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Scheer: Clements Aufruf zur Nichtwahl war "ein schlichter Loyalitätsbruch"

Der baden-württembergische SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer kann im Lichte der heutigen finalen Entscheidung zum Parteiausschlussverfahren gegen Wolfgang Clement dessen Entschuldigung an die Partei nicht akzeptieren. Clement müsse sich bei Andrea Ypsilanti entschuldigen, deren Wahlsieg in Hessen Clement wahrscheinlich verhindert habe, so Scheer - der auch im Zentrum von Clements Kritik stand.

Hermann Scheer im Gespräch mit Dirk Müller | 24.11.2008
    Dirk Müller: Seit 38 Jahren Mitglied in der SPD, viele Jahre Ministerpräsident, viele Jahre Superminister im Bundeskabinett. Heute könnte sich entscheiden, ob Wolfgang Clement herausgeworfen wird aus seiner Partei. Der Vorwurf: sein unmissverständlicher Aufruf Anfang des Jahres, Andrea Ypsilantis SPD bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen nicht zu wählen – wegen der Energiepolitik der hessischen Sozialdemokratin. Das mit den Linken kam dann etwas später. Ein Verhalten, das der Partei sehr, sehr geschadet hat, wie viele Sozialdemokraten immer noch meinen. Sie fordern den Rausschmiss.
    Über Wolfgang Clement reden wollen wir mit dem hessischen SPD-Bundestagspolitiker Hermann Scheer. Guten Morgen!

    Hermann Scheer: Guten Morgen. Ich bin aber kein hessischer, sondern baden-württembergischer SPD-Bundestagsabgeordneter.

    Müller: Verzeihung! Dann baden-württembergischer Bundestagsabgeordneter. – Sie waren aber im Gespräch, in Hessen Politik zu machen in der Regierung.

    Scheer: Ich war in dem Zukunftsteam von Andrea Ypsilanti für genau diese Frage, die Wolfgang Clement so verstört hat, nämlich ich war für das Energieprogramm dort zuständig.

    Müller: Herr Scheer, meine erste Frage. Können Sie Wolfgang Clement verzeihen?

    Scheer: Das ist eine Sache, bei der ich mich selbst von Anfang an rausgehalten habe, denn ich war ja Mitangegriffener. Frau Ypsilanti war die Hauptangegriffene, weil er ja eine Woche vor der Wahl gesagt hat, und zwar ziemlich spektakulär, sie nicht zu wählen, also damit die SPD nicht zu wählen, weil das ja nun mal damit einher geht, und wegen des Energieprogramms und für das stand ich. Deswegen war ich gewissermaßen auch neben der Gesamtpartei und neben Frau Ypsilanti unmittelbar Betroffener dieser Attacke, weswegen ich mich aus allen weiteren Diskussionen über die Person Clement, was seine Parteimitgliedschaft anbetrifft und das Parteiordnungsverfahren anbetrifft, immer herausgehalten habe.

    Müller: Herr Scheer, wir freuen uns ja, dass Sie uns zugesagt haben bei der Interview-Anfrage, über Wolfgang Clement zu reden. Deswegen noch mal meine Frage. Sie sind ja jetzt nicht mehr befangen. Sie sind ja jetzt nicht mehr im Rennen für Hessen.

    Scheer: Nein, nein. Über den politischen Vorgang rede ich schon. Ich werde nur nichts zu dem Parteiordnungsverfahren sagen. Das ist eine Sache, das ist ein Parteigericht und da ich außerdem noch Parteivorstandsmitglied bin und auch noch mit zu den unmittelbar persönlich Attackierten gehörte und gehöre, bin ich der Meinung, dass ich zu dem Parteiordnungsverfahren nicht Stellung nehmen sollte. Zum politischen Vorgang sehr wohl.

    Müller: Dennoch: Ich habe jetzt Schwierigkeiten, das voneinander zu trennen. Aber wir können uns ja versuchen, der Sache anzunehmen. Können Sie Wolfgang Clement verzeihen?

