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Sachbuch
Von Ballonhosen und der neuen Beinfreiheit

Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken beschreibt in "Angezogen. Das Geheimnis der Mode" die Geschichte der Mode in Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel. Eine anregende, unterhaltsame und lehrreiche Lektüre mit überraschenden Beobachtungen.

Von Christel Wester | 12.01.2014
    Beine von drei Frauen, die auf einer Straße gehen, alle in kurzen Hosen
    Die beinfreie Mode haben sich Frauen von den Männern angeeignet, meint Barbara Vinken. (dpa/picture alliance/Frank Leonhardt)
    "Eine etwas andere Geschichte der Mode": So hat Barbara Vinken programmatisch ihr erstes Kapitel überschrieben. Mode ist für sie keine kurzfristige Äußerung des Zeitgeistes, sondern ein komplexes Zeichensystem. Dessen Strukturmuster analysiert die Literaturwissenschaftlerin wie einen alten Text, der durch verfremdende Überlieferungen in die Gegenwart gelangt ist und jetzt neu gelesen wird. So beginnt Barbara Vinken ihre Modeanalyse mit einer Straßenbeobachtung in Manhattan am Washington Square. Wie unter einem Brennglas wird hier ein Phänomen augenfällig, das die Autorin auch in anderen westlichen Metropolen bereits beobachtet hat. Hier nur fällt es besonders prägnant ins Auge. Es ist ein Phänomen, das die weiblichen Silhouetten betrifft - oder besser: sie sogar komplett beherrscht.
    Bei den weiblichen Silhouetten geht es nur um Beine, Beine, Beine. Lang, sehr lang, oft bis zum Schritt sichtbar. Beine in Leggins oder engen Hosen, Beine mit blickdichten Strümpfen in Shorts oder sehr kurzen Röcken.
    Die neue Beinfreiheit
    Natürlich denkt Barbara Vinken bei Frauenbeinen in New York auch an Marilyn Monroe, wie sie in Billy Wilders "Das verflixte siebte Jahr" über dem U-Bahn-Schacht steht und der kalte Luftzug ihr den Rock hoch bläst. Der kokette Versuch, das wild flatternde Stück Stoff zu bändigen und sich so vor der Entblößung zu schützen, machte sie zur erotischen Ikone des 20. Jahrhunderts. Die Frauenbeine jedoch, die Barbara Vinken nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts in New York und anderswo beobachtet, sind anders.
    Diese Beine haben offensichtlich wenig gemein mit den klassischen Frauenbeinen, die in durchsichtigen, hauchdünnen Strümpfen durch das Spiel von Nacktheit und Verhülltsein bestimmt waren.
    Diese neuen Beine stecken nicht mehr im durchsichtigen Nichts des Nylonstrumpfs.
    Netz und Häkel, aufwendige Spitze, raffinierte Muster und bestickte Strümpfe, dicke bunte Wollstrumpfhosen, Leggins und Overknees haben den Strümpfen und Strumpfhosen ein viel größeres Eigengewicht gegeben. Nicht das nackte Bein, das durch den Nylonstrumpf noch seidiger wirken sollte, sondern das angezogene, geschmückte, bestrickte Bein trat in den Vordergrund.
    Und auch der Rock hat in der superkurzen Variante seine ursprüngliche Bestimmung verloren.
    Aufgabe des Rocks war es, das Bein nur bis zu einem bestimmten Punkt bloß zu legen und das Geschlecht zu verhüllen. Diese Funktion ist bei den Beinen, die über den Washington Square laufen, irrelevant geworden. Das weibliche Geschlecht ist als Schamzone aus dem Blick geraten. Was da ausschreitend, bestimmt auftretend über den Platz geht, ist eine neue Art von Bein, das seit gut zehn Jahren das Straßenbild bestimmt.
    Solche langen Frauenbeine hat es noch nie gegeben in der Geschichte der Mode, sagt die Autorin und stellt eine überraschende These auf: Die neuen Beine der Frauen sind die alten Beine der Männer.
