Freitag, 19. April 2024

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Sachbuchautor Reiner Engelmann
"Ich will zu Zivilcourage gegen Rechts ermuntern"

Seit langem beschäftigt sich Reiner Engelmann mit dem Holocaust und lässt Zeitzeugen zu Wort kommen. Der Einblick in die persönliche Lebenssituation der Menschen sei eine wichtig Ergänzung zum Geschichtsunterricht, sagte er im Dlf. Erinnerung bleibe lebendig und helfe, sensibel für rechte Tendenzen zu werden.

Reiner Engelmann im Gespräch mit Ute Wegmann | 27.04.2019
Buchcover (vlnr): Reiner Engelmann: „Wir haben das KZ überlebt. Zeitzeugen berichten“, „Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse“, „Der Buchhalter von Auschwitz. Die Schuld des Oskar Gröning“, „Anschlag von Rechts“
Anhand von Einzelschicksalen zeigt der Sachbuchautor Reiner Engelmann auf, was die jüdischen Mitbürger erlitten haben, am Beispiel des Buchhalters Gröning zeigt er die Täterseite (Buchcover: cbt/cbj)
Ute Wegmann: Im Studio begrüße ich den Sachbuchautor Reiner Engelmann. Geboren 1952 im Hunsrück studierten Sie Sozialpädagogik. Es heißt, Reiner Engelmann, Sie waren im Schuldienst tätig. Aber nicht als Lehrer, sondern zuständig für Leseförderung und Gewaltprävention. Oder waren das Nebentätigkeiten?
Reiner Engelmann: Nein, das waren keine Nebentätigkeiten, das war ein Schwerpunkt meiner Arbeit. An einer Förderschule haben die Kinder Probleme mit dem Lesen. Viele Kinder kamen in die Schule, hatten vorher in ihren Familien nie ein Buch gesehen - außer dem Telefonbuch. Gewalt war immer ein Thema, mit dem die Kinder in die Schule gekommen sind, zum Teil gab es häusliche Gewalt, die aufgearbeitet werden musste, zum Teil gab es Gewalt in den Klassen. Und da mussten wir überlegen: Wie gehen wir als Sozialarbeiter damit um. Da habe ich versucht, Lösungen zu finden.
"Menschenrechte müssen gelebt werden"
Wegmann: Sie haben gesagt: Förderschule. Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer schulischen Arbeit war Kinder- und Menschenrechtsbildung – was konkret bedeutet das?
Engelmann: Die Würde des Menschen ist unantastbar, das ist mein Kernsatz und so hab ich auch versucht, den Kindern gegenüber aufzutreten. Habe sie wertgeschätzt in ihrem Sein, so wie sie waren, und hoffe, dass sie das so angenommen haben und weitergaben. Natürlich hab ich auch Menschenrechtsbildung gemacht, indem wir über Menschenrechte gesprochen haben. Aber die ganz persönliche Haltung, das war mir ein ganz zentrales Anliegen. Ich bin kein Theoretiker, ich bin Praktiker und Menschenrechte müssen gelebt werden - und nicht nur vermittelt und wenn man dann in die Pause geht, wird sich wieder die Nase blutig gekloppt.
Wegmann: Wie muss ich mir das praktisch vorstellen, sind Sie in die Klassen gegangen oder haben Sie mit einzelnen Schülern gearbeitet?
Engelmann: Ich war in den Klassen. Ich habe immer versucht, die Kinder ernst zu nehmen, habe ihnen zugehört, habe sie ausreden lassen, sodass ein Vertrauensverhältnis entstanden ist, wo sie gemerkt haben, da ist jemand, der uns nicht nur was beibringen will, sondern der hört uns zu, nimmt uns ernst, und in so einer Atmosphäre kann man gut vermitteln.
Die einzelne Biografie herausheben
Wegmann: Sie wurden irgendwann Schriftsteller, haben diesen Schritt gemacht, haben in den letzten Jahren mehrere Sachbücher veröffentlicht: "Wir haben das KZ überlebt" – "Der Fotograf von Auschwitz" – "Der Buchhalter von Auschwitz" – "Anschlag von rechts". Der Nationalsozialismus, in Folge der Holocaust und auch die verstärkte Präsenz rechtspopulistischer Parolen sind Ihr Thema. War der Schritt zur Buchveröffentlichung ein notwendiger, um all das Wissen, das Sie sich aneignet haben, niederzuschreiben?