    Scheer: Nein. Ich halte das, was er dort gemacht hat, für einen nach wie vor unglaublichen Vorgang, nämlich aufzurufen, die Partei, der er angehört, unmittelbar vor einer Wahl nicht zu wählen wegen eines Sachpunktes. Das ist zwangsläufig ein extrem unsolidarisches Verhalten. Es stößt mit der Nase darauf, dass bei dem ganzen Konflikt um Hessen, um die hessische SPD, um die Regierungsbildung, dass hier mehr im Spiel ist, bei dem Widerstand gegen Frau Ypsilanti mehr im Spiel ist als lediglich die Frage, dass sie das Versprechen nicht einhalten konnte, aufgrund des Wahlergebnisses nicht mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten.

    Müller: Was meinen Sie jetzt mit "mehr im Spiel", Energiepolitik? Das bezog sich ja auf die Energiepolitik.

    Scheer: Ja, natürlich war es dieser energiepolitische Konflikt. Wolfgang Clement hat gesagt, er hat aufgerufen, nicht die SPD zu wählen wegen des Energieprogramms, weil dort angeblich neben dem Ausstieg aus der Atomenergie, den er früher immer selbst befürwortet hat, aber von dem er jetzt Abstand genommen hat, gleichzeitig gesagt worden ist, wir wollen keine großen Kohlekraftwerke mehr, wir machen das anders, wir gehen den neuen Weg, wir gehen den Weg mit Kraftwärmekopplung, was ja auch viel effektiver ist, und verstärken den Ausbau erneuerbarer Energien. Das stand im Zentrum des Wahlkampfs. Das hat er für unverantwortlich erklärt und deshalb aufgerufen, nicht SPD zu wählen, und es tut mir leid, wenn einer eine Woche vor einer Wahl so etwas macht, bei einer Wahl, die ganz knapp ausgegangen ist. Er hat ja die gezielte Absicht gehabt, einen Wahlsieg zu verhindern, und möglicherweise sind die 3.000 Stimmen, die gefehlt haben, genau darauf zurückzuführen. Es tut mir leid: Ich kann das politisch nicht nachträglich in irgendeiner Weise rechtfertigen oder den Mantel des Verständnisses oder des Verzeihens darüber legen. Das ist ein Vorgang, der ist passiert, der hat Folgen gehabt und der ist insofern für sich gesehen nicht zu entschuldigen.

    Müller: Also wenn ein Sozialdemokrat sagt, was ihm an der sozialdemokratischen Positionierung konkret im hessischen Wahlkampf nicht passt, und dann sagt, das kann ich nicht mittragen, dann muss er auch raus aus der Partei?

    Scheer: Nein, Entschuldigung. Es ist immer ein völlig anderer Vorgang, ob man bei der Debatte um die Entstehung eines solchen Programms so etwas anmerkt, oder ob man direkt eine Woche vor einer Wahl bei vorheriger Nichtbeteiligung an der Debatte einen spektakulären Aufruf macht. Das ist ein riesiger Unterschied.

    Müller: Warum hat er das getan?

    Scheer: Weil er eine andere Position hat, die für ihn offensichtlich von so grundsätzlicher Bedeutung ist, dass er dieses vor die Belange einer Partei und vor die Loyalität zu seiner Partei in diesem Moment gestellt hat.

    Müller: Ein SPD-Politiker darf nicht für Atomkraft sein?

