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Schirokine in der Ostukraine
"An den Strand geht hier niemand mehr"

Im Dorf Schirokine am Asowschen Meer ist der Krieg spürbar: Seit Monaten kämpfen dort prorussische Separatisten und ukrainische Freiwilligen-Bataillone. Alle Einwohner sind geflüchtet, die Gegend vermint und ein Ende der Gewalt nicht in Sicht.

Von Bernd Großheim | 16.06.2015
    Ein Kämpfer aus dem Freiwilligen-Bataillon Azov im Dorf Schirokine in der Ostukraine
    Ein Kämpfer aus dem Freiwilligen-Bataillon Azov im Dorf Schirokine in der Ostukraine (dpa / picture alliance / Sergey Vaganov)
    Blockposten 15: Der letzte Kontrollpunkt vor dem Dorf Schirokine am Asowschen Meer in der Ostukraine. Von hier aus sind es nur noch ein paar Minuten in den Krieg. Das Dorf ist seit Monaten heftig umkämpft zwischen den Separatisten, die von Russland unterstützt werden und ukrainischen Freiwilligen-Bataillonen. Am Kontrollpunkt steht Taras in einem rechtsgelenkten Geländewagen. Der sei aus England, sagt er. Die seien billiger in der Anschaffung. Taras kommandiert etwa 180 Mann eines ukrainischen Freiwilligen-Bataillons hier östlich der Hafenstadt Mariupol.
    "Die schweren Waffen der Separatisten sind nicht da, wo sie sein sollen. Wir haben unsere Technik zurückgezogen, aber sie haben sie vorgerückt, nach Sachanka, drei Kilometer von Schirokine entfernt. Zwei Raketenwerfer und zehn Haubitzen stehen in Sachanka und wir werden ständig angegriffen."
    Nachzuprüfen sind Taras Aussagen nicht. Und die Wahrscheinlichkeit, dass auch sein Freiwilligen-Bataillon Donbass schwere Waffen an der Front hat, ist sehr groß.
    Unterwegs steigt Butsch zu. Ein Kamerad von Taras. Während der stolz sein Bundeswehrhemd trägt, hat Butsch ein rot-weißes Ringelshirt an. An den Füßen Badelatschen. Beide unterhalten sich, was so los war.
    Taras: "Ich habe gestern einen Russen gefangen genommen, ihn verhört, er hatte einen russischen Pass dabei. Und ihr?
    Butsch: "Nichts Dolles. Nachtschicht eben. Zwei Leute schlafen, und zwei bewachen den Checkpoint, alles in Ordnung..."
    Am Dorfrand von Schirokine zeigt Butsch in einer Ferienhaussiedlung die Trichter der 150 Millimeter-Granaten. Sie sind wohl acht Meter im Durchmesser. Keine Fensterscheibe ist mehr heil. Die Überreste eines LKW-Führerhauses liegen zerfetzt neben einer Einfahrt. Wie viele Geschosse es waren, weiß er nicht. Man zähle sie ja nicht, meint Butsch.
    "Ich weiß nicht, beim Bataillon Azov sind ein paar Leute ums Leben gekommen. Gestern war der Beschuss stark, sie schießen wirklich viel."
    Mit geschlossenen Augen fast idyllisch
    Ein paar hundert Meter weiter stehen Sonnenschirme am Sandstrand. Erst beim zweiten Hinsehen erkennt man, dass sie aus Metall sind und deswegen nicht umgeweht wurden. Diese Ferienhaussiedlung sei von Separatisten zurück erobert worden, sagt Taras, der Kommandeur. Und es herrscht Stille in Schirokine, nur ein bisschen Wind und Vogelgezwitscher, mit geschlossenen Augen fast idyllisch, mit offenen Augen wird der Schrecken des Krieges deutlich. Vollkommen zerstörte Häuser, verrußte Mauerreste, herunter hängende Rollos. Umgefallene Sessel in den Räumen. An den Strand geht hier niemand mehr. Der sei vermint, sagt Taras. Alle Einwohner von Schirokine seien geflüchtet. Dass man keine seiner Kämpfer sehe, liege daran, dass er befohlen habe, sich nicht ohne besonderen Grund aus der Deckung zu begeben.
    "Einige ruhen sich jetzt aus, weil es ruhig ist, wir führen einen Nachtkrieg. Sie greifen nachts an."
    Zombies nennt Taras die Separatisten. Russen, die in den Tod geschickt würden. 20 Prozent von denen wollten gar nicht kämpfen. Woher Taras das weiß, sagt er nicht. Egal, eines Tages werde es Frieden geben, meint er. Bis dahin werde es aber wohl noch viele Tote geben. Taras horcht kurz auf und hört auf zu sprechen, als zwei dumpfe Explosionen einige Kilometer weiter weg zu hören sind. Kurz danach eine Gewehrsalve. Nach ein paar Sekunden sagt der Kommandeur: alles normal. Alles normal. Und wieder wird es still am Asowschen Meer in der Ostukraine.