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Schausteller-Seelsorge in Corona-Zeiten
Kirmes, Kirche, Krise

Karussells und Riesenräder stehen nun schon eine ganze Weile still. Die Schaustellerbranche trifft die Corona-Krise besonders hart. Für Friedrich Brandi, ehrenamtlicher Zirkus- und Schausteller-Seelsorger in Hamburg, ist es zurzeit schwierig, „seine Jahrmarkt-Gemeinde“ überhaupt zu erreichen.

Von Ada von der Decken |
Eine geschlossene Bude am Ort des Hamburger Winterdom. Die Veranstaltung wurde abgesagt.
Ein Sinnbild für Kirmes in Corona-Zeiten: Eine geschlossene Bude am Ort des Hamburger Winterdom. Die Veranstaltung wurde abgesagt. (picture alliance / xim.gs)
Die Jahrmärkte mussten schon früh den Stecker ziehen. Ihre Saison hätte im vergangenen Jahr gerade losgehen sollen, da durchkreuzte die Pandemie die Pläne der Betreiber von Buden und Fahrgeschäften. In Hamburg ist Friedrich Brandi Seelsorger der evangelischen Kirche für die Schausteller. Seine Gemeinde sieht er - normalerweise - regelmäßig auf dem größten Jahrmarkt im Norden – dem Hamburger Dom. Dort geht er dann von Stand zu Stand und - "schnackt".
Brandi: "Wenn ich bei den Geschäften vorbeigehe, freuen sie sich alle. Weil, das muss man immer mitberücksichtigen, sie auch das Gefühl haben, sie sind wertgeschätzt und werden gesehen. Denn das ist ja häufig das Problem, dass die mit flüchtigen Kontakten viel zu tun haben und das auch durchaus genießen. Aber es eben auch sehr schön finden, wenn sie wissen, da ist ein verlässlicher Ansprechpartner. Der ist für mich da."

Gottesdienst, wenn die Buden schließen

Der etwas andere "Dom"-Pastor hat, was überraschen mag, ziemlich viele Aufgaben, die auch in einer üblichen evangelischen Gemeinde anfallen. Zu jeder Dom-Saison-Eröffnung gibt es einen Gottesdienst – spätabends, wenn alle Buden geschlossen sind. Er tauft Schaustellerkinder, leitet den Konfirmandenunterricht und schließt Hochzeiten. In den vergangenen Monaten sah er "seine Gemeinde" nur bei Beerdigungen.
Corona-Wunden: Von Menschen, die sich um die Seele sorgen
Mehr als 30.000 Deutsche sind 2020 an oder mit COVID-19 gestorben. Aber auch jene tragen Verletzungen davon, die sich nicht anstecken, aber etwa unter Depressionen leiden. Meist jenseits der Schlagzeilen kümmern sich Seelsorger um diese Menschen. Eine Langzeitbeobachtung.
"Das muss man sich nicht so vorstellen, dass die Menschen, die Schausteller zu mir kommen und sagen: Ach, Herr Brandi, ich habe da ein Problem. Sondern sie kommen, wenn ich da bin. Dann kommen sie mit ihren Gedanken und Ängsten und Sorgen und Nöten raus. Und jetzt gerade in dieser Corona-Zeit ist das natürlich durchtränkt von Existenzängsten. Das darf man nicht vergessen."

"Wie ein dezentrales Dorf"

An vielen Orten in Deutschland sind Seelsorger wie Friedrich Brandi im Einsatz, die meisten ehrenamtlich. Bei den Schaustellern meldet er sich derzeit vor allem via Messenger. Vor Weihnachten erhielten alle eine Videobotschaft von Brandi. Trost sei schwer zu finden in dieser Zeit, sagt er. Kraft schöpfen könne man nur aus dem Zusammenhalt. Er schließt das knapp vierminütige Video mit:
"Also ihr Lieben, bleibt gottbehütet, und gottbefohlen. Ich denke an euch und bin mit euch mit meinen Gedanken und Gefühlen. Euer Friedrich Brandi", gesendet aus dem eigenen Arbeitszimmer. "Ja, die Schausteller muss man sich vorstellen wie ein dezentrales Dorf. Also die nicht alle zusammenwohnen, aber wo jeder jeden kennt."
In dieses "dezentrale Dorf" hineingewachsen ist auch Robert Kirchhecker vom Schaustellerverband Hamburg. Er wurde auf dem Hamburger Dom getauft, seine Kinder ebenfalls. Kirchhecker: "Es liegt eigentlich daran, dass irgendwie die Schausteller weitestgehend weitläufig auch sehr viel untereinander verwandt sind. Das ist ja so die Berufsgruppe. Man muss ja auch wissen: Es ist ja auch ein schwieriger Beruf: Das ist ja nicht so, dass man da so einfach so reinplumpst und man macht das alles mal so mit. Sondern man wird damit groß und man wird damit auch dementsprechend aufgezogen."