Engelmann: Es war ein notwendiger Schritt, weil ich gemerkt habe, dass das, was in der Schule im Geschichtsunterricht vermittelt wird, bei weitem nicht den Einblick in die Lebenssituation der Menschen gibt, die damals gelebt haben, unter den Gesetzen gelitten haben, sodass es für mich wichtig war, einzelne Biografien herauszunehmen und zu zeigen, so sieht deren Leben aus. Das war für mich eine Triebfeder, über die Menschen zu schreiben.
Auschwitz-Besuch mit Förderschülern
Wegmann: Seit Jahren schon bieten Sie Studienfahrten nach Auschwitz an, für Schüler und für Erwachsene. Wie entstand Ihr Interesse an Auschwitz oder auch der Schritt, Studienfahrten anzubieten?
Engelmann: Mein Bedürfnis, mal nach Auschwitz zu fahren, das war immer schon vorhanden, auch als ich noch in der Schule gearbeitet habe. Irgendwann als wir in der Schule den 27. Januar, den Gedenktag begingen, hat ein Schüler aus der achten Klasse gesagt: Wir müssen einfach mal dort hinfahren. Er hatte dann den Mut, den Landtagsabgeordneten anzusprechen, der hat uns 1.000 Euro Startkapital gegeben. Das war der Anfang 2006 im Herbst, zum ersten Mal nach Auschwitz zu fahren mit einer Klasse mit Förderschülern. Viele Menschen haben gesagt: Mit Förderschülern kann man das nicht machen, die verstehen das alles nicht. Doch, sie haben das sehr gut verstanden. Und eine Schülerin hat gesagt: "Mir kann niemand mehr sagen, Auschwitz gab es nicht. Ich war jetzt dort und habe alles gesehen, habe das Grauenhafte gesehen. Ich weiß mich jetzt zu wehren."
Wegmann: Was schauen Sie sich dort an? Denn Auschwitz ist ja mehr oder weniger jetzt auch ein Museum geworden.
Engelmann: Man hat dort Führungen. Einmal durch das Stammlager in Auschwitz und eine durch Auschwitz-Birkenau. Diese beiden Führungen dauern jeweils einen halben Tag, das haben wir auf zwei Tage verteilt und haben dann immer noch die Begegnung mit einem Zeitzeugen. Und das war für die Schüler auch ganz wichtig, von einem Menschen zu hören, der das überlebt hat, der das durchlitten hat, zu hören, wie es ihm dort ergangen ist, was er gesehen hat, erlebt hat, wie er gelitten hat. Das war für die Schüler ganz wichtig. Und jeden Tag, wenn wir Auschwitz besichtigt haben, haben wir uns abends zusammengesetzt, das Ganze nachbereitet. Viele Schüler hatten Fragen, Verständnisfragen, oder auch: Wieso konnte das überhaupt passieren? Fragen, auf die man gemeinsam nach Antworten suchen musste.
Wegmann: Inwiefern unterscheiden sich die Reaktionen der älteren Menschen von denen der jungen Generation?
Engelmann: Die unterscheiden sich nicht wesentlich. Die Erwachsenen sagen immer: "Auschwitz war schon immer ein Ort, zu dem ich fahren wollte, habe nur nie den Mut gehabt, alleine hinzufahren." Ich würde es auch niemandem empfehlen, sich alleine das Museum anzuschauen, weil doch viele Fragen auftauchen, die man nicht beantwortet bekommt. In der Gruppe ist schnell ein enges Verhältnis entstanden, ein Vertrauensverhältnis, sodass man abends reden konnte. Und niemand wurde komisch angeguckt, wenn er mal heulen musste. Es war wichtig, dass diese Menschen in der Gruppe dort waren, und es gab keinen Unterschied zwischen Schülern und Erwachsenen.
"Wir haben gelacht und geweint miteinander"
Wegmann: Im Jahr 2015 erschienen die beiden Bücher "Wir haben das KZ überlebt. Zeitzeugen berichten" – eine Dokumentation von zehn Schicksalen. Menschen, die in unterschiedlichen Lagern auf unterschiedliche Weise den nationalsozialistischen Terror mit den schlimmsten Demütigungen überlebt haben – und das Buch "Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse".
