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Schonungsloser Bericht über Problemviertel

In "Neukölln ist überall" berichtet Heinz Buschkowsky (SPD) von Gewalt, hohen Migrantenanteilen und zu Unrecht kassierten Sozialleistungen in seinem und anderen Problemvierteln. Buschkowsky fordert eine bessere Integrations- und Bildungspolitik - damit auch Kinder aus Problemmilieus eine Chance bekommen.

Das Gespräch führte Christiane Kaess | 20.09.2012
    Christiane Kaess: Stimmen, gesammelt im Berliner Stadtteil Neukölln, mit der Frage nach Bürgermeister Heinz Buschkowsky und seiner Beschreibung der sozialen Probleme in dem Bezirk, der vielen als sozialer Brennpunkt gilt. Morgen erscheint das Buch des Neuköllner SPD-Bürgermeisters mit dem Titel "Neukölln ist überall". Es soll eine schonungslose Bestandsaufnahme der Probleme in seinem Stadtteil sein, der von einem Migrantenanteil von gut 40 Prozent geprägt ist. Buschkowsky berichtet darin über Gewalt, Respektlosigkeit und vom "Erschleichen von Sozialleistungen", und er ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Herr Buschkowsky.

    Heinz Buschkowsky: Guten Morgen!

    Kaess: Herr Buschkowsky, die Probleme in Ihrem Bezirk sind ja bisher immer als spezifisch wahrgenommen worden. Jetzt trägt Ihr Buch den Titel "Neukölln ist überall". Wieso überall?

    Buschkowsky: ... , weil wir in der ganzen Bundesrepublik Stadtlagen haben, die sich in einer beängstigenden Talfahrt nach unten bewegen. Ob Sie damit in Kiel-Garden anfangen, über Hamburg-Wilhelmsburg nach Dortmund-Nord und von da nach München-Hasenbergl fahren, Sie werden überall die gleichen Milieus antreffen.

    Kaess: Aber es bleibt auf bestimmte Stadtviertel beschränkt?

    Buschkowsky: Es ist nicht nur beschränkt, aber es sind schon spezifisch die Stadtviertel, wo sehr, sehr starke Einwanderung stattgefunden hat.

    Kaess: Wir haben ja gerade in der Collage gehört, die jetzt sicher nicht repräsentativ ist, aber dennoch einen Eindruck vermittelt: Anscheinend teilen viele Einwohner von Neukölln Ihr Urteil nicht.

    Buschkowsky: Ja gut, das können Sie nie erwarten, dass 100 Prozent der Menschen die gleiche Meinung haben, und Sie können sich auch auf jede Straße stellen und so lange Leute befragen, bis Sie alle Meinungsbilder zusammenhaben, die Sie für Ihre Collage brauchen. Weil ich sage mal, der Beitrag "kleine dicke Männer sind immer gefährlich" ist ja nun ausgesprochen sachbezogen.

    Kaess: Aber Sie bleiben bei Ihrer radikalen These, Multikulti ist gescheitert? Das steht für Sie außer Frage?

    Buschkowsky: Das ist ja eigentlich ein wesentlicher Punkt des Buches. Aber auch Sie haben in Ihrer Zusammenfassung sich nur auf die Ist-Beschreibung beschränkt, während dieses Buch sich mit einer verbesserten Integrationspolitik beschäftigt, mit einer anderen Bildungspolitik, mit einer Politik mit Chancengerechtigkeit für die Kinder in diesen Milieus. Dieses Buch badet nicht im Elend, wie Sie auch gerade in der Anmoderation den Fehler gemacht haben.

    Kaess: Aber noch mal, um es noch mal klarzustellen: Sie schreiben über Suchtprobleme, Überschuldung, asoziales Verhalten, und damit meinen Sie vor allem Menschen ...

    Buschkowsky: Aber mein Gott, das ist ein Satz!

    Kaess: Aber Sie sprechen da vor allem über Menschen mit Migrantenhintergrund, so ist das schon gedacht?

