel eröffnet.
Eigentlich wollte sie es gar nicht bauen, aber dann fiel die Entscheidung für die WM, und Netschepajewa begriff das als Chance. Zeitweilig drohte ihre Investition allerdings zu scheitern. Netschepajewa erzählt:
"Während die Brücke über den Don renoviert wurde, waren alle Zufahrtsstraßen zu unserem Hotel gesperrt. Es wurden auch ständig Wasser, Strom oder das Telefon abgestellt. Dazu kam die wirtschaftliche Krise in Russland. Die Leute sind weniger gereist.
Wir mussten uns weiteres Geld leihen, die Banken sind uns entgegengekommen. Es war schwer, aber wir haben es überlebt. Ich hoffe, dass es von jetzt an leichter wird; dass wir nach der WM neue Möglichkeiten bekommen."
"Unsere Region ist bisher unterbewertet"
Bereits kurz vor der WM war ihr Hotel mit den Mannschaften eines internationalen Ringkampfturniers ausgebucht. Langfristig setzt Netschepajewa auf Geschäftsreisende und Touristen. Sie sagt:
"Wir haben hier eine sehr gute Logistik. Sotschi ist nicht weit, ringsum sind viele kleinere interessante Städte. Es gibt ja Leute, die gern nach Russland reisen. Moskau, St. Petersburg, der Goldene Ring und der Baikalsee sind bekannt, die Pfade dort ausgetreten. Unsere Region ist bisher unterbewertet."
Nach Angaben der Regierung des Gebiets Rostow sind umgerechnet rund 1,4 Milliarden Euro im Rahmen der WM in die Region geflossen. Das sind nur die offiziellen Zahlen. Rostow liegt demnach auf Platz 4 der Spielstätten, hinter Moskau, St. Petersburg und Samara. Am meisten Geld kostete der komplett neue Flughafen mitsamt Autobahnanschluss und neuen Zubringern.
In den letzten zwei Jahren haben sich mehrere internationale Unternehmen in der Region neu angesiedelt. Ein französischer Großkonzern baute ein Verladeterminal für Getreide am Don; ein US-amerikanischer Großkonzern eine Tierfutterfabrik in der Nähe des Flughafens.
Ausnahmezustand wegen Straßenschäden
Maksim Papuschenko, Wirtschaftsentwicklungsminister der Region, sieht einen Zusammenhang mit der WM: "Die WM hat der Wirtschaft einen Anstoß gegeben, ganz klar. Schon früher haben viele Ökonomen gesagt, dass wir in die Infrastruktur investieren müssen. Jetzt sieht es hier einfach ganz anders aus."
15 Prozent der öffentlichen Busse und Bahnen wurden im Rahmen der WM erneuert, ebenso fast die Hälfte der Krankenwagen, diverse Grünanlagen. Davon haben auch die Bürger etwas. Dazu kommen aber immense Ausgaben aus den öffentlichen Haushalten allein für die Betreuung der Fans. Die Fanmeile zum Beispiel wurde mit knapp 2,5 Millionen Euro veranschlagt, allein das kostenlose WLAN dort fällt mit 160.000 Euro ins Gewicht.
Die Journalistin Ksenia Presnikowa von der Zeitung "Kommersant" hat all diese Zahlen im Blick. Wieviel Geld von der Stadt Rostow, wieviel vom Gebiet, wieviel aus Moskau und wieviel von privaten Investoren kommt, bleibt auch für sie undurchsichtig. Sie berichtet, dass Geld anderswo fehle:
"Für die WM und ihr Image wird sehr viel Geld ausgegeben. Aber zugleich gibt es viele Probleme, die gelöst werden müssen. Zum Beispiel klagen die Bewohner der Stadt Taganrog über schlechte Straßen, der Gouverneur hat dort wegen der riesigen Löcher in den Straßen im Frühjahr sogar den Ausnahmezustand verhängt."
"Die WM war unsere Priorität"
Bei einem Großbrand im Zentrum von Rostow im vergangenen Sommer verloren rund 170 Familien ihre Unterkunft. Nicht alle seien entschädigt worden, berichtet die Journalistin Ksenia Presnikowa:
"Die Leute protestieren deshalb nicht. Sie freuen sich, dass Parks und Straßen gemacht werden. Aber sie haben Probleme, die sie mehr beschäftigen."
Und das sind soziale Fragen, die den Menschen überall in Russland Sorgen machen, besonders außerhalb der Metropolen: Steigende Preise, Korruption, die anstehende Erhöhung des Rentenalters.
Wirtschaftsentwicklungsminister Papuschenko betont, es seien keine Haushaltsposten zugunsten der WM gekürzt worden: "Die WM war unsere Priorität. Wir mussten einen Schwerpunkt setzen. Aber das wird sich langfristig auszahlen."
Der Krieg bremst den Umsatz
Die Hotelbesitzerin Tatjana Netschepajewa hofft, dass Rostow nach der WM einmal so gut besucht werden wird wie Sotschi dank der Olympischen Spiele; allerdings, so räumt sie ein, gäbe es ein Hindernis: Den Krieg in der Nachbarschaft, im Donbass. Bis dort sind es rund 150 Kilometer. Netschepajewa sagt:
"Das bremst die Entwicklung unserer Region sehr. Internationale Fluggesellschaften meiden unseren Flughafen, weil sie den Donbass umfliegen müssen. Das wird wahrscheinlich erst besser, wenn der Konflikt gelöst ist."
Ob die hohen Ausgaben für die WM sich für Rostow langfristig auszahlen, wird deshalb wesentlich von der künftigen Politik in Moskau abhängen.