Sprechen wir zuerst über die Zeitzeugen. Frauen und Männer, die meist in den 1920er-Jahren geboren wurden. Unter ihnen Ester Bejarano, die im Frauenorchester spielte und so überlebte und nach dem Krieg das Auschwitz-Komitee gründete und Vorsitzende wurde. Oder Eva Mozes Kor, deren Zwillingsschwester Miriam von dem KZ-Arzt Mengele für medizinische Experimente missbraucht wurde. Wie haben Sie die Zeitzeugen gefunden und ausgewählt? Wie viel Zeit haben Sie mit Ihnen verbracht?
Engelmann: Ich musste ja auf Menschen treffen, die bereit sind, über ihre Zeit zu reden. Da habe ich im Internet geguckt, wer geht an Schulen, und habe die Leute kontaktet. Wir haben Termine ausgemacht und für jeden hab ich mir mindestens einen Tag Zeit genommen. Ich hab ihnen zugehört, alles aufgenommen. Sie waren froh, dass ihnen jemand einfach nur zuhörte, ohne viele Fragen zu stellen. Das war für sie wichtig, weil sie so sehr frei erzählen konnten, sich erinnern konnten, ohne durch Fragen unterbrochen zu werden. Es waren sehr berührende Tage, die wir so miteinander verbracht haben. Wir haben gelacht und geweint miteinander. Sie waren sehr froh, dass sie das erzählen konnten, mit der Gewissheit, dass durch das Buch ihre Geschichte existent bleiben wird.
"Sie haben alle erst angefangen zu reden, als der Ehepartner verstorben war"
Wegmann: Betrachtet man die Kapitelüberschriften, dann stehen dort neben Sätzen wie: "Ich wollte noch einmal die Sonne sehen" oder "Ich rede, damit ihr wisst, wie es damals war" andere Formulierungen: "Wenn wir hassen, verlieren wir" oder "Ich habe den Nazis vergeben". Jeweils Zitate, in denen Begriffe wie Versöhnung, Vergebung, Liebe statt Hass im Vordergrund stehen. Gibt es eine Gemeinsamkeit in der Haltung der Überlebenden?
Engelmann: Ja. Ich hab bei keinem der Zeitzeugen ein Hassgefühl verspürt. Im Gegenteil, sie wollen keinen Hass hegen, sind sehr auf Versöhnung aus, sehr auf Zuwendung, auf Hinwendung zu der jetzigen Generation. Und das ist auch ein ganz wichtiger Grund, mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen, ihnen zu erzählen, wie ihr Leben sich dargestellt hat, was sie erlebt und durchlitten haben. Mit der Aufforderung auch, sehr aufmerksam zu sein. Sehr aufmerksam die gegenwärtige Situation zu beobachten, damit es nicht noch einmal jemanden geben kann, der sich als der große Führer aufführen kann und die Menschen verführt. Also Hass war nie ein Thema.
Und das Zweite, dass sie gemeinsam haben: Sie haben alle erst angefangen zu reden, als der Ehepartner verstorben war. Sie haben es damit begründet, dass sie ihre Partner nicht mit den Geschichten, die sie in Auschwitz oder anderen Lagern erlebt haben, belasten wollten. Weil es schlimme Dinge waren und sie wollten nur ein glückliches Ehepaar sein. Max Mannheimer hat noch ergänzt und gesagt: "Wie wäre es denn gewesen, wenn wir in der 1950er-Jahren schon angefangen hätten zu reden? Wer hätte uns zugehört? Wer hätte geglaubt, was wir erlebt haben? Ihr Juden habt überlebt? Das kann nicht sein." Das war für ihn ein wichtiger Grund, nicht zu diesem Zeitpunkt darüber zu reden. Und Max Mannheimer ist auch jemand gewesen, der nur in der Öffentlichkeit gesprochen hat, nicht innerhalb der Familie, nicht mit seinen Kindern. Die Tochter hat seine Geschichte nur aus seinen Büchern gekannt. Und wenn die beiden nebeneinander saßen, ich hab das mal beobachtet, er konnte ihr nichts sagen.
