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Schmidt hofft auf spätere Umsetzung des bezahlten Pflegeurlaubs

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt geht davon aus, dass die Diskussion um ihren Vorschlag eines vom Staat bezahlten Pflege-Urlaubs möglicherweise in der nächsten Legislaturperiode erneut beraten werden. In dem heute dem Bundeskabinett vorliegenden Gesetzentwurf ist wegen des Widerstands der Union nur ein unbezahlter Urlaub von zehn Tagen für Personen vorgesehen, die für einen Angehörigen die Pflege organisieren müssen.

Moderation: Stefan Heinlein |
    Stefan Heinlein: Die Große Koalition der großen Reformen. Mit hohen Ansprüchen starteten Union und SPD ihr gemeinsames Regierungsprojekt. Doch die Realität ist längst eine andere. Beispiel Pflege. Ursprünglich sollte das zunehmend wackelige System der Pflegeversicherung grundlegend umgebaut werden. Doch nach zähen Diskussionen einigte man sich im Sommer lediglich auf Minireförmchen, das wichtige Schritte auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt. Heute befasst sich das Kabinett mit diesem Gesetzentwurf. Doch um eine Einzelfrage gibt es nach wie vor Streit. Die Union lehnt den von Ulla Schmidt geforderten bezahlten Pflegeurlaub für Angehörige kategorisch ab. Doch die Gesundheitsministerin will kämpfen. Einzelheiten aus Berlin von Andreas Baum:

    Andreas Baum: Die Union befürchtet unabsehbare Kosten, die auf die Kassen zukommen, wenn Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidts ursprünglicher Plan eines bezahlten zehntägigen Pflegeurlaubs realisiert würde. Konsensfähig ist, dass Arbeitnehmer, die sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern müssen, bis zu sechs Monaten unbezahlten Pflegeurlaub nehmen dürfen. Ihr Arbeitgeber ist danach verpflichtet, sie wieder zu denselben Konditionen einzustellen. Nicht nur der Kündigungsschutz, auch der Schutz der Sozialversicherung bleibt bestehen. Auch sperrt sich die Union nicht dagegen zusätzlich zehn Notfallurlaubstage einzuführen. Sie will sie nur nicht bezahlt gewähren. Diese Notfalltage sind dafür gedacht, die Pflegezeit vorzubereiten und eventuell Behördengänge zu machen. Da Menschen nicht selten plötzlich pflegebedürftig werden, sei es wichtig, diese Vorbereitungszeit finanziell abzufedern, so argumentiert die SPD. Niemand soll daran gehindert werden, die Pflege eines Angehörigen zu organisieren, nur weil er finanziell unter Druck ist. Die Bundesgesundheitsministerin will die Regelung nun zunächst einmal so auf den Weg bringen, wie sie mit der Union vereinbart ist. Der Kurzurlaub zur Pflege wird nicht bezahlt. Dennoch soll die Union weiter bearbeitet werden. Dies mit dem Ziel, den bezahlten Pflegeurlaub am Ende doch einzuführen. Schon werden CDU und CSU bei ihrer Ehre als Familienpartei gepackt. Die Sozialdemokraten vergleichen die Sorge um ein zu pflegendes Familienmitglied mit der um ein Kind. Erkrankt dies, dann haben Eltern ebenfalls kurzfristig Anspruch auf bis zu 20 bezahlte Tage. Auch Mütter von Neugeborenen erhalten Mutterschaftsgeld von der Krankenkasse. Kinder jedoch dürften ihren Eltern später nicht die Pflege organisieren und hierfür zumindest 10 bezahlte Tage bekommen. Die Blockadehaltung der Union sei familienfeindlich, so die Kritik. CDU und CSU kontern. Sie geben sich als Hüter der Haushaltsmoral. Weder sei es richtig, die Arbeitgeber mit den Kosten für den Pflegeurlaub zu belasten, noch solle das Geld aus dem Bundeshaushalt kommen, wie etwa die Krankenkassen dies vorschlagen. Die SPD solle sich hüten, soziale Wohltaten zu versprechen, die nicht sauber gegenfinanziert seien. 750 Millionen jährlich könnte der bezahlte Pflegeurlaub kosten, was die Kassen in jedem Fall über Gebühr belasten würde. Dennoch, die Einigung auf eine Pflegereform ohne bezahlten Pflegeurlaub ist kaum ausgesprochen, da wird sie von den Sozialdemokraten schon wieder als vorläufig bezeichnet. Der bezahlte Pflegeurlaub soll nach dem Willen sozialdemokratischer Gesundheitspolitiker den Koalitionsausschuss beschäftigen. Die Debatte, das ist sicher, wird weitergehen.

    Heinlein: Soweit dieser Bericht von Andreas Baum. Guten Morgen, Ulla Schmidt!

    Ulla Schmidt: Guten Morgen!

