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Schlimme Lage von Flüchtlingen in Griechenland
Schuld ist der "katastrophale Türkei-Deal"

In Griechenland verschärft der Wintereinbruch die Lage der Flüchtlinge - vor allem auf den Inseln. Vorwürfe, seine Regierung sei überfordert, wies der Syriza-Politiker Giorgos Chondros zurück. Es gebe viel mehr Flüchtlinge als ausgewiesen werden könnten, sagte er im Deutschlandfunk. Schuld sei der "katastrophale Türkei-Deal" der EU.

Giorgos Chondros im Gespräch mit Martin Zagatta | 14.01.2017
    Ein Kind spielt in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos im Schnee.
    Ein Kind spielt in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos im Schnee. (STR / AFP)
    Der Syriza-Politiker Giorgos Chondros macht das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei für die angespannte Lage auf den griechischen Inseln verantwortlich. Wegen dieses "katastrophalen Deals" müssten die Menschen solange bleiben, bis ihre Asylanträge erledigt seien, sagte er im Deutschlandfunk. So gebe es viel mehr Flüchtlinge als ausgewiesen werden könnten. Zudem sei vereinbart worden, Menschen auf andere EU-Länder zu verteilen. Bislang seien aber nur ein paar Tausend umgesiedelt worden.
    Vorwürfe gegen die von seiner Partei geführte Regierung wies Chondros zurück. Man stehe vor einem europäischen Problem. Kein Land könne dies allein lösen. Zudem sei Griechenland kaputt gespart worden, führte der griechische Syriza-Politiker aus. Die Kapazitäten auf den Inseln seien erschöpft, in jeglicher Art und Weise.
    Derzeit verschärft eine Kältewelle die Lage der Flüchtlinge. Am Freitag hatten die Vereinten Nationen Griechenland und die Balkanstaaten aufgefordert, die dortigen Flüchtlinge angesichts der Kältewelle besser zu unterstützen. Das UNO-Kinderhilfswerk Unicef erklärte in Genf, es gehe hier um die Rettung von Menschenleben. In Griechenland sei die Lage schrecklich. Dort lebten die Flüchtlinge in unbeheizten Zelten und anderen Massenunterkünften. Die Hilfsorganisation Care sprach von einer dramatischen Situation in Serbien. Viele der Menschen litten dort bei Minusgraden an Erfrierungen.
    Der griechische Politiker Giorgos Chondros
    Der griechische Politiker Giorgos Chondros (dpa / picture-alliance / Uwe Zucchi)

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Seit die Balkan-Route geschlossen worden ist, schaffen es viel weniger Flüchtlinge, nach Mitteleuropa, auch nach Deutschland durchzukommen. Darüber freuen sich auch viele hierzulande, aber leidtun können einem die Menschen schon, die da auf der Flucht hängengeblieben sind und jetzt bei diesem Winterwetter Fürchterliches erleiden auf dem Balkan und, wenn die Berichte stimmen, vor allem auch in Griechenland. Das Flüchtlingshilfswerk der UNO prangert insbesondere die Zustände auf den Inseln in der Ostägäis an, wo viele Flüchtlinge in unbeheizten Zelten untergebracht seien. Giorgios Chondros gehört dem Zentralkomitee, der Führung der Regierungspartei Syriza an. Guten Morgen nach Athen, guten Morgen, Herr Chondros!
    Giorgios Chondros: Schönen guten Morgen nach Deutschland, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Chondros, dass es Winter wird, dass es kalt wird im Dezember und Januar, das war ja abzusehen. Warum ist Griechenland so schlecht vorbereitet, warum kann man diese Flüchtlinge nicht besser unterbringen und versorgen?