"Es war wichtig, unter diesen Bedingungen dort Mensch zu bleiben"
Wegmann: Das ist beachtlich, dass alle offensichtlich ihre nächsten Menschen, ihre liebsten Menschen nicht belasten wollten. Einer der Zeitzeugen, den Sie getroffen haben, ist der Fotograf von Auschwitz – Wilhelm Brasse. Er hat 70.000 Fotos gemacht im Konzentrationslager. Anfangs auch von Juden, das wurde jedoch 1941 eingestellt, als die Endlösung ausgesprochen war. Ab Mitte 1941 nur noch von SS-Leuten. Was ist das Beeindruckende an Brasses Geschichte, was macht sein Schicksal so besonders, dass Sie ihm ein ganzes Buch widmeten?
Engelmann: Das Beeindruckendste an Brasse war, dass er Mensch geblieben ist, dass er durch und durch Mensch war. Wenn er sich erinnert hat, wenn er von Auschwitz erzählt hat, hat er immer gesagt: Es war wichtig unter diesen Bedingungen dort Mensch zu bleiben. Er hat sich erinnert, wie er manchmal aufgeben wollte, es nicht mehr ausgehalten hat, über Gott geschimpft hat, über seine Mutter, die ihn überhaupt auf die Welt gesetzt hat und er das alles durchleben musste. Und dann kamen Freunde, haben gesagt, mach weiter, du musst überleben, du bist nicht hier, um zu sterben. Das war wichtig.
Auf der anderen Seite war er aber auch Freund von vielen anderen Menschen, hat vielen geholfen, gerade in seinem Fotoatelier konnte er ihnen Mut zusprechen, hat seine Essensrationen geteilt. Es war für ihn wichtig, Mensch zu bleiben. Und das Gefühl hatte ich auch bei meinem Gespräch mit ihm: Er war aufgeschlossen, den jungen Menschen zugewandt, sehr lebendig, sehr dem Leben zugewandt. Er hat die Jungen ermuntert: Sucht euch gute Lebenspartner aus. Sucht euch einen guten Beruf aus. Und: Passt auf, dass euch so etwas nicht noch mal passiert. Seid aufmerksam!
Die Täter in den Blick nehmen
Wegmann: Das Buch über den Fotografen Brasse enthält – wie übrigens alle Bücher – ein ausführliches Glossar, meist werden Begriffe erklärt, aber hier geht der Anhang darüber hinaus. Sie stellen einige SS-Männer in Kurzbiografien vor. Diese Biografien sind sehr intensiv, sie zeigen die Skrupellosigkeit und den Verlust aller Humanität. Entstand durch das Buch zu Brasse die Idee, die Täter in den Blick zu nehmen?
Engelmann: Es hat keinen direkten Zusammenhang, aber die Idee, Täter mal in den Fokus zu nehmen, war schon da gewesen. Aber damals hab ich mitbekommen als ich mit Brasse gesprochen habe, was die Täter für Menschen waren und gedacht: Die kann man nicht außen vorlassen, die gehören dazu. Man muss sehen können, wie die mit den Menschen umgegangen sind, die dort interniert waren. Das war mir ein wichtiges Anliegen, das aufzuzeigen, denn wo es Opfer gibt, gibt es Täter.
Oskar Gröning will nur als Mitläufer betrachtet werden
Wegmann: Und einem Täter haben Sie Ihr neues Buch gewidmet, Oskar Gröning. "Der Buchhalter von Auschwitz. Die Schuld des Oskar Gröning". Ein Buch, das in drei Teile geteilt ist: Sie stellen Gröning vor, zeigen dass er in einem nationalsozialistischen Elternhaus aufgewachsen ist, zeigen, wie er zum Nationalsozialismus, zur SS später kam. Der zweite Teil, dort hören wir eine Zeitzeugin. Im dritten Teil beleuchten Sie den Prozess, der ja im Jahr 2015 erneut aufgerollt wurde.
Ich habe mich gefragt: Wie kann es sein, dass sich Gröning wirklich all die Jahre schuldlos fühlte? Denn 2005 im BBC Interview bestätigt er den Holocaust, aber er sprach, als habe er damit nichts zu tun gehabt. Er war, das sollte man noch sagen, der Buchhalter. Er hat das Geld der Juden in Empfang genommen, hat es gezählt, die Juden, die zum Teil direkt in die Gaskammern geführt wurden, zum Teil in die Arbeitslager. Das war seine Aufgabe. Aber er hat auch an der Rampe gearbeitet, wo die Züge mit den Menschen ankamen, das heißt, er hat sehr viel mitbekommen. Wie erklären Sie sich das?
