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Sachbuch
Die Vision vom modernen Schlaraffia

Ein Leben im Überfluss für alle? Der Sozialphilosoph und Ökonom Jeremy Rifkin hält das für möglich. In seinem Buch "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft" beschreibt er das Ende der Knappheit und auch des heutigen Kapitalismus. Rifkins Überzeugung: Konsumenten werden immer mehr selbst zu Produzenten.

Von Caspar Dohmen | 18.08.2014
    Passanten tragen in der Münchner Innenstadt ihre Einkäufe.
    Rifkins These: Künftig schrumpfen die Gewinnmöglichkeiten der Kapitalisten dermaßen, dass in vielen Bereichen schlicht die Geschäftsgrundlage entfällt. (dpa / Frank Leonhardt)
    Wenn es um das Leben und Arbeiten der Menschheit in naher Zukunft geht, hat der Sozialphilosoph Jeremy Rifkin schon einige Male früh folgenschwere Entwicklungen richtig analysiert, beispielsweise 1995, als er in "Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft" die Folgen der Automatisierung beschrieb. Für sein neues Werk wählt er einen sperrigen Titel: "Die Null-Grenzkosten Gesellschaft".
    Das klingt trocken, hält aber hoffentlich niemanden vom Lesen ab. Denn das Buch ist spannend und wichtig und bietet interessante Analysen sowie inspirierende Gedanken. Rifkin läutet darin die Totenglocke für den Kapitalismus, der für uns selbstverständlich geworden ist. Seine These: Künftig schrumpfen die Gewinnmöglichkeiten der Kapitalisten dermaßen, dass in vielen Bereichen schlicht die Geschäftsgrundlage entfällt. Rifkin begründet dies mit der Entwicklung der Grenzkosten. Ein Begriff aus der Betriebswirtschaftslehre: Als Grenzkosten bezeichnen Ökonomen die zusätzlichen Kosten, die bei der Produktion eines weiteren Computers, Autos oder sonstigen Wirtschaftsgutes anfallen, beispielsweise die Rohstoffkosten. Sie sind damit von den Fixkosten der Produktion zu unterscheiden. Ein Unternehmer bemüht sich, die Grenzkosten zu senken, um im Wettbewerb bestehen und Gewinne erzielen zu können. Rifkin geht jedoch davon aus, dass die Grenzkosten für die Produktion vieler Güter und Dienstleistungen dank des technologischen Fortschritts künftig nahezu gegen Null tendieren werden und schreibt.
    "Sinken die Grenzkosten auf nahezu null, verschwinden die Profite, da die Preise für Güter und Dienstleistungen nicht an den Markt gebunden sind. Man bekommt sie im Grunde umsonst. Und wenn so gut wie alles fast umsonst zu haben ist, verliert die operative Grundlage des Kapitalismus als Organisationsmechanismus für Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen ihren Sinn. Was daran liegt, dass die Dynamik des Kapitalismus auf der Knappheit basiert. Solange Ressourcen, Güter und Dienstleistungen knapp sind, haben sie Tauschwert (...) Wenn jedoch die Grenzkosten der Produktion dieser Güter und Dienstleistungen gegen null gehen und sie damit praktisch umsonst sind, verliert das kapitalistische System seinen Einfluss auf die Knappheit und damit die Fähigkeit, von der Abhängigkeit eines anderen zu profitieren."
    Rifkin rechnet mit Comeback der sozial-ökologischen Gesellschaft
    Eine Gesellschaft, in der alle Menschen im Überfluss leben können? Das dürfte in den Ohren der meisten Menschen realitätsfern und erschreckend zugleich klingen. Realitätsfern, weil der Mangel das Dasein vieler Menschen auf der Erde bestimmt. Erschreckend klingt die Prognose Rifkins, weil die Produktion des Massenkonsums schon heute deutlich mehr Ressourcen beansprucht, als auf der Erde nachwachsen können.
    Rifkin ist jedoch beileibe kein Zyniker, vielmehr zeichnet er das Bild einer lebenswerten sozial-ökologischen Gesellschaft, die sich am Horizont auftut, einer Gesellschaft, in der statt Konzernen und Kapitalisten zunehmend "kollaborative Commons" die Produktion übernehmen und nachhaltig organisieren. In der vorkapitalistischen Zeit hat diese Organisationsform der Wirtschaft, bei der es um Hilfe für andere oder Selbsthilfe in der Gemeinschaft geht, eine zentrale Rolle gespielt. Im Kapitalismus ist sie nur noch ein Nebenschauplatz, findet sich in karitativen Einrichtungen, Erzeuger- und Verbrauchergemeinschaften, Stiftungen oder Genossenschaften. Rifkin erwartet ein Comeback.