    Chondros: Erstens einmal gibt es wirklich für eine Regierung, auch eine Regierung eines kaputt gesparten Landes, wie Griechenland ja bekanntlich ist, wirklich keine Ausrede, dass sei auf so einen Wintereinbruch nicht besser vorbereitet war. Auch, wenn dieser Einbruch auf Inseln in der Ägäis passiert ist, wo es eigentlich nicht so üblich ist, dass in einem Amt, in manchen Inseln, über ein Meter Schnee fällt. Trotz allem aber, diese wirklich sehr katastrophale Lage bringt eigentlich die europäische Flüchtlingspolitik wieder unter dramatischen Umständen auf die Tagesordnung.
    Leider sind die griechischen Inseln wieder überfüllt von Flüchtlingen, weil viel mehr nach Griechenland kommen, als Flüchtlinge ausreisen oder ausgewiesen werden. Und bekanntlich, durch diesen katastrophalen EU-Türkei-Deal müssen die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln so lange bleiben, bis ihr Asylantrag sozusagen erledigt ist. Und das erzeugt eine Situation, die eigentlich nicht in den Griff zu bekommen ist.
    "Insgesamt ist die Lage katastrophal"
    Zagatta: Sie sagen, das war mir gar nicht so bewusst, das sei in diesem EU-Türkei-Deal mit drin – die müssen auf diesen Inseln bleiben, die dürfen gar nicht aufs Festland gebracht werden, wo sie –
    Chondros: Die dürfen – das ist eigentlich der Grund, warum dieses große Problem entstanden ist. Nicht jetzt nur wegen der Kälte, sondern insgesamt ist die Lage katastrophal.
    Zagatta: Darf ich da noch nachfragen – Herr Chondros, mir war das gar nicht so klar. Warum macht – warum darf man das nicht? Will man die Flüchtlinge damit abschrecken? Oder hat man dann Angst, dass die vom Festland leichter weiterkommen nach Mitteleuropa? Oder was ist der Sinn dieser Regelung?
    Chondros: Da müssen Sie die EU fragen, vor allem Merkel-Berater, die diesen EU-Türkei-Deal ausgearbeitet haben. Ich denke, das soll sozusagen ein Abschreckungsgedanke sein. Aber bitte, man kann mit den Menschen wirklich nicht so umgehen. Am 8. Dezember schon hat die griechische Regierung um eine Ausnahme von dieser Regelung ersucht, eben weil der Winter schon kam, mehr Leute nach Griechenland, als vom Festland rüberzubringen. Und dieses Ersuchen ist negativ beantwortet worden. Also insofern, diese Lage auf den griechischen Inseln hat natürlich mit Problemen zu tun, die mit Griechenland zu tun haben, aber vorwiegend ist das wirklich das Bild der europäischen Flüchtlingspolitik.
    Zagatta: Auf die kommen wir gleich auch noch zu sprechen, zumal Sie mir ja jetzt gesagt haben, dieser katastrophale EU-Griechenland-Deal oder dieses Abkommen –
    Chondros: Nicht EU-Griechenland – es ist der EU-Türkei-Deal.
    Zagatta: Meine ich ja, Türkei-Deal.
    Chondros: Den leider auch die griechische Regierung unterschreiben hat müssen.
    "Das ist eine falsche Politik"
    Zagatta: Ja, ich dachte, dass der Ihnen zugute kommt. Aber lassen Sie uns noch ganz kurz bei den Flüchtlingen bleiben. Dass man da ZehnTausende Menschen noch da hat, das muss ja dann trotzdem – oder erst recht, wenn es diese Schwierigkeiten zwischen Griechenland und der EU gibt, der griechischen Regierung zumindest bewusst gewesen sein. Die EU sagt jetzt, wir haben mehr als eine Milliarde für diese Menschen auch zur Verfügung gestellt. Kommt das Geld da nicht an, oder warum ist da die Versorgung mit dem Notwendigsten zumindest nicht möglich?
