Montag, 29. April 2024

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Sarah Bergmann: "Der Junge aus dem Trümmerland"
Im Bann seines Schwures

Als sein Vater in den Krieg zog, versprach Paul, dass er auf seine Mutter „gut aufpassen“ werde. Mittlerweile ist Paul 13 und der Krieg zwei Jahre vorbei – ohne jede Nachricht vom Vater. Dann der Schock: Pauls Mutter will einen der siegreichen „Neger-Soldaten“ heiraten.

Von Christoph Vormweg | 20.06.2020
Buchcover Sarah Bergmann: „Der Junge aus dem Trümmerland“
Sarah Bergmanns Jugendroman spielt 1947 in den Trümmerlandschaften Berlins (Bucchover magellan Verlag / Hintergrund picture alliance / dpa)
1945, nach dem Zusammenbruch von Adolf Hitlers Drittem Reich, sprachen in Deutschland viele von einer Stunde Null: So, als könnte man nach zwölf Jahren Nazi-Diktatur problemlos von vorn anfangen. Dass dem nicht so war, zeigt Sarah Bergmann in ihrem bemerkenswerten Jugendbuch "Der Junge aus dem Trümmerland". Denn auch zwei Jahre nach dem Neuanfang, im Frühjahr 1947, herrscht in den Köpfen weiter Krieg. Mit seiner sechsköpfigen Bande treibt sich der 13-jährige Paul täglich in den Trümmerlandschaften Berlins herum. Ihren Treffpunkt im Keller eines ausgebombten Hauses nennen sie "Hauptquartier". Ihre Anführerin ist "Falke", weil sie im Volkssturm gekämpft hat und den Nazi-Jargon aus dem Effeff beherrscht. So viel hat Paul nicht vorzuweisen.
"Während der meisten Luftangriffe war er […] kinderlandverschickt gewesen. Entfernte Verwandte, die in einem bayrischen Dorf lebten, hatten ihn in Pflege genommen. […] Er hatte eine tolle Zeit mit den Pimpfen der örtlichen Hitlerjugend gehabt. Sie hatten Geländespiele gespielt und mit dem Luftgewehr schießen gelernt. Wenn er jetzt daran zurückdachte, schämte er sich für die schrecklichen ebenso wie für die schönen Erinnerungen. Es war peinlich, dass er sich wie ein Säugling nach der Mutter verzehrt hatte, und es war ebenso unrühmlich, dass er sich den Bauch vollgeschlagen und an Kinderspielen erfreut hatte, während in Berlin und anderswo in Deutschland der Krieg tobte und Helden das Vaterland verteidigten."
Der "Neger-Soldat"
Paul will keine Memme mehr sein, sondern ein ganzer Mann. Er lebt im Bann eines Schwurs. Als sein Vater zur Ostfront aufbrach, hat Paul ihm versprochen, bis zu seiner Rückkehr auf seine Mutter "gut aufzupassen". Doch der Krieg ist seit zwei Jahren vorbei, ohne jede Nachricht vom Vater. Ist er getötet worden? Oder halten ihn die Russen gefangen? Pauls Mutter, die sich als Näherin durchschlägt, ist die Warterei jedenfalls leid. Einer ihrer Kunden, ein US-Besatzungssoldat, taucht immer öfter zu Hause auf. Dann der Schock: Die beiden sprechen von Heirat. Wie soll Paul reagieren? Für Falke, die Bandenchefin, ist die Sache klar: Sie nennt Pauls Mutter eine Volksverräterin, weil sie sich mit einem feindlichen "Neger-Soldaten" eingelassen hat.
"Du Verräterin, dachte [Paul], während er und die Mutter einander schweigend ansahen.
,Dem Erwin haben sie Dreck in die Erbsensuppe gekippt, weil seine Mutter ein Amiflittchen ist.'
,Das ist ja schrecklich', sagte die Mutter. Sie sah richtig bestürzt aus. ,Der arme Junge. Wenn sie dir sowas antun wollen, dann...'
,Sie haben recht', unterbrach Paul.
,Was?' Seine Mutter sah ihn entgeistert an.
Paul holte Luft. Er wusste, was er jetzt sagte, würde seiner Mutter sehr wehtun. Das schmerzte ihn und gab ihm gleichzeitig ein Gefühl wilder Lust. Es war seine Chance, sie fühlen zu lassen, wie es ihm ging.