    Buschkowsky: Ich spreche über die Milieus in diesem Stadtviertel und ich spreche über die Milieus der Bildungsferne. Durch unsere Politik der Zufallseinwanderung, dass wir eben zum Ziel sehr, sehr starker Armutswanderung geworden sind und heute auch noch innerhalb der EU geworden sind, mit Rumänien, mit Bulgarien, da beschreibe ich, warum Kinder in diesem Milieu, wo Mama und Papa nicht lesen und schreiben können, kaum eine Chance haben, in eine Leistungsgesellschaft hineinzuwachsen. Das stimmt!

    Kaess: Und beim Thema Sozialleistungen sprechen Sie von einem System und davon, dass es nicht darum gehe, ein paar Scheine an den Behörden vorbeizuschleusen. Was genau meinen Sie mit dem System?

    Buschkowsky: Ich beschreibe damit, wie Menschen versuchen, ihren Lebensstandard eben irgendwie zu erhöhen, über den Hartz-IV-Standard hinaus. Das macht man, indem man Wohnungen schwarz untervermietet, indem auch die Erwerbstätigkeit nicht im vollen Umfange bekannt gegeben wird. Das ist schon üblich. Das ist übrigens nicht auf Einwanderer beschränkt. Ich schreibe auch in dem Buch, dass wir diese Form, die Sozialhilfe selbstständig zu erhöhen und aufzubessern, schon hatten, da gab es überhaupt noch keine Einwanderung, da gab es überhaupt noch keine Gastarbeiter, da habe ich schon im Sozialamt gearbeitet, da habe ich mich damit herumgeschlagen.

    Kaess: Welche Ursache steckt dahinter, denn es geht Ihnen ja offensichtlich auch darum, etwas zu verändern und zu verbessern?

    Buschkowsky: Mir geht es darum, auf diese Zustände aufmerksam zu machen, weil sie existenzbedrohend für unsere Gesellschaft sind – nicht durch die Menschen, sondern weil wir aufgrund des demografischen Faktors uns überhaupt nicht leisten können, ganze Kinder- und Jugendgenerationen vor der Tür der Gesellschaft zu lassen. Es kann nicht sein, dass 75 Prozent der Kinder in Neukölln-Nord im Sozialsystem leben, in Hartz IV leben. Wir haben Schulen, in denen geht kein Elternteil arbeiten. Die Kinder wachsen in ihrer Sozialisation auf, ohne dass sie das Gefühl überhaupt erleben, dass Mama und Papa morgens mit aufstehen und zur Arbeit gehen. Da kann man einfach nicht zusehen, weil dieses Milieu sich so immer weiter ausweitet, und wir brauchen aufgrund der Schrumpfung diese Kinder eigentlich als tragende Mitglieder der Gesellschaft. Bei den unter Fünfjährigen beträgt der Anteil der Einwandererkinder bereits 35 Prozent deutschlandweit, und wir tun so, als wäre das eine Frage von Minderheiten.

    Kaess: Herr Buschkowsky, jetzt haben Sie unter anderem auch Zahlen und Fakten genannt. In Ihrem Buch stellen Sie aber auch jede Menge Mutmaßungen an. Ich nehme mal eine heraus, die da heißt: Die offiziellen Einkünfte könnten niemals die einzigen Erwerbsquellen vieler Familien sein, denn dies müsste zu einer Vielzahl an freien Parkplätzen in Neukölln führen. Haben Sie keine Bedenken, dass Sie nicht haltbare Vorwürfe aufstellen?

    Buschkowsky: Wieso nicht haltbar? Sie müssen sich doch bloß vor eine Schule stellen.

    Kaess: Aber das ist ja nicht konkret belegbar!

    Buschkowsky: Sie müssen sich doch bloß vor eine Schule stellen und zuschauen. Wenn Sie eine Schule haben, in der 90 Prozent der Eltern im Hartz-IV-Bezug sind, und morgens findet dort ein Autoverkehr statt mit beachtlichen Güteklassen, dann kommen Sie schon ins Nachdenken. Das sind übrigens keine Mutmaßungen von mir, sondern es sind die Berichte der Schulleiterinnen, wenn Sie das im Kontext so gelesen haben.

    Kaess: Aber wenn Sie sich da so sicher sind und offensichtlich auch Belege dafür haben, haben Sie schon mal darüber nachgedacht, auch mal gerichtlich vorzugehen?

    Buschkowsky: Bitte wie? Wogegen, dass Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen?

    Kaess: Nein, aber dass offensichtlich eine Diskrepanz besteht, zwischen auf der einen Seite Sozialleistungen empfangen, die man offensichtlich nicht nötig hat, wenn man das so als Unterstellung sehen kann.

    Buschkowsky: Ich sage nur, dass es eine Diskrepanz gibt im Lebensstandard und den offiziellen Einkünften. Das ist so, das kann sich jeder ansehen, das können Sie auch festmachen an der Unterhaltungselektronik, die die Kinder mit in die Schule bringen. Das ist eigentlich nicht das wesentliche Thema des Buches von 400 Seiten, aus dem Sie einen Satz des Berichtes einer Schulleiterin herausgreifen. Das ist eigentlich kein besonders fairer Umgang mit dem Buch.

    Kaess: Herr Buschkowsky, haben Sie keine Sorge, dass die Migranten, mit denen Sie ja auch konstruktiv zusammenarbeiten, von Ihnen enttäuscht sein könnten?

    Buschkowsky: Warum? Weil ich eine engagiertere Politik für ihre Belange und für ihre Probleme fordere? Das kann ich nicht nachvollziehen.

    Kaess: In der "Bild"-Zeitung, der Sie ja die Exklusivabzüge zum Vordruck gegeben haben, hört sich das Ganze etwas zugespitzt an.

    Buschkowsky: Ja gut, aber ich gehe davon aus, dass Ihnen das Gesamtbuch vorliegt, und dann werden Sie feststellen, dass das Buch eine völlig andere Zielrichtung hat. Dass die Boulevard-Presse natürlich die Teile herausnimmt, die auch für sie besonders verkaufsfördernd sind, das kann man ja ihr nicht vorwerfen. Ich kann einfach nur empfehlen, das ganze Buch zu lesen und die politischen Forderungen zu lesen, die da drin sind, die den Hauptteil des Buches ausmachen. Das, was Sie zitiert haben ist ein winziger Ausschnitt.

    Kaess: Herr Buschkowsky, vor ein paar Tagen haben Sie zusammen mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel ein Jugendzentrum der sozialistischen Jugend besucht, das in der Vergangenheit mehrfach Ziel von rechtsradikalen Anschlägen war. Warum schreiben Sie darüber nicht in Ihrem Buch?

    Buschkowsky: Weil das Buch nicht auf diese Vorfälle gerichtet ist. Diese Vorfälle waren im Übrigen auch, nachdem das Buch längst fertig war. Ich schreibe aber in dem Buch, was passiert, wenn eine Gesellschaft solche Veränderungen einfach nicht wahrnimmt, weil die Menschen sich dann nicht mehr zuhause fühlen und natürlich zu denen laufen, die vermeintlich die einfachen Rezepte haben. Dass eine vermutlich neonazistische Gruppe einen Jugendklub in Neukölln zweimal brandschatzen darf und dass dafür der Akt der Solidarität ist, dass die Versicherung sagt, ihr müsst jetzt den Zaun erhöhen für 100.000 Euro, ansonsten schmeißen wir euch aus der Versicherung, ist ein besonderer Akt der ...

    Kaess: ... und ich muss Sie unterbrechen, denn wir laufen auf die Nachrichten zu. Heinz Buschkowsky war das, SPD-Bürgermeister des Berliner Stadtteils Neukölln. Danke für das Gespräch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.