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Scholem Alejchem
Eine moderne Hiobsgeschichte

Zum 100. Todestag des jiddischen Schriftstellers Scholem Alejchem wurde die Übersetzung seines berühmten Romans „Tewje, der Milchmann“ wieder aufgelegt. Ein Werk, das häufig unterschätzt wird – wie sein Schöpfer auch. Mit einem weinenden und einem lachenden Auge und viel schwarzem Humor lässt er seinen Helden die Geschichte des Zerfalls der traditionellen jüdischen Lebenswelt erzählen.

Von Brigitte van Kann | 13.05.2016
    Das Scholem-Alejchem-Denkmal in Kiew erinnert an den in der Ukraine geborenen jiddischen Schriftsteller.
    Das Scholem-Alejchem-Denkmal in Kiew. (imago/Sergienko)
    Das Musical "Fiddler on the roof" machte den Milchmann Tewje berühmt. In der westlichen Welt führte die gefällige Adaption des Romans von Scholem Alejchem zu einer verklärten Sicht auf das ostjüdische Schtetl, zu einer merkwürdigen Sehnsucht nach einem Ort, an dem man leibhaftig nie gewesen war und den man wohl auch wegen seiner Armut und Rückständigkeit gemieden hätte. Das Phänomen dieser Schtetl-Nostalgie hat die amerikanische Autorin Ruth Ellen Gruber einmal als den Versuch gedeutet, die Leerstelle, die der Holocaust hinterließ, mit, wie sie schrieb, "imaginärem Judentum" zu füllen.
    Die Wirklichkeit ostjüdischen Lebens im Zarenreich dahingegen erfährt der Leser in Scholem Alejchems Roman "Tewje, der Milchmann": Bis zur Februarrevolution 1917 waren die Juden in Russland Bürger zweiter Klasse, sie durften ihre angestammten Gebiete im Westen des Landes nicht verlassen, erhielten nur streng limitierten Zugang zu Schulen und Universitäten und waren der immer wieder aufflammenden antisemitischen Gewalt schutzlos ausgesetzt. Dass man Scholem Alejchems berühmtestes Buch für ein sentimentales Musical einsetzen konnte, liegt an einem Missverständnis: Der Humor, mit dem Tewje von den bittersten Ereignissen berichtet, ist seine Methode der Selbstbehauptung, des Überlebens – und keine Aufforderung an den Leser, das Geschilderte für bare Folklore voller Witz und Heiterkeit zu nehmen.
    Autor überlässt den Roman seinen Helden
    Entstanden ist Scholom Alejchems Buch nicht als Roman, sondern über den langen Zeitraum zwischen 1895 und 1916 als Folge einzelner, in sich abgeschlossener Episoden, die Tewje, der Milchmann, dem Autor, seinem "sehr geschätzten, geliebten, teuren Freund Reb Scholem Alejchem" erzählt und der sie, wie er einleitend schreibt, "wortwörtlich" wiedergibt.
    Überhaupt überlässt der Autor den Helden seiner Romane – dem windigen Geschäftemacher Menachem Mendel etwa oder dem unbändigen Schtetl-Jungen Motl – gern das Wort und zieht sich ganz hinter ihnen zurück, wobei er wie in "Tewje" manchmal auch den Herausgeber spielt.
    Tewje, "arm an Geld, aber reich an Kindern", lebt am Rande eines ukrainischen Dorfs und unterhält eine kleine Landwirtschaft, in der seine Frau und seine Töchter arbeiten, während er Milch, Butter und Käse auf die Märkte und in die Sommerhaus-Siedlungen reicher Kiewer bringt. Er ist ein gläubiger Mann, der sich etwas auf seine religiöse Bildung zugute hält und seine Geschichten mit Zitaten aus der Bibel, aus Kommentaren und Gebetbüchern spickt – alles in verballhornter Form und mit halsbrecherischen Übersetzungen, die Tewje nachschiebt, um zu erklären, was er eigentlich sagen wollte. Das im Original zu lesen, muss ein großes Vergnügen sein. Der deutsche Übersetzer Armin Eidherr beschränkt sich klug darauf, nur einige wenige Stellen im Anhang zu dechiffrieren – in toto könnte das wohl nur eine wissenschaftliche Ausgabe leisten.
    Bruch mit Traditionen
    "Tewje, der Milchmann" ist eine moderne Hiobsgeschichte: Seine Töchter haben andere Vorstellungen vom Leben als ihre Vorfahren, sie hängen sozialistischen Ideen an und vertreten ihr Recht, sich ihre Ehepartner selbst auszusuchen. Die Freiheit geht nicht gut aus: eine von Tewjes Töchtern begeht aus Liebe zu einem Taugenichts Selbstmord, die andere folgt einem Revolutionär in die sibirische Verbannung, die dritte, Chawa, hat sich in einen jungen Christen verliebt. Ein unvorstellbarer Verstoß gegen die Tradition. Tewje stellt sie zur Rede:
    "Was hat Chwedko hier getan?"