Corona: "Anderthalb Jahre ohne Einnahmen"

Der 44-Jährige führt das Geschäft seiner Großeltern weiter. Und Kirchhecker richtet Weihnachtsmärkte in der Hamburger Innenstadt aus. Durch und durch Schausteller. Im vergangenen Jahr hat er vielen Reportern dieselben Fragen beantwortet. Ja, es stehe sehr schlecht um die Branche.
Kirchhecker: "Nennen sie mir mal ein Berufszweig, der vielleicht anderthalb Jahre ohne Einnahmen sein darf und trotzdem ums Überleben kämpft oder dann nicht schon eigentlich gestorben ist. Da sind wir dann schon in gewisser Hinsicht - muss man einfach auch mal sagen - Überlebenskünstler."
Ein Mann schiebt eine Kanone an einer Jahrmarktsbude vorbei.
Auch die Schausteller leiden unter der Absage von Schützenfesten. (picture alliance / Caroline Seidel/dpa)
Über die gesamte Stadt verteilt, durften einige Buden aufmachen – immerhin. Das half einigen. Andere Kollegen fahren jetzt Bagger auf Baustellen, arbeiteten bei der Müllabfuhr oder als Lastwagenfahrer. Besonders die Betreiber von Fahrgeschäften hätten es schwer. Da hingen hohe Investitionen dran. Aber verunsichert seien alle:
Kirchhecker: "Diese Ungewissheit, wie lange dauert das Ganze noch? Ab wann geht es denn jetzt wieder los? Geht es dann auch wirklich im Sommer wieder los? Und die Frage ist: Wie geht es dann wieder los? Haben wir noch mit vielen Einschränkungen zu kämpfen, haben wir noch weitestgehend, ich sag mal, mit den ganzen Auflagen, die wir jetzt hätten durchführen müssen, bei einer Veranstaltung, haben wir die im Sommer auch noch? Und das muss man einfach mal sagen: Dann ist natürlich der Umsatz, den wir unbedingt und dringend benötigen, gar nicht so zu machen."

"Mit dem Unverfügbaren umgehen"

Der geräumige Wohnwagen, in dem Kirchhecker normalerweise die meiste Zeit des Jahres auf dem Heiligengeistfeld lebt, parkt nun schon zu lange auf dem Betriebsgelände in einem ländlichen Teil in Hamburgs Osten. Dort lebt er mit Frau und drei Kindern, bis es wieder losgeht. Das besondere unstete Leben der Schausteller beeindruckt Pfarrer Brandi immer wieder.
Brandi: "Am Anfang, als ich das vor zehn Jahren begonnen habe, habe ich gesagt: Ich weiß gar nicht, wie ihr immer ständig auf Achse sein könnt. Ja, ich kann gar nicht verstehen - das war dann die Antwort - wie ihr ständig an einem Ort wohnen könnt."
Und auch der Glaube spiele für viele Schausteller eine besondere Rolle, ökumenisch und recht religiös. Brandi: "Das muss man sich so vorstellen, dass die Schausteller gewohnt sind, in einer gewissen Abhängigkeit zu leben. Oder mit dem Unverfügbaren umzugehen. Also, die sind abhängig vom Wetter, ob das Wetter gut ist, ob die Leute kommen, ob irgendwie gerade Fußball-WM ist oder ob die Behörden den Zuschlag geben. Also die wissen: Ich habe nicht alles in der Hand. Und deswegen haben sie ein Gespür für religiöse Fragen und für Gott, der irgendwie über allem ist. Und das finde ich immer sehr erstaunlich und ich verstehe meine Aufgabe als Pastor dann darin, diesem diffusen religiösen Gefühl eine Sprache zu geben oder das mit der Tradition zu verknüpfen. So das ist meine Aufgabe."
Für die Schausteller hofft Seelsorger Friedrich Brandi, dass es bald wieder weitergehen kann mit dem Rummel, dem Vergnügen, dem Gedränge vor den Buden und Fahrgeschäften auf dem Hamburger Dom. Denn für seine Gemeinde ist es die Lebensgrundlage.