    Chondros: Erstens einmal, diese Milliardengelder, die gehen nicht über den griechischen Staat, sondern die gehen über NGOs, über nichtstaatliche Organisationen. Das muss auch klar werden, dass in Griechenland sehr viel Geld ausgegeben wird, aber nicht über die griechische Regierung. Ganz im Gegenteil: Die Hilfe, die der griechischen Regierung versprochen war über diesen EU-Türkei-Deal, zum Beispiel, dass mehr Personal nach Griechenland kommt, um eben die Asylanträge flotter zu bearbeiten und so weiter – es ist nie angekommen. Insofern, man muss sich wirklich mehr auf diese Einzelheiten konzentrieren, um das konkrete Bild zu bekommen.
    Vielmehr habe ich das Gefühl, dass leider diese Flüchtlingsproblematik auch ein Teil der großen geostrategischen Politik in der Region ist, mit großen Opfern natürlich der Menschen selbst, die sich auf den Weg machen, aufgrund dessen, dass der Krieg in Syrien und anderswo weitergeht, und ganz einfach unterwegs steckenbleiben, vor allem in Griechenland. Ich darf noch mal in Erinnerung rufen, die Balkanroute ist weiterhin geschlossen. Zäune werden weiterhin aufgebaut, und gestern habe ich Meldungen in deutschen Zeitungen gelesen, dass zum Beispiel jetzt die EU geschlossene Anstalten in Weißrussland organisieren, finanzieren wird. Das ist eine falsche Politik.
    "Die griechische Regierung hat nie eine Hilfe, egal welcher Art, abgelehnt"
    Zagatta: Herr Chondros, trotzdem noch mal ganz kurz zur Lage dieser Flüchtlinge. Aus Berlin hören wir, Berlin habe der griechischen Regierung auch jetzt für diese Flüchtlinge und auch gerade in dieser schwierigen Lage technische Hilfe angeboten. Das habe die griechische Regierung mehrfach abgelehnt. Wie kann das sein?
    Chondros: Nein. Das kann nicht stimmen. Die griechische Regierung hat nie eine Hilfe, egal welcher Art, abgelehnt, weil die Lage wirklich vor allem auf den Inseln katastrophal ist. Man muss aber sich im Klaren sein: Die Kapazitäten auf den Inseln sind ganz einfach erschöpft in jeglicher Weise. Wir haben noch zusätzlich das Problem, und das kann ich Ihnen offen sagen, zum Beispiel auf der Insel Chios, wo aus politischen Gründen die Kommunen und so weiter nicht mitmachen. Da hat der Staat, genauso wie in Deutschland, weniger Möglichkeiten wie die Kommunen. Der Staat hat zum Beispiel an Land oder auf den Inseln keine Infrastruktur. Wenn die Kommune nicht mitmacht, dann ist das Problem viel größer. Aber wir sprechen von Inseln, und die Inseln haben bestimmte Kapazitäten, das heißt, alle verfügbaren Räume sind voll, und leider müssen diese Menschen wirklich, leider müssen sie in Zelten wohnen, die nicht wintertauglich sind. Und das ist wirklich eine Schande.
    Zagatta: Herr Chondros, wenn ich Sie recht verstanden habe, müssten diese Menschen dann also schnellstmöglich auch aufs Festland gebracht werden. Wie ist das denn, Sie haben das angesprochen, die EU hat ja versprochen oder Mitgliedsländer haben ja zugesagt, auch Fachkräfte nach Griechenland zu schicken, um bei den Asylanträgen zu helfen, dass das schneller geht. Wieso funktioniert das nicht, dass die Menschen – diese Fachkräfte sind doch zum Teil zumindest angekommen?
    Chondros: Ein Teil dieser Fachkräfte ist zum Teil angekommen, aber das, was bis jetzt bei diesem EU-Türkei-Deal nicht funktioniert – und das muss wirklich laut werden – ist die Übersiedelung von Flüchtlingen von Griechenland in die europäischen Länder. Deswegen bleibt Griechenland immer noch überfüllt. Es war vereinbart, dass mehrere Tausende von Flüchtlingen von Griechenland in die europäischen Länder, also in die EU-Länder verteilt werden. Bis jetzt sind nur ein paar Tausend umgesiedelt worden.