    Entgegnet sie: "Nichts ..."
    Sage ich: "In welcher Beziehung stehst du zu Chwedko?"
    Sagt sie: "Wir sind schon seit langem bekannt ..."
    Sage ich: "Masel-tow dir und deiner Bekanntschaft. Ein schöner Freund, der Chwedko!"
    Sagt sie zu mir: "Kennst du ihn denn? Weißt du denn, wer er ist?"
    Sage ich zu ihr: "Wer er ist, weiß ich nicht, seinen Stammbaum hab ich nicht gesehen; ich verstehe aber wohl, dass er von hoher Abkunft sein muss; sein Vater", sage ich, "muss entweder ein Hirte gewesen sein oder ein Hausmeister oder einfach [...] ein Säufer ..."
    Da versetzt sie mir, Chawa heißt das: "Was sein Vater war, weiß ich nicht und will’s nicht wissen, für mich sind alle Menschen gleich."
    An jiddischen Theatern ist "Tewje" oft aufgeführt worden – die vielen vom Helden referierten Dialoge bieten sich für die Bühne geradezu an. 1938 hatte am berühmten Moskauer Jüdischen Staatstheater "Tewje, der milchiger" Premiere, mit dem charismatischen Schauspieler und Leiter des Hauses Solomon Michoels in der Rolle des Tewje. Hören Sie die Szene zwischen Tewje und seiner Tochter Chawa in einer Originalaufnahme aus dieser Inszenierung in jiddischer Sprache.
    Erschütterung eines frommen Lebens
    Als Tewje von Chawas Taufe erfährt, verstößt er sein Kind. Aus Kummer über das Schicksal ihrer Töchter stirbt seine Frau. Zum Schluss muss Tewje auf Befehl der Obrigkeit sein Dorf, seinen Hof, sein Haus verlassen. Er klagt dem Autor sein Leid, und hadert bisweilen mit seinem Gott, wenn auch nur pro forma und immer mit einem Witz auf den Lippen:
    Was findest du nur, lieber Gott, am alten Hiob, dass du keine Minute ablässt, ihn heimzusuchen? Gibt es denn sonst keine Juden auf der Welt?
    Scholem Alejchems Roman schildert nicht nur die Erschütterung eines Jahrhunderte alten, von strengen Gesetzen der Frömmigkeit bestimmten Lebens durch den Einbruch der Moderne, und eine Familie, die daran zerbricht – "Tewje, der Milchmann" ist auch eine Chronik der russisch-jüdischen Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg: die Verschärfung der judenfeindlichen Gesetze nach der Ermordung des Reform-Zaren Alexander II. 1881, die Pogrome während der ersten russischen Revolution von 1905 und schließlich der schändliche Ritualmordprozess gegen den Juden Beilis in Kiew 1911 bis 1913.
    Der 1859 als Scholem Rabinowitsch in der Ukraine geborene Autor, der später den hebräisch-jiddischen Friedensgruß "Scholem Aljechem" – "Friede sei mit euch" – als Pseudonym wählte, verstand sich als jüdischer Aufklärer und entschied sich nach literarischen Anfängen in hebräischer und russischer Sprache für das gescholtene Jiddisch, die Muttersprache von immerhin 12 Millionen Ostjuden. Er versuchte sich als Verleger und Herausgeber, legte mit dem Geld seines verstorbenen Schwiegervaters einen veritablen Bankrott hin und hatte stets Mühe seine große Familie – er nannte sie liebevoll "meine Republik" – zu ernähren. 1905 verließ er Russland auf der Flucht vor Pogromen und ging nach langer Wanderschaft durch Europa nach Amerika, wo er auf Einkünfte aus seinen Stücken und Stoffen an jiddischen Theatern hoffte. Als sich seine Vorstellungen nicht erfüllten, kehrte er 1907 zurück, um sich auf Lesereisen landauf – landab seine ohnehin schwache Gesundheit zu ruinieren. 1914 wanderte er dann ein zweites Mal aus. Am 13. Mai 1916 starb Scholem Alejchem in New York. 150.000 Menschen sollen ihm das letzte Geleit gegeben haben.
    Wie sagt Tewje am Schluss seines Romans:
    "Morgen könnte es uns nach Jehupez verschlagen, und nächstes Jahr könnten wir nach Odessa, nach Warschau oder gar nach Amerika geschleudert werden – es sei denn, der Höchste würde sich einmal umsehen und sagen: "Wisst ihr was, Kinderchen? Jetzt werde ich euch endlich einmal den Messias hinunterschicken!"