    Mode von Männern übernommen
    Für die Hose klingt das einleuchtend, aber für das Frauenbein im Minirock? Ausgerechnet dieses Symbol für weibliche Attraktivität und Sexyness sollen die Frauen von den Männern übernommen haben? Barbara Vinken blickt in ihrer Kulturgeschichte der Mode weit zurück. Ihre Quellen sind nicht nur Straße und Laufsteg der Gegenwart, sie nutzt Fotografien der Prêt-à-porter-Schauen von den 1950er-Jahren bis heute, sie schaut Filme, liest Romane des 18. und 19. Jahrhunderts. Und sie geht ins Museum. Zu ihren Quellen gehören auch die Gemälde der flämischen und italienischen Renaissance. Ausgerechnet hier findet sie ein erstes Indiz, das ihre These bestätigt. Das lange, schlanke, deutlich sichtbar bestrumpfte Bein hat seinen Ursprung in der Militärkleidung des 16. Jahrhunderts.
    Zur Zeit Kaiser Karls V. ragt dieses lange, schlanke, bestrumpfte Bein weniger farbenfroh, eher monochrom, aber ebenso klar konturiert unter einem kurzen Ballonrock, der Heerpauke oder unter einer eng anliegenden, kurzen Oberschenkelhose hervor. (…) Karl V. zeigte in kostbaren, fein gestrickten Strümpfen "wunderschöne Beine". Diese Strümpfe, auch Tricothosen genannt, zierten hin und wieder sogar zarte Stickereien.
    Originelle Perspektiven und detaillierte sinnliche Beschreibungen machen Barbara Vinkens Kulturgeschichte der Mode zu einer überaus anregenden, ebenso unterhaltsamen wie lehrreichen Lektüre. Mit Witz und Esprit streut sie in Nebenbemerkungen Informationen ein, die vor dem inneren Auge des Lesers ein regelrechtes Historiengemälde erscheinen lassen. So erfährt man zum Beispiel, dass unter Elizabeth I. im britischen Parlament die Sitze verbreitert wurden, um den Herren in ihren voluminösen ballonförmigen Heerpauken den nötigen Platz einzuräumen. Oder dass unter Ludwig XIV. hohe Absätze und rote Schuhsohlen per Edikt zu einem königlichen Privileg wurden: Nur der Hof durfte auf hohen Hacken stöckeln, wobei auch dieses Statussymbol natürlich wieder nur für die Männer galt. Kleidung und Mode, das führt Vinkens Darstellung deutlich vor Augen, waren immer Medien der Machtbehauptung, der Repräsentation und der Distinktion. Und das gilt bis heute. Mit leichter Hand gelingt der Autorin der Schwenk vom Historiengemälde in die Gegenwart. Für rote Sohlen zum Beispiel zog unlängst der Modedesigner Christian Louboutin vor Gericht, um sich das einstige königliche Privileg zu sichern: Rote Sohlen sind nun alleiniges Markenzeichen des Labels Louboutin. Und als solche haben sie natürlich ihren Preis. Damit sind die roten Sohlen erneut zu Statussymbolen geworden, heute allerdings repräsentieren sie nicht mehr den männlichen, sondern den weiblichen Gesellschaftsstatus.
    Trend zum Unisex
    Männermode, Frauenmode: Was Barbara Vinkens Blick auf Kleidung kennzeichnet, ist das Abtasten der Mode auf die Geschlechterdifferenz.
    Während die männliche Silhouette minimalen Variationen unterliegt und in ihren grundsätzlichen Proportionen seit fast 200 Jahren von klassischer Zeitlosigkeit ist, zeigt die weibliche Silhouette in dieser Zeitspanne rasante Wechsel.
    Die Geschlechterdifferenz allerdings wird heute in den meisten Modebetrachtungen negiert. Die Entwicklung der Mode der Moderne gilt gemeinhin als Trend zum Unisex. Eine Sichtweise, der Barbara Vinken in ihrem Buch entschieden widerspricht. Der viel beschworene Unisex, so Vinken, geht nur in eine Richtung: von der Männermode in die Frauenmode. Vinkens Gewährsfrau für ihre These ist Coco Chanel: die Designerin, die die Ikonen der modernen Damenmode geschaffen hat. Coco Chanel war es, die die einschnürenden Korsetts und Mieder und den ganzen anderen bewegungseinschränkenden Pomp und Ballast über Bord geworfen und den schlichten Stil gesellschaftsfähig gemacht hat. Chanel selbst sagte schon, sie habe ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan, als aus Männerkleidern Frauenkleider gemacht. Diese Modeentwicklung hin zu Bewegungsfreiheit und Bequemlichkeit wird gemeinhin als eine Geschichte der Emanzipation erzählt. Barbara Vinken entwirft jedoch ein vielschichtigeres Bild. Sie glaubt nicht an die These von der bloßen Übertragung von Stilelementen der Männermode in die Frauenmode. Sie schaut auf das, was mit dem Wandel der Frauenmode einherging und stellt fest: Die vormals männliche erotische Zone - Beine, Po - ist von der Herrenkleidung in die Damenkleidung gewandert. In der Moderne hat eine Erotisierung der Frauenmode stattgefunden: Das ist Barbara Vinkens Kernthese, die sie verifiziert, indem sie in ihrer Geschichte der Mode zurückschaut auf die Kleiderordnung vor der Französischen Revolution.
