Donnerstag, 28. März 2024

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Saisonarbeit
Das System aus Erntehelfern und Pflegekräften

Wer erntet den Spargel, wenn die osteuropäischen Saisonarbeiter nicht kommen? Zu Beginn der Pandemie war das für viele Landwirte eine existenzielle Frage. Die Abhängigkeiten und die verschiedenen Aspekte der mobilen Arbeit schildert Judith Schmidt in ihrem Buch „Kalkulierte Mobilität“.

Von Ina Rottscheidt | 02.08.2021
Buchcover Judith Schmidt: "Kalkulierte Mobilität. Ökonomische und biographische Perspektiven auf Saisonarbeit“. Im Hintergrund Saisonarbeiter auf einem Spargelfeld.
Saisonarbeitskräfte sind flexibel und mobil. Das wird nicht nur in der deutschen Landwirtschaft geschätzt. (Buchcover: Campus Verlag, Hintergrund: IMAGO / Jochen Tack)
Ana war dreißig, als sie sich entschied, ihre Heimat im rumänischen Transsilvanien zu verlassen und als Saisonarbeiterin nach Deutschland zu gehen. Ihr Mann und ihre beiden kleinen Söhne blieben zurück. Im ersten Jahr ging sie vorübergehend zum Erdbeerpflücken nach Hamburg, bereits im zweiten Jahr blieb sie sechs Monate und sie arbeitete auf einem Weingut.
"Die Arbeit, die sie auf dem Weingut macht, ist nicht sehr schwer, trotzdem sind die Arbeitsbedingungen nicht ideal. Sie arbeitet elf Stunden am Tag und muss jeden Tag acht Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit hin- und zurückfahren. Die Kinder bleiben in Rumänien, da die Arbeitsbedingungen zu unsicher für eine Übersiedlung sind. […] Ihr inzwischen achteinhalbjähriger Sohn weint jedes Mal, wenn Ana aufbricht."

Die Alternative zur Migration

Die Volkskundlerin Judith Schmidt hat Frauen und Männer, die aus Rumänien zur Saisonarbeit nach Deutschland kommen, nach ihren Geschichten und Beweggründen gefragt. Ihr Fazit: Die Arbeitsbedingungen sind mal besser, mal schlechter. Aber alle machen das aus dem gleichen Grund: Zu Hause sind die Verdienstmöglichkeiten schlecht, und Saisonarbeit ist eine Möglichkeit, die eigene ökonomische Situation zu verbessern, ohne dafür die Heimat dauerhaft verlassen zu müssen. Tatsächlich hatte keine der von ihr befragten Personen den Plan, dauerhaft in Deutschland zu bleiben.
"Viele der Saisonarbeitskräfte, die ich befragt habe, haben ein Projekt im Heimatland, häufig ist es der Hausbau, das beschreibe ich auch an einer Stelle. Und was ich festgestellt habe, ist, dass sie ihre Situation sehr genau einschätzen und wissen, was sie aushalten und was sie nicht aushalten."
Schon immer haben Menschen ihre Heimat verlassen, um sich ökonomisch zu verbessern. Saisonarbeit hingegen ist ein eher junges Phänomen, das sich mit zunehmender Mobilität von Menschen entwickelte.
In Deutschland, schreibt Judith Schmidt, geht sie auf das Anwachsen landwirtschaftlicher Bearbeitungsflächen zurück: Lagen die im Jahr 1960 in Rheinland-Pfalz beispielsweise noch bei rund 5 Hektar, waren es 2007 bereits 29 Hektar. Das Wachstum ging einher mit der Anwerbung von Gastarbeitern ab Mitte der 50er Jahre, die den Bedarf an Arbeitskraft hierzulande decken sollten. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union in den 2000er Jahren wurden die Wanderbewegungen zusätzlich erleichtert. Heute arbeiten schätzungsweise 300.000 Saisonarbeiter pro Jahr in der deutschen Landwirtschaft.

