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Schreiner: Kein Wegfall von Arbeitsplätzen

Vor Beginn des Bundeskongresses der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD (AFA) hat der SPD-Politiker und AFA-Vorsitzende Ottmar Schreiner einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro gefordert. In allen westlichen Nachbarländern gebe es dies bereits in allen Branchen. Zuletzt hätten die Briten 1998 einen Stundenlohn von etwa 7,40 Euro eingeführt. Die britische Wirtschaft habe dies "völlig problemlos verkraftet".

Moderation: Burkhard Birke |
    Burkhard Birke: Menschenwürdig leben und arbeiten. So lautet das Motto des Bundeskongresses der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD (AFA). Im Kongress-Palais Kassel-Stadthalle beginnt heute die dreitägige Konferenz, zu der sich auch viel Prominenz angesagt hat. Führende Gewerkschafter werden ebenso erwartet wie der Bundesarbeitsminister Franz Müntefering. In den "Informationen am Morgen" begrüße ich nun den AFA-Vorsitzenden Ottmar Schreiner. Einen schönen guten Morgen!

    Ottmar Schreiner: Ja, guten Morgen!

    Birke: Herr Schreiner, driftet die SPD in der großen Koalition nun noch stärker zur pragmatischen Mitte ab, wohin sie sich unter Kanzler Schröder ohnehin schon orientierte?

    Schreiner: Ich hoffe sehr nicht, denn die SPD würde, wenn dies der Fall wäre, auch weiterhin einen hohen Preis zahlen, was die Umfragedaten anbelangt, was die Wahlergebnisse anbelangt, was die Mitgliederentwicklung anbelangt. Das war in den letzten Jahren alles andere als rosig.

    Birke: Sie wollen also – das schließe ich daraus – das soziale Profil der Sozialdemokraten auch und gerade in Abgrenzung zur Linkspartei und zu Ihrem früheren Parteichef und Freund Oskar Lafontaine schärfen. Wie wollen Sie das machen?

    Schreiner: Ich habe mich in den letzten Jahren ja in vielerlei Hinsicht bemüht, mit zu einem Kurswechsel beizutragen. Wir werden hier sehr deutlich machen, dass auch wir der Auffassung sind, dass wir in Deutschland wieder eine andere Lohnentwicklung brauchen, als dies in den vergangenen Jahren der Fall war. Die Parteien insgesamt hatten über zehn Jahre hinweg dazu beigetragen, dass ein politisches Klima entstand nach dem Motto bescheidene Löhne gleich mehr Beschäftigung. Das Gegenteil ist eingetreten. Auch da muss ein Kurswechsel erfolgen. Wir werden hier vorbehaltlos den Kurs der IG Metall unterstützen. Das gleiche gilt für die Arbeitszeitpolitik. Es ist geradezu abenteuerlich, wenn bei fünf Millionen Arbeitslosen die Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft verlängert werden soll. Das bedeutet noch mehr Arbeitslosigkeit.
    Wir werden uns sehr klar positionieren in Sachen gesetzliche Mindestlöhne. Das was zurzeit an Millionen von Vollzeitarbeitnehmern an Löhnen ausgezahlt wird sind Armutslöhne. Das ist ein Verstoß gegen die menschliche Würde. Wir werden uns sehr klar äußern zum Thema Rente mit 67. Auch das ist eine Lebensarbeitszeitverlängerung, die zu nichts anderem führen wird als zu weiteren Belastungen der Sozialkassen im Bereich der Bundesagentur für Arbeit.

    Birke: Herr Schreiner, das ist ja eine ganze Themenpalette. Lassen Sie uns einige Punkte herausgreifen. Sie fordern ja einen Mindestlohn von 7,50 Euro. Ist es überhaupt sinnvoll, das über alle Branchen gleichmäßig zu tun? Muss der nicht branchenspezifisch flexibel gehandhabt werden?

    Schreiner: In allen westlichen Nachbarländern, Frankreich, Luxemburg, Holland, Belgien und zuletzt seit 1998 in Großbritannien, gibt es gesetzliche Mindestlöhne für alle Branchen gleich. Wir hatten bei der britischen Diskussion 1997/98 natürlich auch von Seiten der dortigen Arbeitgeber immer wieder hören können, das würde zu einem Wegfall von Arbeitsplätzen führen. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Briten haben heute einen gesetzlichen Mindestlohn etwa umgerechnet in Euro von 7,40 Euro Stundenlohnbasis. Die Briten haben eine allgemeine Lohnentwicklung mit an der Spitze Europas, in den letzten zehn Jahren Zuwächse von rund 25 Prozent Reallohnsteigerungen. In Deutschland sind es übrigens im gleichen Zeitraum minus 0,9 Prozent. Also die britische Wirtschaft hat den Mindestlohn völlig problemlos verkraftet. Man kann ganz im Gegenteil sagen, die Kaufkraft gerade der Niedriglohnempfänger ist gestiegen und das hat in Großbritannien mit zu einer Belebung der Binnenkonjunktur beigetragen.

    Birke: In Großbritannien ist allerdings auch das Preisniveau ein ganz anderes, so dass die 7,40 Euro oder 7.50 Euro von ihrer Kaufkraft ganz geringer einzuschätzen sind. Kommen wir aber noch auf ein anderes Thema, nämlich die Ein-Euro-Jobs. Davon gab es zuletzt laut Bundesagentur für Arbeit 255.000. Ist das denn der Weg aus der Arbeitslosigkeit oder hinein in den Billiglohn-Sektor und den sozialen Abstieg, denn weshalb sonst würde denn Arbeitsminister Müntefering diese Jobs jetzt aus der Rentenberechnung rausnehmen?

    Schreiner: Die Ein-Euro-Jobs sind nach meiner Überzeugung von allen Arbeitsmarktinstrumenten das mit Abstand fantasieloseste. Da werden Leute für einige Monate mit einem sehr bescheidenen Einkommen beschäftigt. Anschließend werden sie wieder in die Arbeitslosigkeit entlassen. Es finden keine Qualifizierungsmaßnahmen statt. Teilweise wurden sie in den letzten Wochen missbraucht als Streikbrecher im öffentlichen Beschäftigungssektor. Das sind ganz abenteuerliche Auswüchse. Deshalb glaube ich, dass über die weitere Zukunft der Ein-Euro-Jobs das letzte Wort noch nicht gesprochen sein kann.

    Birke: Plädieren Sie dann als AFA-Vorsitzender für die Abschaffung dieser Ein-Euro-Jobs?

    Schreiner: Ich plädiere für eine Umwandlung dieser Ein-Euro-Jobs. Es müssen zwei Voraussetzungen erfüllt werden. Die Leute müssen anständig bezahlt werden. Es müssen Arbeitsrechtsverhältnisse entstehen. Die Ein-Euro-Jobs sind keine Arbeitsrechtsverhältnisse. Es gilt kein Arbeitsrecht. Es werden keine Lohnverhandlungen geführt, nichts dergleichen. Das zweite: Im Rahmen solcher Maßnahmen müssten zwingend Qualifizierungselemente eingebaut werden, denn wir wissen aus mehrjährigen Erfahrungen, je geringer die Qualifikation von Langzeitarbeitslosen umso schlechter sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

    Birke: Herr Schreiner, noch ein anderes Thema: Kündigungsschutz. Der soll ja laut Koalitionsvertrag für zwei Jahre bei Neueinstellungen ausgesetzt werden. In Frankreich gehen Studenten und Arbeitnehmer dagegen auf die Straße. Sind die Deutschen hier einfach einsichtiger oder nur litargischer?

    Schreiner: In Frankreich war das der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Niemand weiß, wie voll das Fass hier ist. Ich halte die Diskussion um den Kündigungsschutz für geradezu absurdes Theater. Es gibt zahllose internationale Untersuchungen, unter anderem von der OECD, die allesamt eines zum Ergebnis haben: Es gibt keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des Kündigungsschutzes und der Beschäftigungssituation. Mit anderen Worten: Je stärker ich den Kündigungsschutz liberalisiere, zu Lasten der Arbeitnehmer verschlechtere, habe ich zum Ergebnis jedenfalls keine positiven Beschäftigungseffekte. Der Kündigungsschutz schützt im Übrigen ja nicht vor Kündigungen; die finden in Deutschland in hoher Zahl statt. Er schützt vor willkürlichen Kündigungen und ich will in Deutschland nicht der nackten Willkür Tür und Tor öffnen.

    Birke: Sehen Sie denn dort eine Chance, den Koalitionspartner CDU irgendwie zu überzeugen, davon Abstand zu nehmen?

    Schreiner: Ja gut, das was in den Koalitionsvereinbarungen drin steht ist ja schon eine starke Belastung für die SPD-Position. Da jetzt noch eins draufzusatteln, das überschreitet nun die Grenze der Unverschämtheit endgültig. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass es hier irgendwelche Bewegungsspielräume geben kann.

    Birke: Das Stichwort für Ihren Kongress ist ja menschenwürdig leben und arbeiten. Blicken wir mal auf die Hartz-IV-Empfänger. Kann denen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden?

    Schreiner: Nein! Die Regelsätze beim Arbeitslosengeld II sind so, dass nach meiner festen Überzeugung ein menschenwürdiges Leben mit diesen Einkommen nicht möglich ist. Das sind bekanntermaßen 345 Euro zum Beispiel für einen arbeitslosen Ingenieur, der 30 Jahre gearbeitet hat. Nach einem Jahr Arbeitslosengeld-Bezug landet er dann in raschen Schritten bei 345 Euro im Monat zuzüglich einer Pauschale für Wohnungskosten. Mit diesen 345 Euro muss er alles bestreiten - das sind am Tag etwa 11 Euro -, von der Hose bis zur Tasse Kaffee, vom Frühstück bis zum Telefonat und zu einer Bahnfahrkarte. Mit 11 Euro am Tag ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich. Das ist ein Leben absolut in der Armutsgrenze.

    Birke: Das heißt Sie würden hier höhere Regelsätze wollen. Wie kann man die finanzieren?

    Schreiner: Es gibt seit langem den Vorschlag des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, die ihrerseits sehr detailliert nachgerechnet haben, was notwendig wäre, um ein halbwegs existenzsicherndes Leben zu führen. Die fordern zumindest einen Aufschlag von etwa 70 Euro. Das halte ich für vertretbar und für vernünftig. Finanzieren kann man im Übrigen alles, wenn man denn will. Wir sind von allen reichen Industrieländern das Land, in dem die großen Vermögenseinkommen am stärksten geschützt und geschont werden. Das ist selbst in den Vereinigten Staaten völlig anders, in Großbritannien völlig anders. Da könnte man sehr viel Geld freimachen, um notwendige Aufgaben in Deutschland zu finanzieren, die zurzeit brach liegen. Das gilt nicht für Lohnersatzleistungen. Das gilt insbesondere für notwendige öffentliche Investitionen. Auch das wäre ein Beschäftigungsschub ersten Grades, gleichzeitig Modernisierung unserer Schulen, unserer Universitäten, unserer Straßen. Schauen Sie sich die Zustände der Straßen an. Da gibt es Schlaglöcher, worin man sich geradezu verstecken kann. Es gibt Schulen, wo es reinregnet. Es gibt Universitätsbibliotheken, wo keine Bücher mehr vorhanden sind. Wir haben die historisch niedrigste Investitionsquote und hier wäre sehr viel zu tun mit einem Doppeleffekt: beschäftigungswirksam und gleichzeitig überfällige Modernisierung unserer öffentlichen Infrastruktur.

    Birke: Also Sie wollen eine Vermögenssteuer?

    Schreiner: Ja sicher, völlig klar!

    Birke: Das war Ottmar Schreiner, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in den "Informationen am Morgen" hier im Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch und auf Wiederhören!

    Schreiner: Ja, auf Wiederhören! Danke auch!