Dienstag, 23. April 2024

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Schriftsteller Luiz Ruffato
Lissabon - ein modernes Babylon

Luiz Ruffatos jüngster Roman "Ich war in Lissabon und dachte an dich" ist in Zeiten von Flucht und Migration aktuell wie nie. Die Geschichte erzählt von Migranten, die aus aller Welt nach Lissabon kommen und dort ihr Glück suchen. Viele der entwurzelten Menschen arbeiten hart, scheitern aber trotzdem - so auch Ruffatos Held Sérgio.

Von Sabine Peters | 21.03.2016
    Die Standseilbahn "Ascensor da Bica" fährt durch eine Gasse in Lissabon.
    Eine Illusion: Der Traum von einem besseren Leben in Lissabon. (picture alliance / dpa / Jan Woitas)
    Die Geschichte, die Luiz Ruffato in seinem neuen Roman erzählt, ist in ihren Grundzügen sehr alt, und sie kann an vielen Orten der Erde stattfinden. Bei Ruffato spielt sie in unserer Zeit, sie beginnt in Brasilien und endet vorläufig in Portugal.
    Der Held des Buchs und Ich-Erzähler Sérgio, Jahrgang 1969, ist unzufrieden mit seinem Leben in einer brasilianischen Kleinstadt. Die Leute haben kaum Geld, leben auf Pump, betrügen sich gegenseitig. Man wohnt auf engstem Raum nebeneinander, streitet ständig. Zu den harmloseren Vorfällen gehört es, dass eine Nachbarin die Hühner der anderen mit heißem Wasser begießt. Sérgio schwängert seine Freundin und muss heiraten. Die Hochzeit ist ein lausiges Ereignis: Lauter meckerndes Gesindel, das die Braut schäbig und den Bräutigam einen Idioten nennt. Die Ehe läuft nicht gut; Sérgios Frau wird gewalttätig, verrückt; sie muss in die Psychiatrie. Ihre Verwandtschaft übernimmt das Sorgerecht für den Säugling Pierre. Sergio selbst verliert seine Arbeit – es ist Zeit für einen Neuanfang. Ein Bekannter rät ihm, sein Glück in Portugal zu versuchen. Dort müsse er nur ein, zwei Jahre hart arbeiten, um zurück in der Heimat sorgenfrei mit seiner Familie leben zu können. Sérgios Reiseplan spricht sich herum. Neidische Nachbarn und Verwandte streiten, wer in der Zwischenzeit sein Motorrad fahren darf. Bei einem rauschenden Abschiedsfest wird er als mutiger Mann gefeiert. Mit weichen Knien besteigt er das erste Flugzeug seines Lebens, das ihn nach Lissabon bringen wird.
    Neuanfang in Portugal wird anders als gedacht
    Es ist vorhersehbar, dass in Portugal vieles ganz anderes abläuft, als erhofft – aber das Buch läuft keinesfalls mechanisch ab. Man liest diesen nuancenreich angelegten Roman voll Spannung; das vorbehaltlose Interesse von Ruffato an seinem sympathischen Helden überträgt sich auf den Leser.
    Luiz Ruffato, der 1961 geboren wurde, wird in Brasilien hoch geachtet; und seine Bücher verdienen auch hierzulande größte Aufmerksamkeit. Denn Ruffato greift die Ästhetik der klassischen Moderne auf und schreibt sie radikal fort. Dabei hat er eine eigenwillige, springlebendige, eine wilde und virtuose Sprache entwickelt. Der fünfteilige Romanzyklus "Vorläufige Hölle", von dem bereits zwei Bände übersetzt wurden, schildert das Leben in Brasilien aus dem Blickwinkel von Landarbeitern, Proletariern und Eingewanderten: Nicht paternalistisch, sondern solidarisch; dabei unpathetisch und ohne jede Sozialromantik zeichnet der Autor präzise, düster leuchtende Bilder, die unter die Haut gehen. Der "Höllen"-Zyklus ist polyphon angelegt, die Sprecher wechseln oft mitten im Satz. Eine dissonante, produktiv verstörende Partitur, die dem Leser einiges abverlangt. Wer einen einfachen Zugang zu Ruffato finden und dabei doch einen Eindruck von der Schönheit und Komplexität des Werks bekommen will, findet ihn jenseits vom Höllen-Zyklus in dem neuen Roman über Migranten in Lissabon.
    Lissabon als modernes Babylon
    "Ich war in Lissabon und dachte an dich": In diesem neuen Buch von Ruffato ist die portugiesische Hauptstadt ein modernes Babylon, in dem sich alle Sprachen und Nationalitäten mischen. Man sieht hier ganz unterschiedliche, schillernde Existenzen: Ein durchtriebener ukrainischer Kellner umgarnt deutsche Touristen mit einem Englisch, das aufhorchen lässt. Portugiesische Dichter lungern in den Cafés herum und hoffen darauf, eines Tages als Genies entdeckt zu werden. In Lissabon ernährt eine Angolanerin die Familie als Prostituierte, nachdem ihr Mann in Angola von einer Mine verkrüppelt wurde. Manche der hier aus aller Welt Gestrandeten verlieren den Kontakt zu ihren Angehörigen. Andere versuchen verzweifelt, die Verbindung zu halten, sie klammern sich in einer stickigen Telefonzelle an den Hörer – und als eine Frau während ihres Gespräch in Ohnmacht fällt, ahnen die Umstehenden, dass das nicht nur an der schlechten Luft liegt. Ruffatos Held Sérgio begegnet lauter entwurzelten Leuten, die aus Leibeskräften schuften und doch scheitern. Die Idee, mit harter Arbeit Geld zu verdienen, erweist sich bei den meisten als Illusion, als Naivität. Sérgio jobbt in einem Restaurant, er verliebt sich in die Prostituierte Sheila, die gern Lehrerin oder wenigstens Verkäuferin geworden wäre. Bei dem Versuch, ihr aus einer bedrohlichen Lage herauszuhelfen, verschwinden seine Papiere. Er verliert den Job, wird illegaler Handlanger auf Baustellen; er bleibt in Lissabon hängen.
    Schonungslose Darstellung der Realität
    Immer schon verließen Menschen aus Not ihre Heimat, aber unter neoliberalen Bedingungen nehmen die globalen Wanderungsbewegungen oft absurde, kafkaeske Formen an. Den ökonomischen Imperativen folgend, werden die Leute zu Objekten, die von da nach dort geschoben oder gelockt werden. Ruffatos große Kunst besteht darin, diese Realität schonungslos darzustellen - und gleichzeitig seine Helden als handelnde Subjekte zu zeigen. Er schildert ihre Not und ihre Wendigkeit; ihre Wut, ihren Witz, ihre Wärme. Kurz: Er zeigt die Würde der Verdammten dieser Erde.