Engelmann: Er fühlte sich deswegen schuldlos, weil er sich gesagt hat: Ich bin an der Ermordung der Juden nicht beteiligt, ich hab mit den ganzen Toten nichts zu tun. Ich bin nur hier und zähl das Geld der Menschen. Und wenn ich an der Rampe stehe, dann sehe ich zwar, dass die in die Gaskammern geführt werden, aber ich bewache nur deren Gepäck, damit da nichts wegkommt. Das war seine innere Rechtfertigung: Ich bin schuldlos. Ich habe damit nichts zu tun.
Wegmann: Kann man denn eigentlich rückschließen und sagen: Wenn Gröning 2005, nachdem wir die Geschichte doch in großen Teilen aufgearbeitet haben, immer noch behauptet, schuldlos zu sein, dass er innerlich ein Nationalsozialist geblieben ist?
Engelmann: Ich glaube, dass er innerlich ein Nationalsozialist war. Er hat für sich, über seine Zeit in Auschwitz, eine Rechtfertigung gesucht. Er wusste, ganz sauber war das nicht, vor allem, als nach dem Krieg diskutiert wurde, was Auschwitz war, hat er gemerkt: Man kann nicht einfach unbefangen öffentlich darüber reden, dass man dort war. Er hat seinen Söhnen gegenüber und sich und seinen Freunden gegenüber eine Rechtfertigung gesucht, ihnen einen langen Brief geschrieben, aber weder die Söhne noch die Freunde haben darauf reagiert. Irgendwie hatte ich den Eindruck, er will auch von seiner näheren Umgebung nur als Mitläufer betrachtet werden, der unschuldig ist, aber er hat sich schuldig gemacht.
Beihilfe zum Mord zählt erst in jüngerer Rechtssprechung
Wegmann: Und er ist ja auch verurteilt worden.
Engelmann: Ja, und zu Recht verurteilt worden.
Wegmann: Das finde ich sehr wichtig an Ihrem Buch, dass Sie, wenn Sie über den Prozess schreiben, noch mal deutlich machen, dass sich die Rechtsprechung in Deutschland geändert hat und dass er bereits in den ersten Prozessen gegen die Nationalsozialisten hätte verurteilt werden können, hätten wir damals die gleichen Gesetze wie heute gehabt.
Engelmann: Ja, also in den ersten Prozessen ging es darum, dass Menschen vor Gericht gestellt wurden, denen man unmittelbare Ermordung nachweisen konnte oder die an der Entscheidung beteiligt waren. Deshalb ist Gröning dort herausgefallen, weil man in Frankfurt bei der Staatsanwaltschaft darauf geachtet hat, unmittelbare Taten zu verfolgen. Beihilfe zu Mord, das zählt nicht. Das hat sich über Jahrzehnte hingezogen.
Bis in einem ganz anderen Zusammenhang eine neue Rechtsprechung zutage trat, das hatte mit Auschwitz nichts zu tun, sondern mit dem 11. September. Der Hauptattentäter hatte einen Freund in Hamburg, der die Miete für ihn bezahlt hat. Und dieser Miete-Bezahler wusste genau, was da passieren würde, und den hat man festgenommen und ihn zur Beihilfe zu Mord in mehreren Tausend Fällen verurteilt. Und dann sind andere in Deutschland auf die Idee gekommen, wenn das Beihilfe zu Mord war, dann war auch die Mittäterschaft von Auschwitz und anderen Lagern Beihilfe zu Mord.
Wegmann: Wie viele Morde wurden Gröning zugeschrieben?
Engelmann: Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen. Das war die offizielle Anklage. 300.000 Tote, weil in dieser Zeit, als er dort war, hat er sich verpflichtet zu der sogenannten Ungarn-Aktion, bei der in wenigen Monaten 500.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert wurden, 300.000 ermordet wurden, von Mitte Mai bis Anfang Juli. Oskar Gröning musste vorher eine Erklärung unterschreiben, dass er während dieser Zeit ständig zur Verfügung steht, keinen Urlaub nimmt und auf Freizeit verzichtet. Deshalb die Anklage.
Wegmann: Der Sachbuchautor Reiner Engelmann ist heute Gast im Büchermarkt.