,Du Amiflittchen!' Er spuckte ihr die Worte geradezu ins Gesicht.
Seine Mutter hob die Hand, um ihm eine runterzuhauen. Doch bevor sie seine Wange erreichte, gelang es ihr, sich zu kontrollieren. Paul konnte ihren Gesichtsausdruck nicht ertragen.
Er drehte sich zur Wand."
Gekonnt verschränkt Sarah Bergmann in ihrem Roman "Der Junge aus dem Trümmerland" die Nazi-Prägungen des 13-jährigen Paul und seine auffahrende pubertäre Emotionalität. In einer eingängigen, klaren Sprache, die das Vokabular der frühen Nachkriegszeit integriert, treibt sie den Mutter-Sohn-Konflikt auf die Spitze.
Der Feind im eigenen Haus
Angestiftet von der Bandenführerin, will Paul die Sache selbst in die Hand nehmen, um wieder für Ordnung zu sorgen. Die vom US-Soldaten Bill geschenkten Schokoladen tauscht er auf dem Schwarzmarkt gegen ein Kampfmesser ein, um den Feind im eigenen Haus aus dem Weg zu räumen. Er will so handeln wie einer der Helden aus der Nazi-Propaganda, das heißt wie sein Vater; oder so, wie Paul ihn sich vorstellt. Auf der Gemeinschaftstoilette, die der blasenschwache Bill nachts häufig aufsucht, bohrt Paul in Kopfhöhe ein faustgroßes Loch, um ihm die Kehle durchzuschneiden.
"Bill begann zu lesen. Er musste die Witzseite erwischt haben, jedenfalls lachte er leise, und seine Schultern begannen zu wackeln.
Halt doch mal still, dachte Paul.
Bill prustete auf einmal richtig los, und dabei entfuhr ihm ein Furz.
In seiner Anspannung musste Paul kichern. Erschrocken ließ er das Messer sinken und presste die Lippen aufeinander.
Bill lachte immer noch. Er hatte also nichts mitbekommen.
Paul atmete leise aus und hob noch einmal sein Messer. Bring es endlich hinter dich, fuhr er sich selber scharf an.
Aber das war nicht so einfach. Vor ihm saß der Feind, doch dieser Feind war auf irritierende Weise menschlich."
Paul verpasst seine Chance. Er beginnt zu zweifeln, ob seine Tat wirklich heldenhaft wäre. Wenig später, in der Mitte dieses psychologisch und vom Plot her hochspannenden Romans, ändert sich die Konfliktlage. Plötzlich steht Pauls Vater in der Tür, geschwächt von zwei Jahren russischer Kriegsgefangenschaft. Gleichzeitig hat die Bande keine Anführerin mehr, weil Falke wegen eines Kriegstraumas ihr Zimmer nicht mehr verlässt. Sie erlebt die Kampfszenen immer und immer wieder und weint dann pausenlos.
Ein Weltbild zerfällt
Pauls Weltbild bekommt immer mehr Risse. Er lernt die Uneindeutigkeit seiner eigenen Gefühle kennen: nicht nur gegenüber Vater und Mutter, sondern auch gegenüber Bill, mit dem er plötzlich Geheimnisse teilt. Auch seine Freunde beginnen, ohne Anführerin immer mehr miteinander zu reden. So hat Grille, die beide Eltern verlor, erfahren, dass die Nazis ganz und gar nicht heldenhaft waren. Und so verändern sich auch die bis dahin so kriegerischen, nie ungefährlichen Kinderspiele im "Trümmerland".
Sarah Bergmann ist ein packender, in den sinnlichen Alltagsdetails sehr gut recherchierter Roman über die Nachkriegszeit gelungen. Er besticht durch die realistische Beschreibung ganz unterschiedlicher Charaktere und Milieus und durch ein genaues Gespür für die psychologischen Widersprüche der Jugendlichen. Denn sie müssen sich ihren Neuanfang erst noch erkämpfen. Als sein Vater zurück ist, beginnt Paul die Welt um sich herum zum ersten Mal so zu betrachten, wie sie ist – ein mal schmerzhafter, mal befreiender Prozess.
Sarah Bergmann: "Der Junge aus dem Trümmerland"
Magellan Verlag, Bamberg. 240 Seiten, 15 Euro, ab 12 Jahren.