    Scheer: Natürlich darf er das. Es gibt SPD-Politiker, die sind für Atomenergie, aber die rufen deswegen noch lange nicht vor einer Wahl, unter Bezugnahme auf ihre Rolle unmittelbar vor einer Wahl, ganz gezielt unter Bezugnahme auf ihre Rolle als ehemaliger SPD-Repräsentant dazu auf, nicht SPD zu wählen. Nehmen Sie den ehemaligen Europaabgeordneten Rolf Linkohr. Mit dem habe ich persönlich sehr gute Kontakte seit vielen Jahren. Er ist ein erklärter Befürworter der Atomenergie. Der hat selbstverständlich auch seinen Platz in der SPD, weil er in allen anderen Fragen eigentlich mehr oder weniger auf einer Position ist, die mit dem, was von der SPD beschlossen worden ist, was Programmatik ist, konform geht – in dieser einen Frage nicht. Aber der ruft deswegen nicht vor einer Wahl dazu auf, nicht SPD zu wählen. Das ist ein fundamentaler Unterschied.

    Müller: Herr Scheer, die Gewissensfreiheit und die Meinungsfreiheit stößt an ihre Grenzen, wenn die SPD-Loyalität gefährdet ist?

    Scheer: Nein, nein. Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Wenn eine Partei Bestand haben will, dann muss es die Möglichkeit geben, zum einen, wenn es eine demokratische Partei ist – das ist die SPD -, dass man seine Auffassungen vorher breit artikuliert in sehr unterschiedlicher Weise. Und wenn dann etwas beschlossen wird, und zwar mit riesiger Mehrheit, in diesem Fall sogar ein einstimmig verabschiedetes Wahlprogramm, und eine Partei dafür mit all ihren Mitgliedern den Wahlkampf führt, und dann eine Woche vorher gezielt von einem aufgerufen wird unter Ausnutzung seiner Parteimitgliedschaft, nicht SPD zu wählen, dann kann man hier nicht die große hehre Kategorie der Gewissensfreiheit in Anspruch nehmen, sondern dann ist das ein schlichter Loyalitätsbruch.

    Müller: Nun hat Wolfgang Clement, Herr Scheer, sich ja entschuldigt oder er hat es bedauert. Er wollte die Gefühle der Sozialdemokraten in Hessen oder aller Sozialdemokraten nicht verletzen. Akzeptieren Sie diese Einlassung?

    Scheer: Ich akzeptiere erst eine Einlassung von ihm - - Das hat wie gesagt nichts damit zu tun, wie ich zu dem Verfahren stehe. Ich habe einen anderen Weg ihm persönlich vorgeschlagen, weil er sehr oberflächliche Positionen geäußert hat zu dem Energieprogramm, das ich zu verantworten hatte. Ich habe ihn mehrfach aufgefordert, mit mir eine öffentliche Diskussion zu führen. SPD-Gliederungen haben ihn aufgefordert, mit mir ein Streitgespräch darüber zu führen. Er hat das stets abgelehnt, obwohl er eine Diskussion gefordert hat. Das wäre mein Weg der Auseinandersetzung. Der steht nach wie vor offen.

    Müller: Also Sie akzeptieren es nicht?

    Scheer: Ich akzeptiere erst eine Entschuldigung, wenn er sich bei Frau Ypsilanti persönlich entschuldigt.

    Müller: Sind Sie persönlich verletzt?

    Scheer: Ich persönlich bin nicht verletzt. Ich weiß, welche Auseinandersetzungen man eingeht. Aber ich habe meine Bewertung dafür. Der Hauptleidtragende war der hessische Landesverband, dem kurz vor der Wahl die wenigen Stimmen möglicherweise dadurch abhanden gekommen sind, die er gebraucht hätte, um wirklich die alleinige Mehrheit zu erringen und nicht das Kopf-an-Kopf-Rennen nur dann zu Stande gekommen wäre zwischen der CDU und Herrn Koch einerseits und Frau Ypsilanti und der SPD andererseits. Die Hauptleidtragenden sind die hessische SPD und die vormalige Spitzenkandidatin und Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti. Ehe er sich bei ihr nicht persönlich entschuldigt, nehme ich die Entschuldigung als Person durch Clement nicht an. Persönlich halte ich sie nicht für glaubhaft.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der SPD-Bundestagspolitiker Hermann Scheer. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Scheer.

    Scheer: Gern geschehen.

    Müller: Auf Wiederhören.