Remme: Herr Schartau, muss es nicht oder müsste es nicht ehrlicherweise heißen "die richtige Zeit für Reformen wäre vor ein, zwei, drei, vier Jahren gewesen"? Soll heißen: hat die SPD nicht viel zu lange gewartet?
Schartau: Sich mit solchen Gedanken jetzt noch zusätzlich zu tragen, macht die Sache eher noch bitterer. Ich glaube im Augenblick gibt es in der Tat nur eine Richtung, und die hat Johannes Rau gestern treffend formuliert, nämlich nach vorne.
Remme: Aber es wäre immerhin ein Zeichen von Redlichkeit, es mal einzugestehen?
Schartau: Mit dem Eingestehen ist das so eine Sache, weil die Verhältnisse haben sich natürlich in den vier Jahren auch verändert. Ich kann nur sagen, dass wir jetzt im Augenblick einen Problemdruck haben, der in der Tat nur dadurch verändert werden kann, dass die Reformen jetzt angepackt werden.
Remme: Herr Schartau, glücklich der SPD-Politiker, der sich zur Zeit keiner Wahl stellen muss. Sigmar Gabriel hatte Pech und er hat verloren. Seine Kritik an der SPD vom Wochenende ist deutlich. Auf die Abwärtsbewegung der Wirtschaft habe die Regierung falsch reagiert. Stimmen Sie zu?
Schartau: Wir haben uns bisher außerordentlich schwer getan zu den großen Fragen, nämlich wo wir neue Arbeitsplätze sehen, wie wir den Rahmen dafür machen wollen, welche Bedingungen wir für Unternehmen schaffen, die investieren wollen, und wie wir angesichts der allgemeinen Verunsicherung in der Bevölkerung mit Blick auf steigende Arbeitslosigkeit und andere Dinge umgehen, wie die Regierung sich auch zum Anlehnen empfiehlt und wie sie im Prinzip das Heft in die Hand nimmt. Da ist sicherlich Kritik angebracht, die aber nach vorne gerichtet werden muss.
Remme: Woran liegt das, dass die SPD sich damit so schwer tut?
Schartau: Hier und da ist in meiner Partei ein Verständnis, dass wir nur dann sozial sind, wenn wir uns nicht verändern, wenn wir die Systeme der sozialen Sicherung, die ja Ausdruck von sozialer Verantwortung sind, möglichst unangetastet lassen. Ich wie andere sind der Auffassung, soziale Gestaltung heißt, dass man die Systeme auch verändert, dass man veränderte Bedingungen auch mit anderen politischen Maßnahmen realistischerweise gestalten muss.
Remme: Dann lassen Sie uns doch konkret werden. Von Richtungswechsel ist die Rede, von Ruck wieder mal. Wie kann sich die SPD und diese Regierung aus ihrer Not befreien?
Schartau: Viele Gedanken sind genannt. Das wichtigste bei der Regierungserklärung von Kanzler Schröder am Freitag wird sein, dass er seine Meinung dazu sagt und sagt, wie die einzelnen Vorschläge quasi wie Perlen auf eine Perlenkette kommen. Die große Richtung ist aus meiner Sicht vollkommen klar. Das schlimmste, was uns passieren kann, auch unter sozialen Gesichtspunkten, ist im Augenblick der Stillstand. Es muss nach vorne gehen. Das heißt wie wird das Risiko für Menschen auch politisch begleitet, die in die Selbständigkeit gehen. Wie wird das Risiko von Unternehmen begleitet, die reinvestieren, die neue Arbeitsplätze schaffen wollen, die auf neue Märkte gehen. Wie werden Leute unterstützt, die vorübergehend ihre Arbeit verlieren und nichts anderes im Kopf haben, als möglichst schnell wieder eine Arbeit zu finden. Und wie helfen wir Leuten, die in prekäre Situationen kommen und mit aller Gewalt und so schnell wie möglich dort wieder herauskommen wollen. Das sind im Augenblick für mich die zentralen Fragen.
Remme: Herr Schartau, sagen Sie uns drei konkrete Maßnahmen, die diese Ziele befördern.
Schartau: Das heißt Bürokratieabbau bei jungen Leuten, bei älteren, die in die Selbständigkeit gehen wollen, alle Hürden zurückfahren, die sie davon abhalten können, das zu tun. Bei der Arbeitslosigkeit weniger über die Länge von Arbeitslosengeld zu diskutieren, sondern darüber zu reden, wie wir schnellstens den Leuten wieder in neue Arbeit helfen können. Die Diskussion über den Kündigungsschutz bitte vom Kopf auf die Füße stellen, nämlich nur da wo er verhindert, dass Leute wieder neu eingestellt werden, muss es auch zu Korrekturen kommen, zum Beispiel bei neuen Betrieben oder bei älteren Arbeitnehmern, die deshalb nicht mehr in die Betriebe reinkommen, weil sie wegen des Kündigungsschutzes von den Unternehmen erst gar nicht genommen werden.
Remme: Aber Abbau von Bürokratie hat man sich zum Beispiel seit Jahren vorgenommen und es hat nicht geklappt?