    Vor der Revolution zeigten Männer Beine, Po und Geschlecht. Im Gegensatz dazu verbargen die Frauen all dies strikt. Bereits der Anblick einer weiblichen Fessel löste Hitzewallungen aus. (…) Für die vorrevolutionären Männer waren nicht nur die Beine Vorzeigeobjekte; auch das nützlichste Glied der menschlichen Gesellschaft inszenierte man herausragend. Die Herren der Schöpfung ließen es durch die Schamkapsel eindrucksvoll vergrößert und reich verziert hervorragen. Scheinbar ständig erigiert, wurde es mit Bändern und Schleifen aufwendig verziert. Heerpauke und Hosenlatz ließen es zwar an diesem Naturalismus fehlen, aber auch sie lenkten verwegen geschlitzt, gut gepolstert, wattiert und geschmückt das Augenmerk auf die knallig aufgestylte Lustbeule. Diese Männermode stand ostentativ im Zeichen von Maskulinität. Sie betont die Zeugungsfähigkeit und die Sportlichkeit. Sie rückt einen gut ausgestatteten Körper ins Licht, der - das zeigt er mit jedem Muskel und jeder Sehne - fechten, tanzen, reiten kann.
    Selbstbewusste Akteurinnen
    Folgt man Barbara Vinkens Argumentation, so haben sich die Frauen aus der Männermode vor allem eines angeeignet: die aggressive Zurschaustellung eines fähigen Körpers. Aus dieser Perspektive bedeutet die Erotisierung der weiblichen Mode keineswegs eine Degradierung zum Lustobjekt, was so manche Feministin im Gefolge von Alice Schwarzer nicht müde wird zu kritisieren. Barbara Vinkens Sichtweise ist indessen an angloamerikanischen Gendertheorien geschult, die Analyse historischer Weiblichkeitsbilder gehört zu den Forschungsschwerpunkten der Professorin der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mit dem Buch "Die deutsche Mutter" ist sie im Jahr 2001 einem breiten Publikum bekannt geworden. Vinken kritisiert darin einen ideologischen Mythos der Mütterlichkeit, der sich wie ein roter Faden vom Protestantismus über den Nationalsozialismus bis in die Gegenwart ziehe. Diesen Mythos hätte die Mehrzahl der deutschen Frauen immer noch verinnerlicht. Ihre Thesen sind damals kontrovers diskutiert und nicht nur in konservativen Kreisen heftig gescholten worden. Denn Vinken ist eine Querdenkerin, die sich gern abseits des Mainstreams positioniert. So enthält auch ihre Kulturgeschichte der Mode den einen oder anderen polemischen Seitenhieb gegen diejenigen, die Frauen gern als Opfer einer immer stärker sexualisierten Mode betrachten. Für Barbara Vinken sind die Frauen mit den neuen langen Beinen dagegen selbstbewusste Akteurinnen.
    Die schönen, eng bestrumpften, vorrevolutionären Männerbeine sind die neuen Beine der Frauen. Mit oder ohne Absatz bewegen sich Frauen in ostentativer Beinfreiheit so zielstrebig und so raumgreifend wie die Männer der Renaissance.
    Barbara Vinken rekonstruiert in ihrer Kulturgeschichte der Mode nicht nur die Entstehung der modernen weiblichen Silhouette. Sie beleuchtet den historischen Wandel der Frauen- und der Männermode seit der Französischen Revolution. Exemplarisch erzählt sie diesen Wandel anhand zweier Mitglieder der königlichen Familie, die mit der aristokratischen Kleiderordnung brachen und das bürgerliche Kleid anzogen: Marie Antoinette und Philippe d’Orléans. Für Vinken stehen die beiden stellvertretend für eine neue Mode, in der sich eine neue Gesellschaftsordnung ankündigte. Philippe d’Orléans tauschte als Philippe Égalité die ornamentale Verspieltheit gegen schmucklose Schnitte. Sein Auftreten beschreibt sie als "Klassentravestie".
