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Sammelband
Düsseldorf und die elektronische Musik

Bands wie Neu!, Cluster oder Der Plan haben die elektronische Musik in Deutschland geprägt - und stehen im Bezug zu Düsseldorf. Rüdiger Esch, selbst Musiker der Zeit, hat einen Sammelband über Düsseldorf und die Entwicklung deutscher Elektronik veröffentlicht. Auch die bekannteste Band Kraftwerk spielen eine wichtige Rolle, doch nicht alle von ihnen kommen zu Wort.

Von Enno Stahl | 05.01.2015
    Die deutsche Band Kraftwerk bei einem Konzert in Eindhoven.
    Die Band Kraftwerk ist ein wesentlicher Teil der elektronischen Szene von Düsseldorf. (dpa picture-alliance/ Paul Bergen)
    Kraftwerk und dann ganz lange nichts. So denkt manch einer, wenn es um elektronische Musik aus Deutschland geht. Hartgesottene Elektronik-Fans aus aller Welt sehen das ganz anders, bei ihnen sind 1970er-Bands wie Neu! oder Cluster fast wichtiger, deren Cover zieren noch heute die Schaufenster von Londoner Plattenläden. Und auch Bands aus den 1980er-Jahren wie Der Plan besitzen, etwa in den USA, eine eingeschworene Fangemeinde.
    Alle diese Bands haben nicht nur die Verwendung elektronischer Klänge gemeinsam, sondern auch die Herkunft - alle stammen aus oder besitzen einen Bezug nach - Düsseldorf. Düsseldorf, die Wiege der elektronischen Pop-Musik? Das erscheint auf den ersten Blick absurd, wenn man aber mal die Namen Revue passieren lässt, die in diese Tradition gehören, staunt man doch: Neben den genannten Bands stammen La Düsseldorf, Harmonia, Rheingold, die New-Wave-Bands Deutsch-Amerikanische Freundschaft, die Krupps, Pyrolator, Belfegore und viele mehr aus der Stadt am Rhein.
    Interviews mit Zeitzeugen
    Einer, der wissen muss, wie es war, Rüdiger Esch, Mitglied der Krupps, hat nun einen hochinteressanten Sampler vorgelegt, der die Entwicklung der Elektronik minutiös dokumentiert. Er hat einige Dutzend Interviews mit Zeitzeugen und beteiligten Musikern aus Deutschland und England geführt und deren O-Töne neu zusammengemixt. Das Ganze ist ausgerichtet an einer Zeitleiste zwischen 1970 und 1986, sodass die Erinnerungen der Gefragten chronologisch exakt in den Kontext eingeordnet werden konnten. Dieses Verfahren hat Jürgen Teipel vor einem Jahrzehnt für die Punk-Szene Düsseldorfs angewandt und damals gab es relativ viel Missstimmung bei den Interviewten, wie sieht das bei der neuen Publikation aus, Rüdiger Esch:
    "Also, jetzt habe ich ja gut vier Wochen schon überstanden und bisher sind die Reaktionen alle sehr positiv, also die meisten, sehr persönlich auch. Die Meisten schreiben mir eine SMS nach Mitternacht und sagen, sie haben sehr lange gelesen. Die Meisten sagen, sie haben das Buch in zwei Nächten ausgehabt und es hat ganz schön meine grauen Gehirnzellen in Gang gesetzt, also zum Glück nur Positives."
    Was waren seine Beweggründe für diese Form der Dokumentation? Er hätte ja auch ein Sachbuch schreiben können.
    "Die Art, das so zu gestalten hat viele Vorteile, dadurch dass man also ein bisschen die Widersprüche rausarbeiten kann, und dass man den Leuten dadurch so ein bisschen eine persönliche Note gibt, wie bei einem Theaterstück haben die wirklich einen Charakter am Ende, wenn ich darüber berichten würde, was die sagten, wäre das bei Weitem nicht so direkt, wie wenn derjenige selber von seinen Empfindungen und Erlebnissen spricht."
    Da hat er recht. Tatsächlich zeigt das Buch, in dem so viele unterschiedliche Charaktere befragt wurden, ein ganzes Kaleidoskop an Perspektiven auf die musikalische Vergangenheit - ein spannender Effekt für den Rezipienten, hier seine eigene Wahrheit herauszulesen. Ist diese Methode aber vielleicht auch deshalb so nahe liegend, weil die elektronische Musik selbst sehr viel schneidet, montiert, samplet, kompiliert - ist Rüdiger Eschs Verfahren vergleichbar mit den Methoden der elektronischen Musik?
    "Interessanter Gedanke, auf jeden Fall. Es gab so was, dass man früher auch Sprüche gesamplet hat, dann hatten die sich eigentlich von musikalischen Sample gar nicht mehr so sehr unterschieden, wie beispielsweise bei so Sachen wie 'Der blonde Hans' oder so. Der Gedanke ist interessant, in dem Fall ist es nicht wie Samplen, weil man es auch nicht wiederholt und weil man nicht durch diese Wiederholungen und dieses Artfremde ein neues Medium schafft."
    Warum gerade Düsseldorf? Was prädestinierte die Stadt an der Düssel dazu, zur Hochburg der elektronischen Musik zu werden? Diese Frage stellte der Autor jedem seiner Gesprächspartner und eine schlüssige Antwort darauf hat bis heute wohl niemand parat, Eschs eigene Vermutung:
    "Ich glaube, die Sterne standen günstig halt in den 70er- und 80er-Jahren, und zwar einerseits dieses alte Westdeutschland, so eine Kulturhauptstadt des alten Westdeutschlands ist ja eigentlich hier beschrieben mit der Nähe zum Rhein, zum Ruhrgebiet und vor allen Dingen mit der Nähe zur Kunstakademie."
