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Schorlemmer äußert Verständnis für Hartz-IV-Proteste

Volker Wagener: Rund 70.000 Protestler wurden gestern abend gezählt, Hartz IV macht nach wie vor mobil, vor allem im Osten. Allein in Leipzig, der Mutter der Montagsdemonstrationen, kamen rund 25.000 Menschen zusammen und die applaudierten zum Teil kräftig einem Mann, der in der Politik schon lange keine Funktionen mehr bekleidet und in seiner eigenen Partei, der SPD, im Abseits steht: Oskar Lafontaine. Gerade dort, wo der Saarländer lange wegen seiner Kritik an der Umsetzung der deutschen Einheit durch den damaligen Kanzler Helmut Kohl keine Sympathiewerte für sich verbuchen konnte, erntet er nun Zustimmung für seine Hartz-Kritik. Am Telefon begrüße ich den Wittenberger Theologen Pfarrer Friedrich Schorlemmer. Schönen guten Morgen. Ist denn Oskar Lafontaine nun denn der neue Anwalt ostdeutscher Interessen? Wirkt ja irgendwie wie ein Treppenwitz der Zeitgeschichte, oder?

Moderation: Volker Wagener |
    Friedrich Schorlemmer: Zunächst mal haben dort Betroffene geredet und das sehr gut, wenn ich an eine Friseuse denke, die Dinge klar erkannt hat und ich finde es wichtig, dass bei diesen Demonstrationen die Betroffenen reden, weil die da oben glaube ich nicht genug hören. Und ich fand es keine glückliche Entscheidung, Oskar Lafontaine einzulassen, obwohl ich das, was er sagte, insgesamt nicht falsch finde.

    Wagener: Also es gibt Berührungsängste mit ihm. Ihr Kollege, der Pfarrer der Leipziger Nicolaikirche Christian Führer, hat ja gestern seine Teilnahme am Protestzug zurückgezogen mit der Begründung, Oskar Lafontaine sei der falsche Teilnehmer bei diesem Zug.

    Schorlemmer: Ich würde sagen: Der falsche Mann sagt Richtiges. Aber er hat es vermieden, sich selber zu profilieren, das war ganz verwunderlich. Er hat Grundsätze einer sozialdemokratischen Politik, wie er sie versteht, entworfen und den Regierenden deutlich gemacht, dass sie mit dem Begriff Reform fahrlässig umgehen, denn Reform heißt Verbesserung und nicht Verschlechterung und zweitens braucht jede Reform eine geistige Orientierung, also er sagt, wenn wir nur auf Eigen- und Mitverantwortung setzen, setzen wir auf etwas Falsches. Er hat auch sehr Nachdenkliches gesagt neben allem Populistischen, was da kam. Und eine gewisse Distanz zu den Leipzigern, seinen sogenannten Zuhörerinnen und Zuhörern, blieb.

    Wagener: Das heißt unterm Strich, Oskar Lafontaine hat für Sie Pluspunkte im Osten gemacht.

    Schorlemmer: Ja. Und zwar weil er sich nicht in das Hickhack der persönlichen innerparteilichen Auseinandersetzung hineinbegeben hat, sondern gefragt hat, ob diese Politik in einem so reichen Land richtig verfährt, wenn sie vor allem die Schwächeren trifft und die Stärkeren verschont.

    Wagener: Es setzt sich nun nicht nur durch Oskar Lafontaine, sondern auch durch Diskussionen, zukünftig auch andere Politiker auf diesen Demonstrationen sprechen zu lassen, der Trend durch, dass die Politik sich an die Spitze der Bewegung setzt. Ist das okay?

    Schorlemmer: Wenn das so wäre, wäre das nicht okay. Was nötig wäre, ist dass die Politiker Gesicht zeigen und das haben wir auch 1989 versucht, nämlich als eine Kommunikationsstörung substantiell war zwischen Regierten und Regierenden und wenn die Regierenden oder die Politiker jetzt kommen und zuhören und sich auch selbst rechtfertigen oder etwas erklären finde ich das ganz vernünftig. Sie dürfen sich nicht an die Spitze stellen, aber in der Regel ist es so, dass Nichtbetroffene Betroffenen erklären, Hartz IV sei nicht schlimm, sondern sogar vorteilhaft, weil wieder viele Leute in Arbeit kämen. Die Sorgen der Leute müsse man ernst nehmen, aber sie seien nicht berechtigt. So lange das so weitergeht, sind die Politiker noch nicht bei den echten Sorgen der Menschen. Das ist nicht nur ein psychologisches Problem, schon gar nicht ein Verhetzungsproblem, sondern ein Substanzproblem.

    Wagener: Wir haben hinter den Kulissen einen Streit zwischen den Organisatoren, die einen sagen, das ist eine Veranstaltung des kleinen Mannes und der Straße und die anderen sagen: Nein, wir müssen hier auch die Politiker zu Wort kommen lassen, damit sie sich erklären. Sie würden also durchaus Verständnis aufbringen, wenn in Zukunft Hartz IV richtig von den Fachministern dem Volk erklärt wird?

    Schorlemmer: Ich hoffe, sie können das gut und schwindeln aber nicht, aber das erste ist, dass sie dort hinkommen und auch die anderen hören und dies nicht wieder als eine weitere Bühne benutzen. Dann finde ich es richtig, denn wir sind eine Demokratie und die beruht darauf, dass wir die Konflikte zivilisiert austragen und wenn die Leute auf die Straße gehen, deuten sie ja an, dass die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie zur Lösung der gegenwärtigen sozialen Probleme nicht ausreichen.