    "Die neuen Commons sind weit mehr als nur eine politische Bewegung. Sie stehen für einen tief greifenden gesellschaftlichen Umbruch, der wahrscheinlich nicht weniger bedeutend und dauerhaft sein wird als der, der die Gesellschaft zu Beginn der kapitalistischen Ära aus einer theologischen in eine ideologische Weltsicht katapultiert hat."
    Rifkin geht davon aus, dass Konsumenten allein oder in Gruppen große Teile der Produktion selbst übernehmen, als sogenannte Prosumenten. Die Voraussetzungen dafür schaffe die dritte industrielle Revolution, die bereits eingesetzt habe.
    Dieses Phänomen hat er vor ein paar Jahren bereits in einem Buch ausführlich beschrieben. Gravierende Veränderungen einer Wirtschaftsordnung gibt es laut Rifkin immer dann, wenn der Menschheit in drei Bereichen bahnbrechende Neuerungen gelingen: bei der Kommunikation, der Energieerzeugung und dem Transportsystem. Der Buchdruck, die Dampfkraft und die Erfindung der Eisenbahn trieben demnach die erste industrielle Revolution voran. Den Schub für die zweite industrielle Revolution brachten das Erdöl als Treibstoff sowie die Erfindung des Telefons und des Autos.
    Als Treiber der dritten sieht Rifkin das Internet, welches zunehmend intelligent und dezentral funktioniere, ob für die Herstellung von Energie, die Produktion der Güter selbst oder deren Transport. Der Ökonom geht davon aus, dass die Preise für Kommunikation, Energie und Transport drastisch fallen werden. Was bislang wirtschaftlich nur in großen Fabriken erzeugt werden konnte, lohne sich künftig dezentral herzustellen, beispielsweise mit einem 3D-Drucker. Die Massenproduktion werde abgelöst durch die Massen, die selbst produzieren, schreibt Rifkin.
    "Heute ermöglicht die Kommunikation/Energie-Matrix der dritten industriellen Revolution es dem Konsumenten, selbst zum Produzenten zu werden. Die Prosumenten wiederum arbeiten zunehmend zusammen, teilen Güter und Dienstleistungen in global vernetzten Commons bei nahezu keinen Grenzkosten und sprengen damit die Mechanismen des kapitalistischen Marktes. In dem sich entfaltenden wirtschaftlichen Zusammenstoß zwischen Kollaboristen und Kapitalisten manifestiert sich ein kultureller Konflikt, der vermutlich in den kommenden Jahren das Wesen der menschlichen Entwicklung neu definiert. Und wenn es ein Thema gibt, das dem sich abzeichnenden kulturellen Narrativ zugrunde liegt, dann ist es die 'Demokratisierung von allem'."
    Die Rache der Konsumenten
    Rifkin ist trotz solch utopisch anmutender Beschreibungen ein Realist. Er beobachtet sehr wohl, dass in der Wirtschaft noch keinesfalls dezentrale Genossenschaften, sondern riesige Konzernen bestimmen, ob Google, Apple oder Amazon. Aber Rifkin hält es für möglich, dass die Menschen solche Konzerne in die Schranken weisen werden. Allein schon deswegen, weil sie es ungerecht finden, dass sie selbst in großem Umfang digitale Güter produzieren, aus denen solche Internetkonzerne dann aber den Gewinn ziehen.
    Die Analyse des Gründers der Washingtoner Denkfabrik Foundation on Economic Trends über die Rolle bahnbrechender Technologien ist glänzend. Ob der Leser sich nach dieser spannenden Lektüre den gesamten Schlussfolgerungen des Autors anschließen mag, das steht auf einem anderen Blatt. Aber auf jeden Fall profitiert jeder Leser von der interessanten Sicht Rifkins auf die Wirklichkeit und deren Möglichkeiten.
    Jeremy Rifkin: "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus"
    Übersetzung: Bernhard Schmid
    Campus Verlag, 525 Seiten, 27 Euro
    ISBN: 978-3 593-39917-1