Die Abhängigkeiten der Landwirtschaft

Auf der anderen Seite stehen die Landwirte, die von den Saisonarbeitern profitieren. Und die ihrerseits oftmals unter Druck stehen, möglichst makellose Lebensmittel zu einem niedrigen Preis anzubieten. Daraus – so schreibt Judith Schmidt - hat sich ein System von wechselseitigen Abhängigkeiten entwickelt, nicht nur hier, sondern auch bei unseren europäischen Nachbarn:
"Saisonarbeit kann als Unterstützungssystem von Industrienationen beschrieben werden. Die Ausübung dieser Art der Arbeit ermöglicht ein Nahrungssystem, an das sich diese Nationen längst gewöhnt haben. Dazu gehört, möglichst frisch zu essen und zu jeder Jahreszeit eine große Auswahl an Obst- und Gemüsesorten zu einem günstigen Preis auf dem Tisch zu haben. Die Art und Weise, wie diese Bedürfnisse erfüllt werden, spielen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung keine herausragende Rolle."
Für ihr Buch hat die Autorin Judith Schmidt Männer und Frauen aus Rumänien und Landwirte im Umkreis von Mainz befragt. Es handelt sich um eine ethnografische Studie, mit der sie im Jahr 2020 an der Universität Mainz promovierte.
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Bessere Arbeitsbedingungen in kleineren Betrieben

Eine wissenschaftliche Arbeit, die daher zahlreiche Definitionen und Einordnungen vornimmt und den Forschungsstand dokumentiert. Die aber auch – und das ist das Interessante an dem Buch - einen differenzierten Blick auf das Thema eröffnet:
Saisonarbeit wird oft mit harter körperlicher Arbeit in Verbindung gebracht, mit beengten Wohnverhältnissen und schlechter Entlohnung. Diese Fälle seien ihr bei ihren Befragungen nicht begegnet, so Schmidt. Entgegen der landläufigen Meinung habe sie Erntehelfer nicht als Opfer eines Wirtschaftssystems erlebt, das sie zwingt, jede Arbeit zu jeder Bedingung anzunehmen. Sie kalkulierten vielmehr sehr genau ihren Nutzen und wechselten, wenn ihnen dieser nicht angemessen erscheint, ihren Arbeitgeber.
"Es gibt genug Berichte darüber, dass die Arbeitssituation bei Saisonarbeitskräften sehr schlecht ist, dass die Wohnsituation unzureichend ist und es Probleme mit der Bezahlung gibt. Das gibt es auch, aber es gibt auch eine andere Seite, das hat mit der Größe der Betriebe zu tun, die ich untersucht habe: Im Schnitt haben die nicht mehr als 10 Saisonarbeitskräfte beschäftigt und das sind Peanuts im Vergleich zu dem, was wir zum Beispiel aus der Südpfalz kennen. Entsprechend herrschen da auch andere Bedingungen und ich konnte hier sehr viel deutlicher herausstellen, dass die Saisonarbeitskräfte entscheidungsfähige Menschen sind, die eine Handlungsmacht haben und ihre Mobilität zu ihrem Nutzen einsetzen."

System Saisonarbeit derzeit alternativlos

Saisonarbeitskräfte besitzen Flexibilität und Mobilität, die Landwirte dringend benötigen. Mittlerweile herrsche, so beobachtet die Autorin, eine regelrechte Konkurrenzsituation bei der Anwerbung.
Mit Bewertungen hält sie sich zurück. Dass diese Arbeitsverhältnisse aus einem Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West, einer Ungleichverteilung von Kapital und dem Druck zur billigen Produktion resultieren, klingt zwischen den Zeilen an, ist aber nicht Gegenstand ihrer Forschung.
Schmidt resümiert: Aus ihrer Sicht scheint das System Saisonarbeit derzeit alternativlos, zu groß seien die internationalen Verflechtungen, die Anbauflächen und der Druck innerhalb von Vertriebswegen.
Wie alternativlos – und zugleich störanfällig - das hat auch die Corona-Krise gezeigt: Von den Einschränkungen der Reisefreiheit infolge der Pandemie waren und sind auch die saisonalen Erntehelfer*innen betroffen. Viel deutlicher wurde die Abhängigkeit der Landwirte von diesem System. Ersatz für die mobilen Kräfte war zumindest in Deutschland schlicht nicht zu bekommen.
Judith Schmidt: "Kalkulierte Mobilität. Ökonomische und biographische Perspektiven auf Saisonarbeit",
Campus Verlag, 281 Seiten, 39,95 Euro.