    Heinlein: Wird das heute eine bittere Kabinettssitzung für Sie? Ein Gesetz soll beschlossen werden, dass Sie in dieser Form ohne die bezahlte Pflegezeit eigentlich gar nicht wollen?

    Schmidt: Nein. Das ist erst mal heute ein ganz guter Tag. Denn es ist ein Gesetz, das in vielen Bereichen Verbesserungen für die Lebenssituation von Menschen bringt, die gepflegt werden müssen oder auch derjenigen, die pflegen. Die bezahlte zehntägige Freistellung ist ein Element. Und da haben wir uns nicht einigen können. Aber wir bringen viele Strukturveränderungen auf den Weg, bessere Beratung, bessere Begleitung, Leistungen, die angehoben werden, erstmals Leistungen für demenziell erkrankte Menschen und auch Pflegezeit möglich zu machen bis zu einem halben Jahr pro Pflegezeit für Familienangehörige, die sozialen Schutz haben, ein Rückkehrrecht auf ihren Arbeitsplatz. Das alles sind riesige Fortschritte.

    Heinlein: Sie sind also stolz auf einige Punkte. Aber ein Punkt war Ihnen sehr wichtig im Vorfeld, der bezahlte Pflegeurlaub. Warum haben Sie denn in den Beratungen mit der Union zunächst nachgegeben, um nun einige Tage später dann zu versuchen, dieses Paket wieder aufzuschnüren?

    Schmidt: Ich schnüre das Paket jetzt nicht auf. Ich gehe so ins Kabinett. Ich habe bis zum Schluss gekämpft dafür, weil ich glaube, dass die bis zu zehn Tagen Auszeit pro Pflegefall, und zwar nur, wenn es wirklich eine schwierige Situation ist. Wenn der Pflegefall organisiert werden muss oder andere große Probleme auftreten. Wenn man die zehn Tage den Menschen gibt, damit die Pflege auch zuhause oder auch so gut wie möglich organisiert werden kann, glaube ich, dass die Mehrheit der Menschen das nicht nehmen kann, wenn es unbezahlt ist. Aber wir haben jetzt den Einstieg. Die Menschen können zehn Tage nehmen. Sie haben Anspruch bei ihrem Arbeitgeber darauf. Ich glaube nur, dass die Debatte weitergehen wird. Wir kennen das bei der Erkrankung der Kinder. Manches im Gesetz ist etwas, was über einen längeren Prozess auch dann umgesetzt wird. Mir geht es darum, dass wir diese vielen guten Dinge, die jetzt hier im Pflegegesetz sind, für demenziell kranke Menschen Anspruch auf Betreuung umzusetzen, einen Pflegeberater für alle, Möglichkeiten der Menschen in Wohngemeinschaften oder im Quartier, da, wo sie leben und wohnen, zu sagen, wir bündeln unser Geld. Man kann dort gemeinsam ambulante Dienste einkaufen. Angehörige zu unterstützen, das Ehrenamt zu fördern, dass das so wichtig ist, dass ich eben die Zeit habe, Pflegezeit zehn Tage und sechs Monate und die Frage, ob diese zehn Tage genau wie bei der Erkrankung der Kinder als Krankengeld bezahlt werden nach Vorlage eines ärztlichen Attestes. Dies wird die Diskussion weiter bestimmen. Und die Zahlen stimmen ja nicht von 750 Millionen. Dann hätte ich das nie gemacht. Sondern wenn es zehn Tage sind, dann geht es um einen Betrag von 80 Millionen bis maximal 100 Millionen.

    Heinlein: Dennoch, Frau Schmidt. Was können Sie dem Kostenargument Ihrer Unionskollegen entgegensetzen?

    Schmidt: Ja, dass die Rechnung nicht stimmt. Man hätte sich auch auf fünf Tage einigen können. Das sind 42 Millionen bei einem Volumen von 20 Milliarden. Den Menschen Zeit zu geben, wenn es darum geht, was muss ich jetzt tun. Wie kann ich alles organisieren, die Anträge stellen. Wie finde ich vielleicht eine stationäre Einrichtung? Oder habe ich Zeit zu sehen, geht es doch zuhause? Finde ich in der Umgebung genügend Angebote? Dieses wird nachher bei einer hohen Qualität der Pflege sehr schnell wieder auch an Geld, an Vorteilen auch erwirtschaft werden. Das ist kein Geld, was zusätzlich geht. Sondern es ist Geld, das eingesetzt wird, damit wir eine hochstehende, gute Pflege organisieren können. Jetzt geben wir den Menschen Zeit. Aber die Diskussion über die Frage der Finanzierung dieser Zeit geht weiter. Familie, um das zu sagen, bedeutet auch, sich um Ältere zu kümmern, genauso wie Eltern sich um Kinder kümmern müssen.