    Soziale Schere
    Natürlich schweben über allem die beiden Kraftwerk-Masterminds Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben, die sich wohlweislich nicht selber äußern. In den Stimmen der anderen zeigt sich allerdings ein recht vielsagendes Bild. Hier wird eine soziale Kluft zwischen den Musikern deutlich. Während Hütter und Schneider-Esleben aus sehr begüterten Häusern stammten, immer die neuesten Instrumente hatten und nie für ihren Lebensunterhalt sorgen mussten, arbeiteten andere wie Klaus Dinger und die La Düsseldorf-Musiker auf dem Bau, um ihre Platte zu finanzieren. Wolfgang Seidel, Zeitzeuge, Schlagzeuger der ebenfalls hochberühmten, allerdings: Nicht-Elektronik-Band "Ton, Steine, Scherben" bringt im Interview mit Esch die soziale Schere kompromisslos auf den Punkt: "Kraftwerk - Sound des Ruhrgebiets! Aber es macht schon einen ziemlichen Unterschied, ob dir die Fabriken gehören oder ob du darin als Malocher im Dreck wühlst."
    Wolfgang Flür, langjähriges Kraftwerk-Mitglied, berichtet denn auch, dass die Band immer eine Zwei-Klassen-Gesellschaft war: Die Bandleader residierten im Nobelhotel, ihre beiden Angestellten Flür und Karl Bartos in der billigen Klitsche, Erstere bekamen ihr Outfit vom Maßschneider an der Kö, Flür und Bartos aus dem Kaufhaus. Auch fanden die Kraftwerk-Bosse wenig dabei, vor ihren Untergebenen, die doch wichtige Beiträge zum Erfolg des Projekts beisteuerten, mit teuren Platinuhren, Bonusgeschenken ihres Verlags, zu protzen. Kurz: Hütter und Schneider Esleben kommen relativ schlecht weg, waren sie nicht bereit, mitzuwirken und ihre eigene Sichtweise der Dinge beizutragen?
    "Ja, also ich finde schon, dass die gut wegkommen. Florian Schneider und Ralf Hütter haben einfach das beste Werk abgeliefert, die haben einfach acht Alben vorgelegt, unter dem Namen Kraftwerk, die alle sensationell sind, von 'Autobahn' bis 'Elektrik-Café', das ist von 1974 bis 1986, sie haben so stringent gearbeitet und so konsequent ihren elektronischen Sound gemacht, das hat ja keine andere Band geschafft, inklusive der Krupps nicht oder Der Plan oder Belfegore nicht. Wenn man gut drauf war, hat man ja ein gutes Album vorgelegt und vielleicht noch eine Maxi dazu, aber wer hat schon so ein tolles Werk wie Kraftwerk. Das ist das eine, das andere ist, dass zu dem Werk dazu gehört, dass sie das nicht diskutieren, das heißt, nicht nur sind die nicht im Buch, weil sie nicht wollen, sondern weil es so klar ist, dass die nicht wollen, dass ich auch gar nicht gefragt habe. Umgekehrt denke ich jetzt neuerdings: Nee, die sind ja beide dabei, die sagen nur nichts."
    Zwei Generationen elektronischer Musik in Düsseldorf
    "Electri_ctiy" beleuchtet zwei Generationen elektronischer Musik in Düsseldorf, nämlich die Gründerzeit um Neu! und Kraftwerk und die zweite Generation der 1980er-Jahre, Musiker der Neuen Deutschen Welle, zu denen Rüdiger Esch selber gehörte. Gab es eigentlich einen Kontakt zwischen den beiden Elektronik-Jahrgängen?
    "Wir sind definitiv die zweite Generation, wir sind die, die eher über den Punkrock-Geist zur elektronischen Musik gekommen sind, zu dem elektronischen Equipment gekommen sind, wir haben das ja selber nicht elektronische Musik genannt, wir haben uns einfach Sequencer gekauft und fanden die Art, damit rumzuexperimentieren, interessant genauso wie mit einem Bass oder einer Gitarre der einem Schlagzeug, also Punkrock war für uns neu und mit Sequencers zu arbeiten, war für uns neu, beides, hatten wir das Gefühl, ist der selbe Do-it-yourself-Geist. Im besten Fall sind wir ja gegen diese Generation, im besten Fall sind die Typen ja fast alle 20 Jahre älter als wir alle, und man hat sich ja dagegen gewendet und wollte was Eigenes machen. Dass jetzt Düsseldorf überhaupt so eine Tradition bekommt von elektronischer Musik und sich die ganz jungen Bands bewusst in die Tradition stellen von elektronischer Musik, das ist total neu. Wir kannten noch keine Tradition."
    Und so erfinden sich, gerade in der elektronischen Musik, die Bands immer wieder neu. Inzwischen gibt es längst eine dritte Düsseldorfer Generation, Mouse on Mars, Kreidler, die Anfang der 1990er-Jahre begonnen haben, aber im Unterschied zu den hier behandelten analogen Elektronikern eben rein digitale Musik machen. Und das ist dann schon wieder eine andere Geschichte.
    Rüdiger Esch: "Electri_City. Elektronische Musik aus Düsseldorf", Suhrkamp Verlag, 460 Seiten.