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Saskia Hennig von Lange: "Hier beginnt der Wald"
Flucht in die Wildnis

Saskia Hennig von Lange hat mit ihren Romanen längst einen faszinierenden, eigenen Weg jenseits des Mainstreams gefunden. In ihrem neuen Buch "Hier beginnt der Wald" gerät der Held auf seiner Flucht in eine unheimliche Wildnis, die der in seinem eigenen Inneren ähnelt.

Von Sabine Peters | 27.06.2018
    Buchcover Saskia Hennig von Lange: "Hier beginnt der Wald" und im Hintergrund Waldlandschaft
    Rückzugsort Wald - Eine surreale Geschichte (Cover: Jung und Jung Verlag / Hintergrund: Jelina Berzkalns)
    Die Geschichte beginnt harmlos: Ein namenloser Lkw-Fahrer ist wie so oft mit einer Möbelladung auf der Autobahn unterwegs, will sie dem Eigentümer überbringen. Seine Gedanken schweifen. Er denkt, wie sehr sich Möbel gleichen. Er denkt an seine schwangere Frau zu Hause und daran, dass er kein Kind haben will - dass er die Frau verlassen will. Er denkt, dass einer wie er im Fahren zur Ruhe kommt.
    Saskia Henning von Lange, Jahrgang 1976, hat auch in ihren beiden vorausgegangenen Romanen Männer als Protagonisten gewählt. Dieser Perspektivwechsel dient ihr allerdings nicht dazu, die Befindlichkeiten heutiger Männer möglichst realistisch darzustellen. Das neue Buch führt in eine teils surreal, teils archaisch anmutende Erfahrungswelt; es trägt den Titel "Hier beginnt der Wald."
    LKW und Autobahn verweisen anfangs noch auf Zivilisation – und als sich abends ein Unfall ereignet, eine Massenkarambolage, und der Mann in ein Krankenhaus eingeliefert wird, befindet er sich immer noch innerhalb der technisierten, durchorganisierten Welt. Eine Wunde an seiner Stirn wird genäht, der Mann wird entlassen. Er holt seinen LKW aus der Werkstatt. Wegen ein paar Kleinigkeiten ist er plötzlich auf der Flucht; er versteckt sich im Wald.
    Damit befindet er sich, metaphorisch betrachtet, in der Wildnis.
    Er bleibt bei Verstand – aber vielleicht auch nicht. Sein Verhalten wird reflexhaft; er konzentriert sich auf die jeweils gegebene, unmittelbare Situation und reagiert. Also schleicht er, weil er Durst hat, nachts in eine nah gelegene Siedlung, betritt einen fremden Garten, trinkt dort aus dem Wasserhahn. Der Wald wird sein Rückzugsgebiet.
    Die Flucht vor sich selbst
    Es ist bewundernswert, wie Hennig von Lange aus dem anfangs realistischen Geschehen
    eine traum- und alptraumhafte Geschichte entwickelt. Man weiß am Ende nicht, ob der Mann vielleicht nur fantasierte, während er am Steuer saß oder im Krankenhaus lag.
    Denn anders betrachtet, braucht es nicht viel, damit einer aus der Bahn gerät und im Wald selbst zu einem Wilden wird.
    Beiläufig schildert Hennig von Lange einige wenige Erinnerungen und Assoziationen des Mannes. Der war einmal ein vaterloses, einsames Kind, sehnte sich nach der häufig abwesenden Mutter. Ihren Tod konnte er nie verwinden. Gut, dass er eine Frau hat, aber warum muss sie ein Kind bekommen? Er ist wütend, panisch, er erkennt sich selbst nicht wieder.
    Als er im Wald einem herumstromernden Jungen begegnet, der offenbar auch auf der Flucht ist, versteckt er das Kind in seinem Lkw, später in einem Bunker. Er läuft wieder los, um Essen für sie beide zu stehlen. Man weiß nicht: verhält er sich väterlich? Brüderlich? Gibt es den kleinen Jungen? Schließlich taucht die Polizei auf und umstellt den Bunker. Gut, eine Waffe zu haben. Gut ist es, fliehen zu können.
    Ohnmachtserfahrungen und Autonomiewünsche
    Andere Autoren hätten vielleicht aus einigen der angeschlagenen Motive eine Krimi-Handlung entwickelt, eine Kindesentführung etwa. Oder sie hätten den Helden in seiner Eifersucht psychologisiert und auf die klassische Figur "das Kind im Manne" zurückgeführt. Dieses Kind steckt allerdings in jedem Menschen, es gehört zum Subjekt. Hennig von Lange lässt allgemeine menschliche Ohnmachtserfahrungen, Autonomiewünsche und Allmachtsfantasien anklingen, doch sie wird dabei nicht tiefgründig oder gar innerlich. Der Text bleibt draußen im Wald oder begibt sich in Hohlräume wie den Lkw oder den Bunker. Diese realen Räume werden durchlässig für Imaginäres und Symbolisches – die Autorin zieht den Leser allerdings nicht am Nasenring durch den Text, sondern überlässt ihm die Deutung.
    Die Offenheit und Mehrdeutigkeit des Buchs macht einen enormen Reiz aus. Der Text spricht auch nicht nur von Not, er inszeniert auch Wendigkeit – er lässt sich vorsätzlich nicht fassen.
    Dabei ist die Geschichte in ihrer ganzen Absurdität so unwiderlegbar, wie es Träume sind. Der Mann steht unter einem immensen Druck. Das erinnert an ein Diktum, das Heinrich von Kleist zugeschrieben wird. Kleist sprach von einer Maschine, die auf höchste Touren gebracht und gleichzeitig gebremst wird - der Verschleiß müsse erheblich sein. Der Held in Hennig von Langes Roman befindet sich in solch einer Verfassung. Er strengt sich an; er macht weiter; er sucht nach immer neuen Auswegen.
    Ein Buch, das sich weitab von Moden und Mainstream bewegt. Hier geht es nicht um die viel beschworene Authentizität, um die tatsachengetreue, pure, echte Wirklichkeit. Es geht nicht um eine logische, einleuchtende Geschichte. Allerdings sieht man eine Art von düsterem Leuchten im finsteren Wald. Und der unprätentiöse, einfache Tonfall des Textes lässt einen an die Redewendung denken, die umschreibt, wie Menschen mit Absurdem, Unheimlichen umgehen: Sie pfeifen im Wald.
    Ein Roman, der auf meisterliche Weise beunruhigend bleibt; dem man lang nachdenkt.
    Saskia Hennig von Lange: "Hier beginnt der Wald"
    Jung und Jung, Salzburg. 150 Seiten, 18 Euro