    Philippe d’Orléans, der ostentativ zum dritten Stand überlief, lässt als sans culotte die Pracht des Ancien Régime hinter sich. In seinen Kleidern kündigt sich die neue Ordnung an. (…) Als citoyen und patriote legte Philippe d’Orléans Samt und Seide, Stickereien, Spitzen, Federn, bunte Steine und leuchtende Farben zugunsten des dunklen Leinens ab. Seine Beine kamen nicht in hautengen, weißen Seidenstrümpfen wirkungsvoll zur Geltung. Statt der Kniebundhose trug er die langen Beinkleider, die zum Signum des modernen Mannes geworden sind und uns als die natürlichste Sache der Welt erscheinen.
    Der Siegeszugs des Sakkos
    Barbara Vinken sieht in Philippe d’Orléans einen Trendsetter, der das erfolgreichste Männerkleidungsstück aller Zeiten vorwegnimmt: den Anzug. Ende des 18. Jahrhunderts trat das lange Beinkleid den Siegeszug an. Zuvor waren lange Hosen in der europäischen Ständegesellschaft stets Arbeiterkleidung gewesen. Philippe d’Orléans legte das schlichte Stück aber nicht nur unter dem Druck der Revolution als Gleichheitssymbol an, sondern orientierte sich durchaus auch weiterhin an seinen Standesgenossen. Modisches Vorbild war der englische Landadel, der schon seit dem 17. Jahrhunderts lange Hosen und schmucklose Sakkos zum Reiten und Jagen bevorzugte. Höchst amüsant erzählt Barbara Vinken die Erfolgsgeschichte des Anzugs, der anfangs jedoch bei nicht wenigen Zeitgenossen ästhetischen Widerwillen hervorrief. Hegel zum Beispiel hielt ihn für eine Art Zwangsjacke, der aus den Gliedmaßen "gestreckte Säcke mit steifen Falten" mache. Doch aller Widerstände zum Trotz setzt sich das neue schmucklose Männerkleid ebenso durch wie die neue Gesellschaftsordnung und die neue Staatsform.
    Dem Bürger ist alles Schmückende suspekt, aller Glanz Äußerlichkeit und täuschender Schein, der von den inneren Werten ablenkt. Peu à peu legt die Männermode so alles Herausstechende, alles Fantasievolle und Überraschende ab. (…) Der männliche Anzug ist die Uniform der Demokratie und das habit noir sein einziger legitimer Ausdruck. Bürgerlich gibt er tagein, tagaus das Spektakel des Unspektakulären zum Besten.
    In seiner Grundform ist der Anzug seit seiner Erfindung unverändert geblieben. Damit bleibt den Herren der Schöpfung seither das Spiel der Mode weitgehend versagt - nicht umsonst sind die Protagonisten der meisten Antimoden Männer, die gegen das bürgerliche Kleiderdiktat rebellieren: Den Dandys, den Macaronis, den Teds und den Punks widmet Barbara Vinken jedoch nur ein kurzes Kapitel, das man im Gesamtzusammenhang ihrer Modegeschichte eher als Exkurs wahrnimmt. Denn die Stärke ihres Buches liegt in der Darstellung des historischen Wandels der Mode der Ständegesellschaft zur modernen bürgerlichen Kleiderordnung. Pointiert arbeitet sie dabei nicht nur die Charakteristika der vormodernen wie der modernen Mode heraus. Spannend ist ihre Darstellung vor allem deshalb, weil sie mit vielen überraschenden Details aufwartet, die aus dem historischen Modefundus in die aktuelle Mode übertragen wurden. Nun ist es sattsam bekannt, dass wir in einer Zeit der Moderevivals leben, so sehr, dass man manchmal gar nicht mehr genau weiß, ob gerade die 50er- oder die 80er-Jahre, die 40er oder 60er ihr Comeback feiern. Barbara Vinken ordnet die Modezitate ein - und das nicht nur im Blick auf die jüngere Vergangenheit, sie schaut über vier Jahrhunderte. Den unendlichen Zitatfundus allerdings weist nicht die Herrenmode, sondern nur die Damenmode auf. Denn die weibliche Mode, so Vinkens These, ist nie wirklich modern geworden.