    Und dann muss die Politik auch den Mut haben, dort hinzugehen und nicht zu belehren, sondern genau zu hören und zu erklären und die Fragen, die die Leute haben, auch mitzunehmen. Insgesamt war das in Leipzig gestern so sachlich und ernsthaft und so wenig spektakulär. Auch die Rechten haben sich nicht daruntergemischt, sie waren wirklich nicht da und es kamen Leute, die schon betroffen sind, aber auch Leute, die wissen, sie können morgen betroffen sein. Insofern war das auch ein Ausdruck von nötiger Solidarität in der Gesellschaft, dass die Bessergestellten eine Mitverantwortung haben für die Schlechtergestellten. Sonst bricht unsere Gesellschaft und damit auch die Akzeptanz unserer Demokratie auseinander.

    Wagener: Unter Experten und auch in den Parteien und Verbänden wird ja die Reform der Sozialsysteme als alternativlos bezeichnet, das ist eigentlich Konsens. Wird das denn in Ostdeutschland in Teilen der Gesellschaft anders gesehen? Sie sagen, es war gestern sehr sachlich; bedeutet das im Umkehrschluss, dass grundsätzlich diese Reform schon akzeptiert wird?

    Schorlemmer: Nein, grundsätzlich wird das demokratische System akzeptiert, aber nicht, wie die Friseuse dort sehr deutlich ausdrückte: Wir haben gekämpft gegen die Diktatur des Politbüros, des Proletariats und der Partei, aber wir sind auch gegen die Diktatur des Geldes. Die Frage ist, wie wir in einem reichen Land mit unserem Reichtum umgehen. Die Leute in Ostdeutschland wollen, wenn ich richtig verstehe, eine Balance zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Also die Starken nicht bremsen, aber den Schwächeren helfen. Und sie fürchten, dass Hartz IV tatsächlich ein Weg in die Armut ist. Ich will überhaupt nicht unterstellen, dass die Politiker hier etwas Böswilliges wollen, ich glaube schon, dass sie wollen, dass mehr Leute in Arbeit kommen, aber das glauben die Leute nicht, dass wirklich in Arbeit vermittelt werden kann. Wenn es keine Arbeit gibt, kann man auch nichts vermitteln, sondern bezahlt nur teure Vermittler. Diese Grundsorge ist da und ich denke, dass Politik eine stärkere Aufgabe hat, zu helfen, dass wieder mehr Leute in Arbeit kommen, denn die auf die Straße gehen, sind Leute, die keine Almosen wollen (schon gar nicht aus dem Westen), sondern Arbeit.

    Wagener: Wir haben die Tendenz, dass im Osten deutlich mehr Menschen auf die Straßen gehen. Ist das denn jetzt ein spezifisches Ostproblem oder haben wir nicht genau die gleiche Ausgangssituation auch in den krisenhaften Regionen Westdeutschlands? Ich erinnere nur an das nördliche Ruhrgebiet. Es gibt viele Politiker, übrigens auch Manfred Stolpe, der längst öffentlich sagt, Gelsenkirchen braucht heute eher den Aufbau Ost, als Cottbus, die Partnerstadt Gelsenkirchens.

    Schorlemmer: Das dämmert bei manchen Ostdeutschen inzwischen. Auch Oskar Lafontaine hat hier keine Ost-West-Differenzen geschürt, sondern gesagt, es geht um ein Arm-Reich-Problem. Insofern muss man sich für die Leute in Duisburg genauso Sorgen machen, wie für die in Bautzen. Das ist richtig. Das muss bei den Ostdeutschen nur noch mehr ankommen, aber die Westdeutschen dürfen in der Mehrheit nicht weiter denken, wir seien hier nur Leute, die die Hände aufhalten und ansonsten nichts tun. Es gibt auch einen tiefen Graben zwischen uns und die Politik muss sehr darauf achten, dass sie a) die Stimmungen aufnimmt, aber b) sie nicht schürt. Die Wut der Westdeutschen, dass so viel in den Osten ginge und die Ostler undankbar seien, ist doch ziemlich groß und gleichzeitig das Gefühl der Ostdeutschen, von Westdeutschen dominiert zu werden, auch. Hier ist noch viel zu tun und ich denke auch, es ist ein Problem zwischen arm und reich, nicht zwischen Ost und West.

    Wagener: Was sagt Ihnen und uns denn die Tatsache, dass der Osten sich - zumindest artikulierbar auf der Straße - deutlich hörbarer bemerkbar macht mit seinen Sorgen bezüglich der Reformen der Sozialsysteme?

    Schorlemmer: Sie trauen der Politik und sich etwas zu und resignieren nicht. Ich finde, Demonstrationen sind ein Ausdruck lebendiger Demokratie und wir können jetzt ja ohne Angst auf die Straße gehen und man sollte nie die Demonstranten diffamieren. Auch der Bundeskanzler hat den falschen Ton getroffen, als er gesagt hat, die Leute sollten sich nicht von der PDS aufhetzen lassen. Nein, die sind aufgewühlt vom Problem, nicht von irgendwelchen Feinden. Das kommt bei den Ostdeutschen schlecht an, das wurde ihnen immer vorgeworfen, wenn sie Kritik übten, dass sie von außen gesteuert seien. So ist das nicht. Ich finde das ganz normal, was da passiert und bin erstaunt, wie zivilisiert das abläuft, auch in meiner Stadt Wittenberg.

    Wagener: Haben Sie Sorge, dass die PDS nun eine neue Konjunkturphase erlebt?

    Schorlemmer: Zwischenzeitlich wohl. Aber sie wird ja dann auch zeigen müssen, welche realisierbaren Konzepte sie hat, aber ich halte sie nicht für eine Gefahr für unsere Demokratie.

    Wagener: Dankeschön. Das war Pfarrer Friedrich Schorlemmer über die Ängste in Ostdeutschland zum Reformpaket Hartz IV.