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Schlepperoper
Flüchtlingspolitik und antiker Mythos

Von Eberhard Spreng | 12.10.2014
    Durch den Fluss Evros soll einst, der Sage nach, der Kopf des von Mänaden ermordeten Orpheus getrieben sein; heute ist der Fluss ein Symbol für die unüberwindliche Grenze, mit der sich Europa vor internationalen Flüchtlingsströmen abschottet. Die antike Region Thrakien ist aber auch eine bevorzugte Zwischenstation für Zugvögel, die auf dem Weg von Nord nach Süd und zurück die Route über das weite Mittelmeer meiden; Störche zum Beispiel. Dieses und manches andere mehr erfährt man in dem performativen Musiktheater der Andcompany, die in ihrer Orpheus-Meditation Berliner Flüchtlingspolitik mit antikem Mythos und einer Musik zwischen Curt Weill und Monteverdi verbindet.
    Die Orpheus-Reminiszenz beginnt mit einer kleinen Schulstunde zur Geschichte des Buchstaben A. Dieser symbolisierte zunächst den Stier, der für physische und spirituelle Kraft stand. Die offenen Enden des "A" wiesen zunächst nach oben. Europa habe aus dem stolzen Tier einen Ochsen gemacht, ein unterjochtes Arbeitstier im Dienste eines fragwürdigen Zivilisationsmodells, während sich der Buchstabe um die eigene Achse allmählich nach unten drehte.
    Eine Regalwand mit quadratischen Fächern ist hinten auf der Bühne aufgebaut; ein Alphabet aus weiteren Buchstaben und Symbolen füllt seine Lücken: die Eule, die Schlange, ein Haimaul, aber auch die Europa-Flagge mit ihren Sternen gehören dazu. An den Bühnenflanken stehen Musiker, die die Performer und die für diese Arbeit hinzuengagierten Sänger begleiten. In dunklen Regencapes treten sie auf, zusammengekauert. Doch unter der Regenkleidung zeigen sich kunterbunte eng anliegende Kostüme. Erst auf den zweiten Blick erweisen sie sich als die Darstellung des menschlichen Körpers von Wärmebildkameras, die Grenztruppen bei nächtlichen Patrouillen verwenden. Der Evros ist, so will es die Andcompany erzählen, Europas Todesfluss, in seinen Wassern ertranken schon zahllose Flüchtlinge. Immer wieder präsentiert sich einer der Performer als Schlepper und erklärt seine Tätigkeit.
    "Wenn wir heute Abend über Schlepper reden, dann sagen wir nicht, dass alle Schlepper gut sind, wir sagen aber auch nicht, dass alle Schlepper böse sind. Was wir jedoch festhalten wollen ist, dass diese Arbeit eine wichtige Arbeit ist, eine gute Arbeit, wenn sie wie jede Arbeit auch, verantwortungsvoll und gut durchgeführt wird."
    Merkwürdig geschwollen und oft genug in verrutschten Sprachspielereien, kalauerhaft und mal freiwillig, mal unfreiwillig komisch schlingern die Texte der Performer zwischen unverhohlener Pädagogik, ironischer Anspielung und waschechter Politpredigt. Etwa dann, wenn in Alexander Karschnias Monolog nicht mehr nur vom Fernen Thrakien, dem Evros und von Orpheus die Rede ist, sondern von dem eine paar Gehminuten entfernten Oranienplatz und der Gerhard Hauptmann-Schule.
    "Menschenrechte militärisch durchsetzen? Bin ich dafür, aber wo werden denn die Menschenrechte verletzt? Die werden doch an der Grenze von Europa verletzt. Wo ist denn die Grenze von Europa? Die verläuft doch hier! In Kreuzberg!"
    "Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper" ist ein etwas irreführender Titel, denn eine opernhafte Dramaturgie mit Figuren und Geschichte gibt es hier nicht: Es ist eher ein politisches Manifest mit einer im Übrigen äußerst vielfältigen und sauber ausgeführten musikalischen Begleitung. Immer wieder mahnt die Andcompany: Europa, dieses Kind des Nahen Ostens, entführt auf dem Rücken des Stiers und ausgestattet mit reicher kultureller Erbschaft, zeigt sich undankbar und verrät seine Herkunft. Das ist eine sehr beliebte Denkfigur, und bei Zivilisationskritikern fast schon eine Binsenweisheit. Sie wird ziemlich kurzschlüssig mit dem europäischen Grenzschutzprogramm Frontex und der Ornithologie eines militärisches Sperrgebiets verknüpft zu einer Collage, in deren natürlich absolut konsensfähigem Denkgebäude es arg knirscht und knarzt. Gut gemeint, nicht gut gemacht.