    Heinlein: Frau Schmidt, nun sagt die Union, wenn man diesen bezahlten Pflegeurlaub einführt, müsse man bei anderen Leistungen kürzen. Wo wären Sie denn bereit, Abstriche in den Leistungen zu machen? Oder wollen Sie den Beitragszahler weiter belasten?

    Schmidt: Nein. Das hätte nichts Zusätzliches gekostet bei Berechnungen der Union von 750 Millionen. Aber die stimmen ja nicht. Sie sind ja aus der Luft gegriffen. Sehen Sie mal, da ist die Berechnung davon ausgegangen, dass die Menschen 150 Euro pro Tag Krankengeld haben. Erstens gibt's diese Summe nicht, und zweitens verdienen nicht alle Menschen über 3500 Euro, die die Pflege organisieren. Also da sind schon mal Differenzen. Wir haben das nachgerechnet. Für die Erkrankung von Kindern, das Krankengeld für die Erkrankung von Kindern, 20 Tage pro Jahr, bei sterbenden Kindern unbeschränkt, geben wir 2006 96 Millionen aus. Und für die Erkrankung bei der Pflegeorganisation, das kriegt ja nicht jeder, da, wo jemand zuhause ist, braucht man das nicht, das haben wir berechnet, wären es 80 Millionen.

    Heinlein: Aber überzeugen konnten Sie Ihre Unionskollegen nicht mit diesen Argumenten? Haben Sie denn Unterstützung zumindest von Peter Struck in den Gesprächen mit der Union bekommen?

    Schmidt: Klar. Für die SPD ist das klar. Der Familienbegriff der SPD sagt, Familie ist das Sorgen der Generationen füreinander. Und so, wie die Eltern Zeit für die Kinder brauchen, brauchen wir auch Zeit der Kinder dann, wenn die Eltern mehr Hilfe und Pflege bedürfen. Und wenn man das machen will, muss man es allen Menschen ermöglichen. Auch die, die weniger verdienen, dass sie sich diese Zeit nehmen können. Die können nämlich nicht darauf verzichten. Die können nicht zehn Tage unbezahlt Urlaub nehmen. Es geht auch nicht um Urlaub, sondern um Freizeit, damit man organisieren kann in einem schwierigen Fall. Die Diskussion wird da weitergehen. Aber erst mal heute bringt das Gesetz für die, die gepflegt werden, für die Menschen, die im familiären Kreis Pflege organisieren wollen und übernehmen wollen und auch für die professionelle Pflege vieles an Verbesserungen gegenüber heute. Und deswegen bin ich sehr froh, dass wir so ins Kabinett gehen. Und die andere Frage ist eine, die vielleicht in der nächsten Legislaturperiode noch einmal diskutiert wird.

    Heinlein: Frau Schmidt, eine Frage muss ich noch stellen. Ihr Kabinettskollege Franz Müntefering zeigt sich ebenfalls in einer anderen Frage kompromisslos. Er lehnt die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I konsequent ab. Haben Sie Verständnis für Franz Müntefering und seinen geraden Weg in dieser Frage?

    Schmidt: Ja. Das habe ich. Denn er geht davon aus, wie können wir am besten Menschen, die älter sind, in Arbeit bringen. Er hat eine andere Auffassung, als sie in der Partei diskutiert wird. Aber ich halte immer viel davon, wenn es Menschen gibt, die auch zu dem, wovon sie überzeugt sind, stehen. Und die auch solange wie möglich dafür kämpfen. Dann kann man unterliegen. Das ist in der Demokratie so. Die Demokratie lebt vom Kompromiss. Und da muss man auch die Mehrheitsmeinung akzeptieren. Also man muss nicht immer schon vorneweg klein beigeben.

    Heinlein: Kann aber ein Minister im Amt bleiben? Ein Vizekanzler, zumal dessen Position von der eigenen Partei mit so breiter Mehrheit, so wird es ja kommen auf dem Parteitag, abgelehnt wird?

    Schmidt: Franz Müntefering gehört zu denen, die die meiste Unterstützung haben in unserer Partei, die breiteste. Einer, der wirklich fast wie eine Ikone ist in der Partei. Und deshalb in einer Frage, wo es darum geht, soll das Arbeitslosengeld I um sechs Monate verlängert werden für die über 50-Jährigen und noch mal für die über 55-Jährigen. Daran entscheidet sich doch nicht, ob eine Partei zu einem Minister steht und daran entscheidet sich auch nicht, ob ein Minister sein Amt durchführen kann. Das ist eine Position in dieser Frage. Die hat Franz Müntefering vertreten. Dafür habe ich sehr viel Verständnis. Ich begrüße es auch, dass er hart bleibt, aber wird genauso eine demokratische Entscheidung akzeptieren und dann wird es darauf ankommen, was ist praktisch in der Koalition von diesen Dingen durchsetzbar.

    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Frau Schmidt, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören!