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Schorlemmer: DDR wird als "Schuldraum der Geschichte" vorgeführt

Der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer hält es für ungerechtfertigt, Kindstötungen und -verwahrlosungen in den neuen Ländern mit der DDR-Geschichte zu erklären. "Jede Generalisierung und jede einfache Erklärung ist falsch. Jede Schuldzuweisung ist für mich auch eine Verantwortungsabweisung für das, was heute ist", sagte er.

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann |
    Dirk-Oliver Heckmann: Herr Schorlemmer, in der DDR waren Abtreibungen bis zur zwölften Woche möglich. Haben also Ostdeutsche ein gebrochenes Verhältnis zum ungeborenen Leben?

    Friedrich Schorlemmer: Die bloße Fristenregelung damals ohne Beratungsverpflichtung führte zu einer freien Entscheidung und war also ganz in die Hände der Frau gelegt. Dies war im Einzelfall auch sehr problematisch, wenn ethische und psychologische Probleme außer Acht geblieben sind. Und das konnte zu einer leichtfertigeren Einstellung, wie Herr Böhmer sagt, zu werdendem Leben führen, aber ich weiß als Seelsorger, dass sich das sehr, sehr viele Frauen nicht leicht gemacht haben. Und man darf Einzelfälle, wo Leute es sich ganz leicht gemacht haben und sozusagen wegen eines Urlaubs die Familienplanung so geregelt haben, denke ich, nicht für typisch erklären. Das beleidigt alle Frauen, die vor dieser Entscheidung damals gestanden haben.

    Heckmann: Was war denn der Grund dafür, dass die DDR es den Frauen oder den Betroffenen damals dann so "leicht", und Anführungszeichen, gemacht hat?

    Schorlemmer: Das wurde damals sehr viel diskutiert. Es war das einzige Mal, dass auch die CDU-Fraktion in der Volkskammer nein gesagt hatte. Das hatte mit dem Menschenbild zu tun. Man meinte, die Frau dürfe darüber selber entscheiden, wobei aber nicht verschwiegen werden darf, dass die DDR zur gleichen Zeit die Unterstützung für junge Familien und für Kinder verstärkt hatte. Wenn man dies nicht mit in den Blick nimmt, dann sieht man nicht, dass die DDR gerade versucht hat, dass auch Kinder zur Welt kommen. Sie war mit aller Enge, von der man reden kann, doch auch ein kinderfreundlicheres Land, als es viele Frauen heute erfahren.

    Heckmann: Das heißt, Sie sehen da durchaus positive Motive dahinter.

    Schorlemmer: Ja.

    Heckmann: War es aber nicht auch so, dass die DDR in der Tat ein anderes Wertesystem auszeichnete, dass dort Werte wie Tod, Leben, Freiheit wirklich untergeordnet wurden gesellschaftlichen Interessen, sogenannten gesellschaftlichen Interessen?

    Schorlemmer: Natürlich spielten gesellschaftliche Interessen eine größere Rolle als individuelle Überlegungen, aber dies kann ich so nicht generalisieren, obwohl ich sagen muss, es gab eine leichtfertigere Einstellung zu solchen grundlegenden ethischen Fragen. Das betraf das werdende Leben, das betraf aber auch die individuellen Entfaltungsrechte des einzelnen. Übrigens will ich sagen, dass ich Dr. Böhmer außerordentlich schätze und sein Entsetzen über solche Verbrechen teile, aber auch erschrocken bin über seine Deutung. Nur, er hat keine Behauptung aufgestellt, er hat gesagt, es kommt mir so vor, als ob, und in der Debatte wurde aus einer Mutmaßung eine Behauptung. Aber nun zu sagen, dass es für manche Frauen ein Mittel der Familienplanung gewesen sei, bezieht viele, viele Frauen ein, die auch Familienplanung betrieben haben, aber nicht zu denen gehören, die diese Praxis als ein geradezu perverses Mittel von Familienplanung gebrauchen. Diese Formulierung "manche Frauen als Familienplanung", die ist eigentlich die zu inkriminierende unverständliche Aussage. Ich habe dann doch den Eindruck, dass phasisch immer wieder etwas Neues aufkommt, um die abschreckende DDR zu kennzeichnen. Ich könnte jetzt sagen, zur DDR als Mauer- und Stasi-Land kommt jetzt auch noch das Babymord-Land. Und man verschleiert sich dabei, dass die Frauen, die heute diese Kinder bekommen, höchstens ein bis zehn Jahre damals waren, und die Probleme, die wir mit diesen Frauen heute haben, sind unsere Probleme und nicht die Probleme, die aus der DDR kommen.

    Heckmann: Das ist ein gutes Stichwort, denn in der Tat: Im Jahr 2005 gab es diesen grausamen Fund von neun Baby-Leichen, und der Innenminister Brandenburgs, Jörg Schönbohm, hat damals gesagt, dass die von der SED erzogene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft gewesen sei. Er hat sich dann später distanziert und auch entschuldigt. Aber in der tat, es scheint bezeichnend zu sein, dass immer wieder ein Zusammenhang zur DDR-Geschichte hergestellt wird. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

    Schorlemmer: Es ist immer wieder, dass man die DDR auf eine Weise schwarz färbt und alles Schreckliche auf sie überträgt. Man muss das alles benennen, was in der DDR abschreckend war. Aber gerade diese Übertreibung führen viele ehemalige Ostdeutsche dazu, mehr in der DDR zu rechtfertigen, als zu rechtfertigen ist. Ich finde, dass die innere und äußere Verwahrlosung von Menschen heute, wo ein Kind als eine nicht tragbare Belastung empfunden wird oder wo Menschen dazu kommen, aus einer übersehenen, unbeachteten Verzweiflung zu handeln, oder andere aus Gefühlskälte, andere in einem krankhaften Persönlichkeitsbild oder im Affekt, all dies muss man im einzelnen unterscheiden, und jede Generalisierung und jede einfache Erklärung ist falsch. Jede Schuldzuweisung ist für mich auch eine Verantwortungsabweisung für das, was heute ist, warum Frauen zu so etwas kommen. Das ist nirgendwo zu billigen. Das ist ein Verbrechen. Aber wir müssen genau hinschauen, was wir heute versäumen, statt zu sagen, da wird die DDR wieder als Schuldraum der Geschichte vorgeführt.

    Heckmann: Und was versäumen wir heute?

    Schorlemmer: Wir versäumen heute die Fürsorge für Menschen, die Kinder bekommen und in fragilen Lebensverhältnissen leben. Ich meine schon, dass da an vielen Orten auch die entsprechenden Sozialeinrichtungen sehr aufpassen, aber wir werden auch nicht alles vermeiden können, wenn wir nicht wieder ein totaler Betreuungsstaat wieder werden wollen, der alles betreut und auch beobachtet. Wir werden das aber minimieren müssen, dass unser Land ein kinderfreundliches Land wird auch für Frauen, die in schwierigen menschlichen oder sozialen Verhältnissen leben.

    Heckmann: Der Theologe und ehemalige DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer. Danke Ihnen für das Gespräch!

    Schorlemmer: Bitte.