    Klassisch-moderne Zeitlosigkeit auf der männlichen Seite steht einem historischen Recycling auf der weiblichen Seite gegenüber, das manche als ebenso willkürlich wie ermüdend finden. Nicht modern, sondern anachronistisch ist die weibliche Mode.
    Firlefanz hinter sich gelassen
    Das Anachronistische der weiblichen Mode ist es, was Barbara Vinken brennend interessiert. Ermüdend findet sie dagegen die männliche Mode in ihrer Konstanz. Während die weibliche Mode das Individuelle betont, geht es in der männlichen Mode um Uniformität. Der Mann, der Anzug trägt, kleidet sich, so Vinken, als Amtskörper, nicht als Individuum, er drückt mit diesem Kleidungsstück aus, dass er zu einer größeren Körperschaft gehört: Er tritt auf als berufstätiges Mitglied des Bürgertums. Zwar wird auch die Frauenmode modern, indem sie den Glitter, den Samt und die Federn ablegt. Doch hat die weibliche Mode den Firlefanz nie ganz hinter sich gelassen. Der entscheidende Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Mode jedoch liegt in der Sexualisierung des weiblichen und in der Neutralisierung des männlichen Körpers.
    Die aristokratische Zurschaustellung des Körpers und seiner erotischen Reize ist nach der Französischen Revolution Privileg - oder Bürde, je nach Perspektive - der Frauen geworden. Während der Männerkörper in der Mode der Moderne seine Geschlechtlichkeit unmarkiert lässt, geht es in der weiblichen Mode ausschließlich um die Markierung von Geschlechtlichkeit.
    Barbara Vinken zeichnet nach, wie die Erotisierung der weiblichen Mode mit Marie Antoinette begann. Die Gattin Ludwigs XVI. trat in die Fußstapfen der Mätressen, denn anders als ihre Vorgängerinnen auf dem französischen Thron nahm sie die Lust des Königs in Besitz. Und ebenfalls entgegen der Tradition weist sie die adeligen Friseusen und Modistinnen zurück und holt die Stylisten an den Hof, die auch für die Mätressen arbeiten. Sie trug Spitzenunterwäsche und durchsichtigen Musselin als Oberkleid und inszenierte sich als Superikone der verführerischen Weiblichkeit. Anders als der frühe Anzugträger Philippe Égalité legte Marie Antoinette allerdings weniger Gespür für den Zeitgeist der Zukunft an den Tag. Wo Philippe die Schlichtheit zelebrierte, trieb Marie Antoinette das Spiel mit Rüschen, Flitter und Pomp auf die Spitze. Die Moderne machte diesem Spiel später den Garaus. Und dennoch spukt die Königin, die mit ihrer ebenso aufreizenden wie verschwenderischen Mode das Ende des Ancien Régime einläutete, wie eine Untote durch die Kreationen der Haute Couture.
    Aufgepolsterte, geschnürte, mit Pfennigabsätzen bestückte, behinderte, bewegungsunfähige Weiblichkeit von Ancien Régime, Belle Époque und Dritter Republik, die man endgültig hinter sich zu lassen gehofft hatte, kommt hier zurück und wird heiß begehrt.
    Anachronismen der Mode in all ihrer Widersprüchlichkeit
    Barbara Vinken erzählt in ihrer Kulturgeschichte der Mode nicht nur die Genese der modernen Kleidung, sondern sie analysiert auch die Anachronismen der Mode in all ihrer Widersprüchlichkeit. Der Schwerpunkt ihrer Darstellung liegt allerdings nicht auf der aktuellen Alltagsmode, sondern auf dem historischen Wandel und den Überresten der höfischen Stilelemente in der heutigen Haute Couture. Über die wechselseitigen Einflüsse zwischen Straße und Laufsteg erfährt man bei ihr eher wenig. Dafür sind ihre Porträts von Designern wie Yamamoto, Alexander McQueen oder Martin Margiella brillante ästhetische Studien, die an einer einzigen Kollektion die ganze Modegeschichte aufrollen.
    Barbara Vinken: "Angezogen. Das Geheimnis der Mode" Klett-Cotta, 250 Seiten, 19,95 Euro.