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Russlandkenner Gross: Putin sollte Opposition nicht als Bedrohung verstehen

Die Menschen der Opposition, die gestern in Moskau gegen Präsident Putin demonstrierten, seien eine Riesenchance für den Wandel in Russland, sagt Andreas Gross, mehrfacher Beobachter der EU bei russischen Wahlen. Dass die Proteste überhaupt möglich waren, zeige, dass das Land sich verändert habe.

Das Gespräch mit Andreas Gross führte Japser Barenberg | 13.06.2012
    Moskau: Teilnehmer am "Marsch der Millionen"
    Moskau: Teilnehmer am "Marsch der Millionen" (picture alliance / dpa / Ramil Sitdikov)
    Silvia Engels: Gestern versammelten sich in Moskau Zehntausende Menschen, um zum ersten Mal seit der Wiederwahl Wladimir Putins zum russischen Präsidenten gegen dessen autoritäre Politik zu demonstrieren. Sie setzten sich dabei besonders gegen die jüngst beschlossenen Regelungen zur Wehr, die Versammlungen in Russland erschweren.
    Über die Entwicklung in Russland sprach gestern Abend mein Kollege Jasper Barenberg mit Andreas Gross, er ist sozialdemokratisches Mitglied des Schweizer Bundesparlaments. Zudem war er mehrfach Wahlbeobachter für den Europarat in Russland. Frage an ihn: Stärkt Putin mit seinem Konfrontationskurs die Protestbewegung, die er eigentlich schwächen möchte?

    Andreas Gross: Das ist durchaus möglich, weil seine Gewalt und seine Herrschaft ist eigentlich das, was die Demonstranten einigt. Also je härter er ist und umso rücksichtsloser er sie behandelt, umso geeinter können sie sein, und in dem Sinne ist es ein paradoxes Verhältnis zwischen der Opposition und Putin, weil die Opposition selber ist sehr heterogen und vielfältig, und wenn er den Dialog, den er selber ja heute wieder angemahnt hat, wieder wirklich mit ihnen führen würde, dann würde auch die Vielfalt, die gefährlich sein könnte für die Opposition, sichtbarer.

    Jasper Barenberg: Sie haben es gesagt: Die Opposition ist heterogen, vielfältig, es gibt Menschenrechtler unter den Protestierenden, Nationalisten, Umweltschützer, Anarchisten. Was außer der Gegnerschaft zu Putin eint denn die Kritiker?

    Gross: Ich glaube, die Grosse Botschaft seit dieser unverhohlenen Art, mit der Macht umzugehen, als Medwedew, der frühere Präsident und Putin am Parteitag der Grossen Partei, der Regierungspartei, im September sozusagen die Macht wie Leibchen getauscht haben wie die Fußballer am Ende eines Spiels, Premierminister und Präsident getauscht haben, das vor dem Fernsehen, das hat die Menschen so erniedrigt, das hat ihnen so gezeigt, dass sie als null, als Nuller gebucht sind in der Rechnung des Kremls, das hat sie so empört, dass sie wie in vielen anderen Ländern auch gesagt haben, wir lassen uns unsere Stimme nicht nehmen, wir lassen uns nicht ignorieren, wir lassen die Wahlen uns nicht stehlen, und das eint sie bis heute und das hat dann auch zur mangelnden Legitimation dieser neuen Präsidentschaft Putins geführt.

    Barenberg: Können Sie denn als Schlussfolgerung der Aktion heute bereits sagen, dass der zuletzt ja beobachtete Zerfall der außerparlamentarischen Opposition fürs Erste gestoppt ist?

    Gross: Ich bin überzeugt, dass dieser Zerfall gestoppt ist, und zwar muss man ja auch differenziert sehen: Putin hat nicht mit aller Gewalt zugeschlagen, wie das noch im Mai der Fall gewesen ist. Einerseits hat er die Anführer drangsaliert, er hat sie zum heutigen Moment der Demonstration in Polizeiposten zitiert, einer, Mentschow, hat die Vorladung zur Polizei auf der Demonstration, auf der Bühne, auf der Rednerbühne bekommen. Er ließ sie aber demonstrieren, er hat nicht die schlimmste Geheimpolizei oder die brutalste Polizei auf sie losgelassen, sondern Straßenpolizisten im Feiertagsgewand mit weißen Hemden. Da zeigt sich eine Ambivalenz, weil an sich – und das sollte er begreifen – sind diese Menschen, diese engagierten Menschen eine Riesenchance für Russland, die Reformen, den Wandel zu realisieren. Sie bieten ihm die Legitimation für den notwendigen Wandel, und in dem Sinne ist der heutige Tag ein guter Tag für die Opposition und es ist vielleicht noch eine letzte Chance für Putin, mit dieser Opposition weise, staatsmännisch, klug umzugehen und sie als Chance und nicht als Bedrohung zu verstehen.

    Barenberg: Ein guter Tag für die Opposition, sagen Sie. Muss man nicht auf der anderen Seite aber auch konstatieren, die Protestbewegung ist insgesamt jedenfalls zu schwach, um den Kreml wirklich unter Druck zu setzen?

    Gross: Sehen Sie, das ist für uns sehr einfach zu sagen, aber unter diesen Umständen – wir hätten vor einem Jahr nie gedacht, dass das überhaupt möglich ist in Russland, und in dem Sinne ist Russland heute anders als noch vor einem Jahr und sie sind nicht mehr so präsent, so stark wie im Winter, als in der Zwischenzeit zwischen der Duma-Wahl oder Präsidentschaftswahl. Aber dass sie heute doch wieder so das hingekriegt haben, und auch: Wir dürfen nie vergessen, es gibt bereits eine Stadt, eine Grossstadt, Jaroslaw, wo ein Oppositionspolitiker Bürgermeister geworden ist mit 70 Prozent Mehrheit, wo die Regierungspartei Putins in einer ganz kleinen Minderheit ist, und es gibt jetzt auch die Tendenz, nicht nur in Moskau zu demonstrieren, sondern die regionalen und lokalen Wahlen zu gebrauchen, um den Leuten zu zeigen, dass eine Alternative möglich ist, und ihnen auch eine Alternative zu ermöglichen. Da würde ich ein bisschen vorsichtiger sein, auch bescheidener und diese Opposition unterstützen und nicht einfach vom Schachbrett sagen, ihr könntet eigentlich ein bisschen stärker sein.

    Engels: Jasper Barenberg im Gespräch mit Andreas Gross, er ist Schweizer Beobachter russischer Wahlen für den Europarat.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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