Schartau: Solange man es so allgemein hält, quasi wie eine Brosche an der Jacke trägt – das macht ja jeder -, nützt es auch nichts, sondern wie wird ein junger Unternehmer vor Ort behandelt, der sein Gewerbe anmeldet. Mit wie vielen Formularen wird er konfrontiert. Welche Auflagen muss er erfüllen. Oder wird ihm ein roter Teppich ausgebreitet, weil jeder in der Stadt weiß, der will hier neue Arbeitsplätze schaffen. Das sind eigentlich ganz einfache Sachen.
Remme: Geht es ohne deutliche Einschnitte ins soziale Netz?
Schartau: Einschnitte ins soziale Netz, wenn man sie so allgemein formuliert, bringen überhaupt nichts, aber Veränderungen im sozialen Netz, die dazu führen, dass die Leute ihre eigene Verantwortung, wieder in Beschäftigung zu kommen, auch mehr wahrnehmen, die halte ich durchaus für legitim.
Remme: Spricht da der alte Gewerkschafter, Herr Schartau?
Schartau: Meine Art von Gewerkschaftsarbeit war immer die, nämlich die Leute wollen nicht auf der faulen Haut liegen. Die Leute wollen eine neue Arbeit haben. Dabei muss man ihnen helfen. Aber man kann die Solidarität auch nicht so definieren, dass jeder für sich selbst bestimmt, wie lange er mit dem Arbeitslosengeld leben will ja oder nein.
Remme: Das Geld fehlt an allen Enden. Vom Kanzler wird der große Wurf erwartet. Herr Schartau, was wäre denn mit Ihnen nicht zu machen? Gibt es in dieser Diskussion um Reformen Tabus?
Schartau: Die Tabus gibt es immer. Im Augenblick wäre aber das allerschlimmste, was uns passieren könnte, der Stillstand.
Remme: Herr Bsirske, der ver.di-Chef, er spricht von einem tief gestaffelten Angriff auf den Sozialstaat. Gegenhalten ist sein Motto. Ich sagte es, Sie haben selbst lange für die IG Metall gearbeitet. Droht hier durch diese Situation ein Zerwürfnis zwischen Regierung und Gewerkschaften?
Schartau: Ich glaube da muss jeder, auch Herr Bsirske, die Tassen im Schrank lassen und die Dinge etwas tiefer hängen. Das größte Problem, das wir im Augenblick haben, ist in der Tat die allgemeine Verunsicherung in der Bevölkerung, die steigende Arbeitslosigkeit und die geringe Neigung zu Investitionen und zum Gang in die Selbständigkeit. Ich glaube solche Äußerungen mögen vielleicht die eigenen Mitglieder hier und da beklatschen, aber in der Breite will die Bevölkerung eigentlich sehen, dass es jetzt nach vorne geht. Sie ist im Prinzip jetzt daran interessiert, wie der Kanzler die Politik gestalten will, und da hören wir am Freitag alle genau zu.
Remme: Die Bevölkerung, sie ist mit Sicherheit daran interessiert, aber sind es die Gewerkschaften auch?
Schartau: Ja, die Gewerkschaften sind in großem Maße interessiert daran, dass es zu Veränderungen kommt, denn sie merken ja an den Reaktionen aus den Betrieben, wie im Prinzip die Arbeitsplatzangst um sich geht. Das mag hier und da vielleicht in den Gewerkschaftszentralen nicht so ankommen, aber vor Ort wird es ganz deutlich gemerkt.
Remme: Seit Tagen ist auf innenpolitischer Bühne von nichts anderem die Rede als von dieser Erklärung am Freitag. Herr Schartau, ist nicht schon durch diese Erwartungshaltung eine Enttäuschung programmiert?
Schartau: Wenn irgend jemand glaubt, am Freitag kann Gerhard Schröder einen Schalter umlegen und dann sind alle Dinge gut, der lebt sicherlich auf einem anderen Stern, denn das was am Freitag kommen kann ist, dass aus den vielstimmigen Vorschlägen auch aus den Reihen der SPD der Kanzler sagt, wie er diese Vorschläge zusammenfügt zu einem Gesamtbild von nach vorne gehender Politik. Da werden viele Sachen auftauchen, die bereits bekannt sind, aber nicht bekannt ist, ob sie jetzt aufgegriffen werden, ob sie Leitlinien der Politik sind, ob damit jetzt auch mit harter Hand regiert wird. Diese Aufgabe wird Gerhard Schröder am Freitag haben.
Remme: Der Öffentlichkeit nicht bekannt oder selbst Ihnen nicht? Hintergrund der Frage ist: wie einsam wird dieser Entschluss von Gerhard Schröder sein?
Schartau: Das wird natürlich keine einsame Geschichte sein, sondern alle Themen sind klar. Die Themen heißen: wird es eine Notoperation für die Kommunen geben? Werden die zusätzliches Geld bekommen? Was wird im Bereich Arbeitslosen- und Sozialhilfe, im Bereich der Arbeitnehmerschutzgesetze sein? Welche Initiativen werden von Seiten der Bundesregierung goutiert, die in Richtung neue Arbeitsplätze gehen, und was wird mit welchem Tempo an den Sozialsystemen passieren, um sie auf Dauer auch wirklich mit diesem Namen noch ausstatten zu können?
Remme: Harald Schartau war das, Wirtschafts- und Arbeitsminister in Nordrhein-Westfalen und SPD-Landeschef dort. – Herr Schartau, vielen Dank für das Gespräch!
Link: Interview als RealAudio