    Und das ist auch der zweite große Haken an diesem EU-Türkei-Deal. Und ich sage es noch mal: Ich sage das nicht alles als eine Ausrede der griechischen Regierung oder griechischen Behörden, warum sie ihren Pflichten nicht nachkommt, diese Menschen trotz der Krise und trotz alledem menschenwürdig zu versorgen. Aber das Problem ist ein europäisches Problem, ist ein internationales Problem, und das kann kein einziges Land allein bewältigen, geschweige denn ein Land, das selbst in einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise steckt.
    "Rückführung muss vorsichtig und sensibel passieren"
    Zagatta: Also Sie fühlen sich da von der EU im Stich gelassen. Wie läuft das mit der Türkei? Die Rückführung, funktioniert die?
    Chondros: Die Rückführung funktioniert, aber sie muss wirklich ganz sensibel und vorsichtig passieren, weil es ist uns allen bewusst, was für ein Land inzwischen die Türkei ist. Man kann wirklich jetzt nicht ernsthaft behaupten, dass die Türkei ein sicheres Drittland ist. Es ist ein Land, wo wirklich ein Diktator regiert, wo es einen Bürgerkrieg gibt und vieles mehr. Es ist wirklich sehr fraglich, warum die EU, und nicht nur die EU, auch die deutsche Regierung vor allem, so eine Zusammenarbeit mit dem Erdogan eingeht. Aber dieser EU-Türkei-Deal steht einmal, und wir müssen als Griechenland damit arbeiten. Die Rückführung funktioniert, aber es kommen immer noch, noch jetzt im Winter, viel mehr Flüchtlinge nach Griechenland, als rausgehen. Insofern, wenn diese Regelung immer noch aufrechterhalten bleibt, diese Flüchtlinge, die nach Griechenland kommen, auf den Inseln bleiben müssen, dann wird das Problem von Tag zu Tag größer.
    Zagatta: Herr Chondros, ich höre das, Sie sind ziemlich sauer auch auf die EU oder die Mitgliedsländer. Die EU-Kommission hat jetzt gerade erst empfohlen, Flüchtlinge auch aus Deutschland wieder nach Griechenland zurückzuschicken gemäß dem Dublin-Abkommen, das wieder in Kraft zu setzen. Ist denn Griechenland darauf vorbereitet und willens auch, diese Menschen dann, diese zusätzlichen Flüchtlinge noch aufzunehmen?
    Chondros: Die Lage der Flüchtlinge auf dem Festland verbessert sich jeden Tag.
    "Die meisten Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, die wollen nicht in Griechenland bleiben"
    Zagatta: Also das wäre möglich?
    Chondros: Es ist immer noch nicht zufriedenstellend, was meine Meinung diesbezüglich betrifft, aber das wäre sicher möglich. Es sieht leider so aus, dass im Moment in der Europäischen Union das einzige Land, das sich wirklich ernsthaft mit dem Problem beschäftigt, Griechenland ist, weil – okay – es soll laut Dublin, also den Verträgen, sollen Flüchtlinge wieder nach Griechenland geschickt werden. Ist damit irgendein Problem gelöst worden? Die meisten Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, die wollen nicht in Griechenland bleiben. Die wollen weitergehen. Wie kann man diese echte Tatsache lösen? Die wollen auch nicht nach Weißrussland. Die wollen auch nicht nach Slowenien. Die wollen nach Deutschland, die wollen nach Schweden, die wollen in die Länder, wo ihre Freunde, wo ihre Familie lebt und wo es bessere Aussichten gibt für eine normale Integration, für einen Arbeitsplatz und so weiter. Man kann vor diesen Tatsachen ganz einfach nicht die Augen verschließen.
    Zagatta: Danke schön! Das war Giorgios Chondros, der der Führung, dem Zentralkomitee der griechischen Regierungspartei Syriza angehört. Herr Chondros, Danke für Ihre Schilderungen, Danke für Ihre Einschätzungen, und dass Sie sich die Zeit heute Morgen für uns genommen haben.
    Chondros: Gern, schönen Tag noch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.