Wir hören jetzt das Kapitel "Versetzung" aus: "Der Buchhalter von Auschwitz. Die Schuld des Oskar Gröning". Es liest Reiner Engelmann
Lesung Seite 93 - 95
Wegmann: Ein Auszug aus dem Buch "Der Buchhalter von Auschwitz. Die Schuld des Oskar Gröning". Das neue Buch von Reiner Engelmann.
"Täter, die zunächst ganz unschuldig daherkommen"
Wegmann: Sie haben auch ein Buch über rechte Gewalt geschrieben, "Anschlag von Rechts". Sie haben mit Tätern und Opfern gesprochen.
Engelmann: Es geht auch hier um Täter, die zunächst ganz unschuldig daherkommen. Die gesagt haben, wir haben das nur gemacht, weil wir ziemlich viel getrunken haben. Ansonsten haben wir mit rechter Gewalt nichts zu tun. Das war ein Kernpunkt, der bei den Gerichtsverhandlungen in den Mittelpunkt gestellt wurde.
Wegmann: Ist auch das eine wahre Geschichte?
Engelmann: Das ist eine wahre Geschichte. Es hat sich erst nach und nach herausgestellt, dass alle drei Angeklagten tiefer in der rechten Szene verwurzelt waren, als sie das nach außen zugeben wollten. Einer, der regelmäßig im Internet recherchiert hat über die Partei "Der dritte Weg", der über Facebook Hitler zum Geburtstag gratuliert hat und viele Dinge mehr. Ein anderer hat Flugblätter von "Der dritte Weg" verteilt, die dritte Angeklagte hat sich immer abfällig über Flüchtlinge geäußert. Es ist eine wahre Geschichte, die habe ich so recherchiert.
Zivilcourage zeigen gegen rechte Gewalt
Wegmann: Ihre Sachbücher wollen Erinnerungen festhalten, um dem Vergessen entgegenzuwirken. Ihre Bücher lassen Zeitzeugen zu Wort kommen, das ist sehr wichtig. Was können wir tun, wenn die letzten Zeitzeugen verstorben sind? Inwiefern können wir genau diesem rechten Ruck, den man auf der ganzen Welt beobachten kann, entgegenwirken?
Engelmann: Elie Wiesel, ein Auschwitz-Überlebender, hat gesagt: Wer einmal einem Zeitzeugen zugehört hat, wird selbst zum Zeitzeugen. Manchmal sehe ich mich in einer solchen Rolle, dass ich selbst zu einem Zeitzeugen werde. Was wir aber tun können und tun müssen: ihre Geschichten in Erinnerung behalten, in Schulen tragen, zu Menschen, die sie hören wollen und auch sich anhören sollten, um aus dem, was die Menschen damals erleben mussten, für heute entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Sensibel zu sein. Aufmerksam zu sein. Gucken, das rechte Tendenzen nicht überhand nehmen, sich früh dagegen zur Wehr setzen. Zivilcourage zeigen. Das ist für mich ein wichtiges Stichwort geworden: Zivilcourage zeigen und dem entgegentreten. Und dazu will ich ein Stück weit ermuntern.
Wegmann: Die Kenntnisse über die Geschichte, das Wissen über die Geschichte zu vermitteln, das wollen wir den Schulen überlassen. Die Einzelschicksale darzustellen, die Empathie zu wecken, für die wirklich geschehen Dinge, das wollen wir durch Ihre Bücher weitertragen. Menschen, deren Herkunft, deren persönliche Situation, deren Schicksal wir kennen lernen. Und ich bin sicher, dass das Wissen und die Kenntnisse als Basis vor allem aber die Konfrontation mit dem einzelnen Menschen eine Sensibilität und Aufmerksamkeit für Unrecht und Menschenrechtsverletzungen hervorrufen kann.
Reiner Engelmann: "Wir haben das KZ überlebt. Zeitzeugen berichten"
cbj Verlag, München, ab 14
Reiner Engelmann: "Der Fotograf von Auschwitz. Das Leben des Wilhelm Brasse"
cbj Verlag, München, ab 14
Reiner Engelmann: "Der Buchhalter von Auschwitz. Die Schuld des Oskar Gröning"
cbj Verlag, München, ab 14
Reiner Engelmann: "Anschlag von Rechts"
cbt Verlag, München, ab 14